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Ablösungen und Wachen
Ryan saß im VIP-Raum der US-Botschaft und beobachtete, wie der Zeiger übers Zifferblatt kroch. Er sollte an Dr. Aldens Stelle nach Riad, aber weil er einem Prinzen einen Besuch abstattete und sich auch Prinzen ihren Terminkalender nur ungern durcheinanderbringen lassen, mußte er sich genau an die Zeit halten, zu der Alden in Saudi-Arabien angekommen wäre. Nach drei Stunden hatte er auf Satellitenfernsehen keine Lust mehr und machte in Begleitung eines diskreten Sicherheitsbeamten einen Spaziergang. Normalerweise hätte Ryan sich von dem Mann die Touristenattraktionen zeigen lassen, aber heute wollte er sein Gehirn im Leerlauf lassen. Er war zum ersten Mal in Israel und wollte seine eigenen Impressionen sammeln, während das, was er im Fernsehen gesehen hatte, vor seinem inneren Auge noch einmal ablief.
Es war heiß in Tel Aviv, wenn auch nicht ganz so heiß wie in Riad, der Stadt, die Ryan als nächstes besuchen sollte. Auf den Straßen wimmelte es von Menschen. Wie erwartet, war viel Polizei zu sehen. Beunruhigend dagegen fand Ryan die mit Uzi-Maschinenpistolen bewaffneten Zivilisten, Männer wie Frauen, die offenbar auf dem Weg von oder zu einer Reserveübung waren. Diejenigen in den Staaten, die für eine Schußwaffenkontrolle waren, mußte dieser Anblick erschüttern, während die Gegner sich freuen würden. Fest stand, daß Handtaschenräuber und anderes Straßengesindel hier kaum eine Chance hatten. Überhaupt gab es in Israel nur wenig »zivile« Kriminalität, dafür aber zunehmend mehr Bombenanschläge und andere terroristische Akte.
Israel war für Christen, Moslems und Juden das Heilige Land und hatte während seiner ganzen Geschichte unter seiner Lage als Scheideweg der römischen, griechischen und ägyptischen Imperien sowie der Reiche der Babylonier, Assyrer und Perser zu leiden gehabt; eine Konstante in der Militärgeschichte ist die Tatsache, daß solche Randgebiete immer umkämpft sind. Der Aufstieg des Christentums und siebenhundert Jahre später das Auftauchen des Islam hatten nur wenig verändert. Andere Gruppierungen hatten sich gebildet und dem seit dreitausend Jahren umkämpften Gebiet eine größere religiöse Bedeutung gegeben, die alle Kriege noch bitterer machte.
Es war leicht, die Sache mit Zynismus zu betrachten. Beim ersten Kreuzzug – 1096, wenn Ryan sich recht entsann – war es vorwiegend darum gegangen, den überzähligen Nachwuchs des Adels zu beschäftigen, der mehr Kinder hervorbrachte, als seine Burgen aufnehmen konnten. Schließlich konnte der Sohn eines Ritters nicht einfach Bauer werden, und Sprößlinge, die nicht von Kinderkrankheiten weggerafft worden waren, mußten irgendwo untergebracht werden. Papst Urbans Botschaft von der Eroberung des Heiligen Landes durch die Ungläubigen eröffnete auf einmal die Möglichkeit eines Angriffskrieges – nicht nur, um die heiligen Stätten zu sichern, sondern auch, um neue Lehnsgüter zu erobern, mit Bauern, die man unterdrücken konnte, und sich auf den Handelswegen in den Orient auszubreiten und Wegezoll zu kassieren. Die Prioritäten variierten von Fall zu Fall, aber über die Optionen waren die Kreuzritter alle miteinander informiert gewesen. Jack hätte gerne gewußt, wie viele Menschen verschiedener Nationen über diese Straßen gegangen waren und wie sie ihre persönlichen, politischen und wirtschaftlichen Ziele mit ihrer religiösen Mission in Einklang gebracht hatten. Ähnliches traf wohl auch auf die Moslems zu, denn dreihundert Jahre nach Mohammeds Tod hatten, wie es auch im Christentum der Fall gewesen war, eigennützige Opportunisten die Reihe der Frommen anschwellen lassen. Und in der Mitte saßen die Juden – zumindest jene, die nicht von den Römern in die Diaspora getrieben worden oder die heimlich zurückgekehrt waren. Sie hatten zu Anfang des zweiten Jahrtausends unter den Christen mehr zu leiden als unter den Moslems.
Israel ist wie ein Knochen, dachte Ryan, um den sich Rudel von hungrigen Hunden streiten.
Ganz war der Knochen aber nie zerstört worden, und die Rudel waren im Lauf der Jahrhunderte immer wieder zurückgekehrt, weil das Land historisch so wichtig war. Hunderte von bedeutsamen Figuren der Weltgeschichte waren hier gewesen, einschließlich Jesus Christus, in dem der Katholik Ryan den Sohn Gottes sah. Über diese Bedeutung hinaus symbolisierte diese schmale Landbrücke zwischen Kontinenten und Kulturen auch menschliche Gedanken, Ideale und Hoffnungen, die irgendwie im Sand und in den Steinen dieser selten reizlosen Landschaft, in der sich nur Skorpione heimisch fühlen konnten, ihren Ausdruck fanden. Es gab auf der Welt nur fünf große Religionen, von denen sich wiederum nur drei über ihr Ursprungsgebiet hinaus verbreitet hatten, und ausgerechnet diese drei waren nur wenige Meilen von der Stelle beheimatet, wo er jetzt stand.
Und deswegen bekriegen sie sich, dachte Ryan.
Eigentlich eine unglaubliche Blasphemie, überlegte er. Immerhin war der Monotheismus hier entstanden, bei den Juden zuerst, um dann von Christen und Moslems angenommen zu werden. Von hier aus hatte er sich durchgesetzt. Die Juden – der Begriff »das Volk Israel« kam ihm zu geschwollen vor – hatten ihren Glauben über Tausende von Jahren hinweg zäh gegen Animisten und Heiden verteidigt und dann ihre schwerste Prüfung ausgerechnet gegen jene Religionen bestehen müssen, die sich aus ihrer eigenen Idee des Einen Gottes entwickelt hatten. Ungerechterweise waren Religionskriege die barbarischsten aller Kriege. Wer im Namen Gottes kämpfte, konnte sich so gut wie alles leisten, denn der Feind kämpfte ja gegen Gott, und das war abscheulich und gräßlich. Gegen jene, die die Autorität des Allmächtigsten in Frage stellten, fühlte sich jeder Soldat als verlängerter Arm Gottes und führte hemmungslos das rächende Schwert. Wenn es um die Züchtigung der Feinde und Sünder ging, war jedes Mittel recht. Vergewaltigung, Plünderung, Mord – die niedrigsten Verbrechen waren dann nicht nur rechtmäßig, sondern eine heilige Pflicht. Es ging nicht darum, daß man für Greueltaten Sold erhielt, und man sündigte auch nicht, weil das Vergnügen bereitete – nein, man kämpfte in dem Bewußtsein, daß demjenigen, der Gott auf seiner Seite hat, alles erlaubt ist. Diese Überzeugung wurde noch über den Tod hinaus demonstriert, wie zum Beispiel bei den Kreuzrittern. Wer im Heiligen Land gedient hatte, wurde auf seinem Sarkophag mit gekreuzten Beinen dargestellt, um der Nachwelt zu bedeuten, daß er im Namen Gottes als Kreuzfahrer sein Schwert mit Kinderblut benetzt, Frauen vergewaltigt und alles gestohlen hatte, was nicht niet- und nagelfest war. Das galt übrigens für alle Parteien. Die Juden waren zwar meist die Opfer gewesen, hatten aber auch selbst das Schwert ergriffen, wenn sich die Gelegenheit bot; in ihren Tugenden und Lastern sind sich alle Menschen gleich.
Wie müssen das die Kerle genossen haben, dachte Jack deprimiert und sah, wie ein Verkehrspolizist an einer belebten Straßenecke einen Streit schlichtete. Es mußte damals doch auch wirklich gute Menschen gegeben haben, sagte er sich. Was taten sie? Was dachten sie? Und was hielt Gott von der ganzen Sache?
Ryan war aber kein Priester, Rabbi oder Imam, sondern ein hoher Geheimdienstoffizier, ein Instrument seines Landes, ein Beobachter und Berichterstatter. Er schaute sich weiter um und vergaß für den Augenblick die Geschichte.
Die Passanten waren in ihrer Kleidung auf die drückende Hitze eingestellt, und das Gewimmel erinnerte ihn an Manhattan. Viele hatten Transistorradios dabei. Er ging an einem Straßencafé vorbei, wo nicht weniger als zehn Leute die Nachrichten hörten. Jack mußte lächeln; dafür hatte er Verständnis. Er hatte im Auto immer einen Nachrichtensender eingestellt. Die Blicke der Menschen waren unruhig, und er erkannte erst nach ein paar Momenten, wie sehr man auf der Hut war, ganz wie seine Leibwächter nach Anzeichen von Gefahr Ausschau hielt. Ryan fand das nur vernünftig. Bislang waren Unruhen nach dem Zwischenfall auf dem Tempelberg ausgeblieben, aber man rechnete damit. Es überraschte Ryan nicht, daß die Menschen in seinem Blickfeld die weit größere Bedrohung der trügerischen Ruhe nicht erkannten. Kein Wunder, daß Israel so kurzsichtig war. Das Land, umgeben von Feinden, die es auslöschen wollten, hatte die Paranoia zur Kunstform und seine Sicherheit zur Obsession gemacht. Neunzehnhundert Jahre nach Massada und der Vertreibung waren die Juden auf der Flucht vor Unterdrückung und Völkermord in ihr Gelobtes Land zurückgekehrt... und hatten damit wieder Repressalien herausgefordert. Der Unterschied war nur, daß nun sie das Schwert hielten und wohl zu führen gelernt hatten, aber auch das war eine Sackgasse. Kriege sollten mit einem Frieden enden, aber Israels Kriege hatten nicht geendet, sondern nur aufgehört, oder sie waren nur unterbrochen worden. Der Frieden war für Israel immer nur eine Atempause gewesen, eine Zeit, in der man die Gefallenen beerdigte und neue Jahrgänge an der Waffe ausbildete. Die Juden, der Ausrottung durch die Christen knapp entronnen, gründeten ihre Existenz auf der Fähigkeit, islamische Staaten zu besiegen, die sich geschworen hatten, Hitlers Werk zu Ende zu führen. Und Gottes Meinung hatte sich wohl seit den Kreuzzügen nicht geändert. Bedauerlicherweise wurden nur im Alten Testament das Meer geteilt und die Sonne am Himmel fixiert. Heutzutage mußte der Mensch seine Probleme selbst lösen. Leider aber tat der Mensch nicht immer, was von ihm erwartet wurde. Thomas Morus beschrieb in Utopia einen Idealstaat, in dem alle moralisch handeln. Das Land Utopia liegt nirgendwo, dachte Ryan kopfschüttelnd und bog in eine von Häusern mit weißen Stuckfassaden gesäumte Straße ein.
»Tag, Dr. Ryan.«
Der Mann war Mitte Fünfzig, kleiner als Jack und untersetzter. Er hatte einen säuberlich gestutzten, graumelierten Vollbart und sah weniger wie ein Jude als wie ein Heerführer des Assyrerkönigs Sanherib aus. Hätte er nicht gelächelt, würde sich Ryan ohne John Clark an seiner Seite unbehaglich gefühlt haben.
»Tag, Avi. Schon sonderbar, Sie zur Abwechslung einmal hier zu treffen.«
General Abraham Ben Jakob war stellvertretender Direktor des israelischen Nachrichtendienstes Mossad und somit das, was Ryan für die CIA war. Avi, in Geheimdienstkreisen ein Schwergewicht, war bis 1968 Offizier bei den Fallschirmjägern gewesen und als Mann mit großer Erfahrung in Sondereinsätzen von Rafi Eitan entdeckt und zum Dienst geholt worden. Er war Ryan im Lauf der Jahre ein halbes dutzendmal begegnet, aber immer nur in Washington. Ryan respektierte Ben Jakob als Fachmann sehr, wußte aber nicht, was der General, der seine Gedanken und Gefühle geschickt zu verbergen wußte, von ihm hielt.
»Was hört man aus Washington, Jack?«
»Ich habe in der Botschaft CNN gesehen; mehr weiß ich auch nicht. Es gibt noch keine offizielle Reaktion, und falls eine existierte, dürfte ich mich nicht weiter äußern. Sie kennen die Vorschriften ja. Kann man hier irgendwo gut essen?«
Eine Mahlzeit war natürlich bereits eingeplant. Zwei Minuten später und hundert Meter weiter saßen sie im Hinterzimmer eines stillen Familienrestaurants, wo ihre Sicherheitsleute die Dinge im Auge behalten konnten, Ben Jakob bestellte zwei Heineken.
»Da, wo Sie als nächstes hinkommen, gibt es kein Bier.«
»Plump, Avi, sehr plump«, versetzte Ryan nach dem ersten Schluck.
»Wie ich höre, fliegen Sie an Aldens Stelle nach Riad.«
»Dazu habe ich wohl kaum die Kompetenz.«
»Immerhin werden Sie zugegen sein, wenn Adler den Vorschlag unterbreitet. Wir hätten gerne gewußt, was er enthält.«
»Dann können Sie sicher abwarten, bis er bekanntgegeben wird.«
»Ist eine kleine Vorschau nur so unter Profis denn ausgeschlossen?«
»Jawohl, ganz besonders unter Profis.« Jack trank sein Bier aus der Flasche. Nun stellte er fest, daß die Speisekarte in Hebräisch war. »Hm, da lasse ich Sie bestellen ... schade, daß Alden solchen Mist gebaut hat«, bemerkte er und fügte in Gedanken hinzu: Das sind die heißesten Kastanien, die ich je aus dem Feuer holen mußte.
»In der Tat bedauerlich«, erwiderte Ben Jakob. »Der Mann ist in meinem Alter! Weiß er denn nicht, daß reifere Frauen diskreter und geschickter sind?« Selbst dieses Thema handelte er in der Fachterminologie ab.
»Er hätte sich ja auch mal ein bißchen mehr um seine Frau kümmern können.«
Ben Jakob grinste. »Ich vergesse immer wieder, wie stockkatholisch Sie sind.«
»Daran liegt es nicht, Avi. Wer will schon mehr als eine Frau in seinem Leben haben?« fragte Ryan mit unbeweglicher Miene.
»Nach Einschätzung unserer Botschaft muß er gehen.« Die naheliegende Frage nach dem Nachfolger stellte Ben Jakob nicht.
»Gut möglich, aber ich bin nicht nach meiner Meinung gefragt worden. Ich schätze den Mann sehr. Er ist dem Präsidenten ein guter Berater. Er hört auf uns und widerspricht uns im allgemeinen nur, wenn er einen guten Grund hat. Vor sechs Monaten kam er mit einer Analyse sogar mir zuvor. Ein brillanter Kopf, aber ein unverbesserlicher Casanova ... nun, wir haben alle unsere Schwächen. Ein Jammer, daß er wegen einer solchen Dummheit gehen muß.« Jack fand den Zeitpunkt denkbar ungünstig.
»Leute wie er haben im Staatsdienst nichts verloren, weil sie zu leicht unter Druck zu setzen sind.«
»Die Russen setzen inzwischen keine Sexköder mehr ein ... und die junge Frau ist Jüdin, nicht wahr? Arbeitet sie vielleicht für Sie?«
»Ich bitte Sie, Dr. Ryan! Trauen Sie mir so etwas zu?« Avi Ben Jakob brach in ein bäriges Gelächter aus.
»Stimmt, Ihre Operation kann das nicht gewesen sein, denn es wurde kein Erpressungsversuch unternommen.« Damit war Jack fast zu weit gegangen. Der General machte schmale Augen.
»Selbstverständlich war das nicht unsere Operation. Halten Sie uns denn für wahnsinnig? Dr. Elliot wird Aldens Nachfolgerin.«
Ryan schaute von seinem Bier auf. An diese Möglichkeit hatte er überhaupt nicht gedacht. Ach du Scheiße ...
»Sie ist Ihnen ebenso freundlich gesinnt wie uns«, merkte Avi an.
»Mit wie vielen Ministern hatten Sie im Lauf der vergangenen zwanzig Jahre Differenzen, Avi?«
»Mit keinem natürlich.«
Ryan schnaubte und trank seine Flasche aus. »Hatten Sie nicht gerade einen Plausch unter Profis vorgeschlagen?«
»Nun, wir haben dieselbe Funktion, Sie und ich. Manchmal, wenn wir viel Glück haben, hört man auf uns.«
»Es soll aber auch vorkommen, daß wir schiefliegen ...«
Ben Jakobs entspannter Dauerblick flackerte nicht, als Ryan das sagte. Er nahm diese Erklärung als Hinweis auf Ryans zunehmende Reife. Ryan war ihm als Mensch und Fachmann tief sympathisch, aber für persönliche Vorlieben und Abneigungen ist im Geheimdienstgeschäft kein Platz. Etwas fundamental Bedeutendes bahnte sich an. Scott Adler war in Moskau gewesen und hatte anschließend zusammen mit Ryan den Vatikan besucht. Nach dem ursprünglichen Plan sollte Ryan parallel zu Aldens Aufenthalt in Riad beim israelischen Außenministerium sondieren, aber das lag dank Aldens peinlichem Ausrutscher nun nicht mehr an.
Avi Ben Jakob war ein selbst für Geheimdienstbegriffe außerordentlich gut informierter Mann. Ryan schwafelte über die Bedeutung Israels als zuverlässigstem Verbündeten der USA im Nahen Osten. Nun, von einem Historiker ist das zu erwarten, fand Avi. Die meisten Amerikaner waren dieser Ansicht, ganz gleich, wie Ryan selbst empfinden mochte, und Israel erhielt in der Folge mehr Insider-Tips aus der US-Regierung als jedes andere Land – mehr sogar noch als die Briten, die offizielle Beziehungen zur amerikanischen Geheimdienstszene unterhielten.
Aus solchen Quellen hatten Ben Jakobs Aufklärungsleute erfahren, daß Ryan hinter dieser Sache steckte. Ihm kam das höchst unwahrscheinlich vor. Ryan war zwar fast so intelligent wie Alden, sah sich aber eher als Diener, der Politik umsetzte, denn als Initiator. Zudem hatte der US-Präsident vor seinen engsten Vertrauten keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen Ryan gemacht. Und Elizabeth Elliot haßte den Mann, weil sie, dem Vernehmen nach, vor der Wahl aneinandergerasselt waren. Nun, Regierungsmitglieder sind eben notorische Primadonnen, dachte General Jakob, ganz anders als Ryan und ich. Wir haben beide dem Tod mehr als einmal ins Auge gesehen und brauchen nicht immer einer Meinung zu sein. Wir haben Achtung voreinander.
Moskau, Rom, Tel Aviv, Riad. Was ließ sich daraus ableiten?
Scott Adler, ein sehr geschickter Karrierediplomat, war die erste Wahl von Außenminister Talbot gewesen. Talbot selbst war ebenfalls ein kluger Mann. Man mochte von Fowler halten, was man wollte, aber eines mußte man ihm lassen: Er hatte sehr kompetente Leute in sein Kabinett und seinen Beraterstab geholt. Abgesehen von Elizabeth Elliot, korrigierte sich Ben Avi. Scott Adler leistete die Vorarbeit für seinen Minister und war bei wichtigen Verhandlungen immer an seiner Seite.
Am erstaunlichsten war natürlich, daß kein einziger Informant des Mossad wußte, was gespielt wurde. »Etwas Wichtiges, den Nahen Osten betreffend«, hatte man ihm gemeldet. »Nichts Genaues ... aber Ryan von der CIA hat etwas damit zu tun ...« Ende der Meldung.
Avi reagierte gelassen. Dies war ein Spiel, bei dem man nie alle Karten zu sehen bekam. Sein Bruder hatte als Kinderarzt ähnliche Probleme mit seinen kleinen Patienten; die konnten oder wollten auch nicht sagen, was ihnen fehlte. Doch sein Bruder bekam wenigstens die Chance, zu fragen, zu deuten, das Stethoskop anzusetzen ...
»Jack, irgend etwas muß ich meinen Vorgesetzten sagen«, bat General Ben Jakob.
»Ich bitte Sie, General.« Jack winkte nach einem zweiten Bier. »Was war eigentlich auf dem Tempelberg los?«
»Der Mann war – ist geistesgestört. Er ist im Krankenhaus und wird wegen Selbstmordgefahr rund um die Uhr bewacht. Seine Frau hatte ihn gerade verlassen, er geriet unter den Einfluß eines religiösen Fanatikers, und ...« Ben Jakob zuckte mit den Achseln. »Eine schlimme Sache.«
»Allerdings, Avi. Wissen Sie eigentlich, in welcher politischen Zwangslage Sie jetzt stecken?«
»Jack, mit solchen Problemen sind wir noch immer fertiggeworden.«
»Dacht’ich mir’s doch. Avi, Sie sind ein brillanter Mann, aber diesmal haben Sie sich verschätzt. Sie haben wirklich keine Ahnung, was vor sich geht.«
»Dann weihen Sie mich doch einmal ein.«
»General, dieser Vorfall vor zwei Tagen hat eine unwiderrufliche Veränderung bewirkt. Das muß Ihnen klar sein.«
»Was für eine Veränderung?«
»Die werden Sie abwarten müssen. Auch ich habe meine Anweisungen.«
»Will Ihr Land uns etwa drohen?«
»Nein, so weit wird es nie kommen, Avi.« Ryan merkte, daß er zuviel redete, und war nun vor seinem gewitzten Gegenüber auf der Hut.
»Sie können uns aber nicht unsere Politik diktieren.«
Jack verkniff sich die Antwort. »Sie sind sehr geschickt, General, aber das ändert meine Anweisungen nicht. Bedaure, Sie müssen abwarten. Schade, daß Ihre Leute in Washington Ihnen nicht helfen können. Ich kann jedenfalls nichts für Sie tun.«
Ben Jakob versuchte es anders. »Ich lade Sie sogar zum Essen ein, obwohl mein Land viel ärmer ist als Ihres.«
Jack mußte über seinen Ton lachen. »Das Bier schmeckt auch und wird vorerst mein letztes sein, wenn ich, wie Sie behaupten, diese Reise antrete.«
»Ihre Besatzung hat, wie ich höre, bereits den Flugplan angemeldet.«
»Da sieht man mal wieder, wie weit die Geheimhaltung reicht.« Jack nahm die zweite Flasche entgegen und lächelte dem Kellner zu. »Avi, lassen wir die Sache erst mal auf sich beruhen. Glauben Sie denn wirklich, wir könnten etwas tun, das die Sicherheit Ihres Landes gefährdet?«
Allerdings! dachte der General, konnte das aber natürlich nicht aussprechen und schwieg. Ryan nutzte die Pause, um das Thema zu wechseln.
»Wie ich höre, sind Sie Großvater geworden.«
»Stimmt, meine Tochter hat mir ein paar graue Haare mehr gemacht. Ihre Kleine heißt Leah.«
»Avi, Sie haben mein Wort: Leah wird in Sicherheit aufwachsen.«
»Und wer soll das garantieren?« fragte Ben Jakob.
»Die Kräfte, die das schon immer getan haben.« Ryan gratulierte sich zu dieser Antwort. Der arme Avi fischte verzweifelt nach Informationen; bedauerlich, daß er es so plump tun mußte. Selbst die hellsten Köpfe werden manchmal in die Ecke getrieben ...
Ben Jakob nahm sich vor, das Dossier über Ryan auf den neuesten Stand bringen zu lassen, um bei ihrer nächsten Begegnung besser informiert zu sein. Mit Niederlagen fand sich der General nur schwer ab.
Dr. Charles Alden sah sich in seinem Büro um. Natürlich trat er nicht sofort zurück; das würde Fowler schaden. Sein Rücktrittsgesuch lag unterschrieben auf der grünen Schreibunterlage und sollte zum Monatsende eingereicht werden. Aber das war eine reine Formsache: Ab heute hatte er keine Dienstpflichten mehr. Er würde zwar noch erscheinen, die Meldungen lesen und sich Notizen machen, aber Vortrag hielt von nun an Elizabeth Elliot. Der Präsident hatte auf seine übliche kühle Art sein Bedauern ausgedrückt. »Schade, daß wir Sie verlieren, Charlie, ganz besonders zu diesem Zeitpunkt, aber es gibt leider keine Alternative.« Alden hatte im Oval Office trotz seiner Verbitterung die Fassung gewahrt. Selbst Arnie van Damm hatte sich einen herzhaften Fluch abgerungen, trotz seines Ärgers über den politischen Schaden, den sein Chef erlitten hatte. Bob Fowler aber, der Fürsprecher der Armen und Hilflosen, war ungerührt geblieben.
Schlimmer noch war Liz mit ihrem Schweigen und ihren vielsagenden Blicken gewesen. Das arrogante Stück erntete nun seine Lorbeeren und sonnte sich schon jetzt in Ruhm, der ihm gebührte.
Sein Rücktritt, der am nächsten Morgen bekanntgegeben werden sollte, war schon an die Presse durchgesickert. Wer hinter der Indiskretion steckte, wußten die Götter. Liz, um ihre Selbstgefälligkeit zu demonstrieren? Arnie van Damm im Zuge der Schadensbegrenzung? Ein Dutzend andere?
In Washington kommt der Absturz von den Höhen der Macht rasch. Der peinlich berührte Ausdruck seiner Sekretärin, das gezwungene Lächeln der anderen Bürokraten im Westflügel sprachen Bände. Doch in Vergessenheit gerät man erst nach einem ordentlichen Medienzirkus: Dem öffentlichen Tod, dem Verglühen eines Sterns, geht ein Fanfarenstoß voraus. Das Telefon klingelte ununterbrochen. Zwanzig Journalisten hatten wie die Hyänen heute früh mit schußbereiten Kameras vor seinem Haus gewartet und ihn mit ihren Scheinwerfern geblendet. Natürlich hatten sie zuerst nach Marsha Blum gefragt.
Der blöde Trampel mit den Kuhaugen, dem Kuheuter und dem fetten Arsch! Wie konnte ich nur so bescheuert sein? Professor Dr. Charles Winston Alden saß in seinem teuren Sessel und starrte auf seinen exklusiven Schreibtisch. Daß sein Kopf zum Platzen schmerzte, schrieb er dem Streß und seinem Zorn zu – korrekt, aber er wußte nicht, daß sein Blutdruck im Augenblick doppelt so hoch wie normal war, und dachte auch nicht daran, daß er in der vergangenen Woche vergessen hatte, seine Blutdrucktabletten zu nehmen. Als sprichwörtlich zerstreuter Professor übersah er immer die alltäglichen Kleinigkeiten, wenn sein methodischer Verstand komplexe Probleme löste.
Es kam also überraschend. Es begann an einer Schwachstelle in einer Hauptarterie, die das Gehirn mit Blut versorgte. Zwanzig Jahre zu hohen Blutdruck und zwanzig Jahre Schlamperei, in denen er seine Medizin nur genommen hatte, wenn wieder einmal ein Termin beim Arzt bevorstand, führten in dieser Streßsituation, verursacht durch die kläglich gescheiterte Karriere, zu einem Riß der Arterie in seiner rechten Kopfhälfte. Was ihm wie eine harmlose Migräne vorgekommen war, entpuppte sich nun als tödlich. Alden riß die Augen auf und faßte sich an den Kopf, als wollte er ihn zusammenhalten, doch es war zu spät. Der Riß öffnete sich weiter, mehr Blut trat aus. Die Sauerstoffzufuhr wichtiger Teile seines Gehirns wurde unterbrochen und der Druck im Schädel stieg weiter an, immer mehr Hirnzellen wurden zerstört.
Alden war zwar gelähmt, blieb aber noch eine ganze Weile bei Bewußtsein, und sein brillanter Verstand registrierte die Ereignisse mit erstaunlicher Klarheit. Er wußte, daß er sterben mußte – nach fünfunddreißigjähriger Arbeit – und so kurz vor dem Ziel, dachte er. Monographien, Seminare, Vorlesungen, Vortragsreisen, Talkshows, Wahlkämpfe – alles nur, um nach oben zu kommen, um historische Prozesse nicht nur zu interpretieren, sondern selbst in Gang zu setzen. Ausgerechnet jetzt sterben müssen! Er konnte nichts mehr ändern, nichts mehr tun, nur hoffen, daß jemand, irgend jemand, ihm vergeben würde. Im Grunde war ich doch kein schlechter Mensch. Ich habe mich angestrengt, um etwas zu bewegen, eine bessere Welt zu schaffen, aber ausgerechnet jetzt, am Beginn einer bedeutsamen Entwicklung ... schade, daß mir das nicht passiert ist, als ich auf dieser blöden Kuh lag, schade eigentlich auch, erkannte er in einem letzten Augenblick der Klarheit, daß die Studien nicht meine einzige Leidenschaft ...
Da Alden in Ungnade gefallen und schon von seinen Dienstpflichten entbunden war, fand man seine Leiche erst eine Stunde später. Seine Sekretärin hatte den Auftrag, alle Anrufer abzuwimmeln, und stellte daher auch keine Gespräche durch. Erst als es Zeit zum Heimgehen war, drückte sie auf den Knopf der Sprechanlage, um ihm das mitzuteilen, bekam aber keine Antwort. Sie runzelte die Stirn und probierte es noch einmal. Wieder keine Reaktion. Sie stand auf und klopfte an Aldens Tür, öffnete sie schließlich und schrie dann so laut, daß die Agenten des Secret Service vor dem Oval Office an der entgegengesetzten Ecke des Gebäudes sie hörten. Als erste traf Helen D’Agustino, Spitzname »Daga« ein, eine Leibwächterin des Präsidenten, die sich nach einem Sitzungstag auf dem Korridor die Beine vertreten hatte.
»Shit!« Bei diesem Kommentar hatte sie auch schon ihren Dienstrevolver gezogen. Noch nie im Leben hatte sie so viel Blut gesehen. Es war aus Aldens rechtem Ohr geflossen und hatte auf dem Schreibtisch eine Lache gebildet. Sie gab über ihr Funkgerät Alarm; das mußte ein Kopfschuß sein. Über den Lauf ihrer Smith & Wesson Modell 19 hinweg suchten ihre scharfen Augen den Raum ab. Die Fenster waren okay. Sie huschte durchs Zimmer. Niemand da. Was war passiert?
Sie tastete mit der Linken nach Aldens Halsschlagader. Natürlich kein Puls. Inzwischen waren draußen alle Ausgänge des Weißen Hauses blockiert worden. Agenten hatten die Waffen gezogen, Besucher erstarrten vor Schreck. Beamte des Secret Service suchten das ganze Gebäude ab.
»Verdammt!« rief Pete Connor beim Eintreten.
»Suchaktion abgeschlossen!« sagte eine Stimme in ihren Hörmuscheln. »Gebäude sauber, HAWK sicher.« »Hawk«, Falke, war der Codename des Secret Service für den Präsidenten. Die Leibwächter stellten damit ihren traditionellen Sinn für Humor unter Beweis, denn Fowler, dessen Name die Assoziation »Vogel« weckte, war als Politiker eher eine Taube.
»Krankenwagen kommt in zwei Minuten!« fügte das Kommunikationszentrum hinzu. Eine Ambulanz konnte rascher besorgt werden als ein Hubschrauber.
»Ruhig, Daga«, sagte Connor. »Ich glaube, der Mann hatte einen Schlaganfall.«
»Platz da!« rief ein Sanitäter von der Marine. Natürlich waren die Secret-Service-Agenten in Erster Hilfe ausgebildet, aber im Weißen Haus stand immer ein Ärzteteam in Bereitschaft, und der Sanitäter war als erster zur Stelle. Er hatte eine Feldverbandstasche dabei, öffnete sie aber gar nicht erst, denn die Lache von bereits geronnenem Blut auf dem Schreibtisch war zu groß. Der Sanitäter bewegte die Leiche nicht – er befand sich unter Umständen am Schauplatz eines Verbrechens und hatte vom Secret Service für solche Fälle Verhaltensmaßregeln bekommen. Das Blut war zum größten Teil aus Aldens rechtem Ohr ausgetreten, aber auch aus dem linken lief ein Rinnsal, und das Gesicht zeigte schon die typische Leichenblässe. Die Diagnose fiel ihm nicht schwer.
»Tja, Leute, der ist schon seit fast einer Stunde tot. Gehirnblutung, schätze ich, Schlaganfall. Litt er unter hohem Blutdruck?«
»Ja, ich glaube schon«, meinte Special Agent D’Agustino nach kurzem Zögern.
»Sicher kann man natürlich erst nach der Obduktion sein, aber für mich ist die Todesursache Schlaganfall.«
Nun traf ein Arzt der Navy ein, der die Diagnose des Sanitäters bestätigte.
»Hier Connor. Die Leute von der Ambulanz brauchen sich nicht zu beeilen. PILGRIM ist tot; natürliche Ursache«, gab der leitende Agent über Funk weiter. »Wiederhole: PILGRIM ist tot.«
Selbstverständlich würde die Leiche bei der Obduktion auch auf andere Todesursachen untersucht werden, Gift zum Beispiel, oder kontaminierte Speisen oder Getränke. Im Weißen Haus wurden allerdings regelmäßig Stichproben genommen. D’Agustino und Connor tauschten die Blicke. Jawohl, Alden hatte unter hohem Blutdruck gelitten und heute einen ganz besonders schlechten Tag gehabt.
»Wie geht’s ihm?« HAWK, der Präsident selbst, drängte sich, umringt von Agenten, durch die Tür, dicht gefolgt von Dr. Elliot. D’Agustino ging auf, daß sie sich nun einen neuen Codenamen einfallen lassen mußten, und sie erwog HARPYIE. Alle Leibwächter konnten E. E. nicht ausstehen, aber es war nicht ihre Aufgabe, ihre Schutzbefohlenen sympathisch zu finden – das galt selbst für den Präsidenten.
»Er ist tot, Mr. President«, sagte der Arzt. »Offenbar ein schwerer Schlaganfall.«
Der Präsident nahm die Nachricht ohne sichtbare Zeichen der Bewegung auf. Die Leibwächter wußten, daß seine Frau nach jahrelangem Leiden an Multipler Sklerose gestorben war; das mußte Fowler, damals noch Gouverneur von Ohio, seelisch schwer belastet haben. Ob der Mann emotional ausgebrannt ist? fragten sie sich. Jedenfalls ließ er sich kaum etwas anmerken. Er schnalzte mit der Zunge, zog eine Grimasse, schüttelte den Kopf und wandte sich dann ab.
Liz Elliot trat an seine Stelle und lugte einem Agenten über die Schulter. Helen D’Agustino beobachtete ihr Gesicht, als sie sich vordrängte. Die neue Sicherheitsberaterin wurde blaß unter der Schminke. Kein Wunder, dachte D’Agustino, es sieht ja wirklich so aus, als habe jemand einen Eimer rote Farbe auf den Schreibtisch gekippt.
»Mein Gott!« flüsterte Dr. Elliot.
»Aus dem Weg, bitte!« rief eine neue Stimme. Ein Agent mit einer Tragbahre stieß Liz Elliot grob beiseite. E. E. war zu schockiert, um ärgerlich zu reagieren; Daga sah, daß sie noch sehr blaß war und einen verschwommenen Blick hatte. Nun, dachte sie befriedigt, so hartgesotten, wie du dich gibst, bist du auch wieder nicht.
Weiche Knie, Liz? Special Agent Helen D’Agustino war erst vor vier Wochen von der Akademie des Secret Service abgegangen und hatte sich ihren Namen bei der Routineobservation eines Geldfälschers gemacht. Als ihr Subjekt plötzlich eine schwere automatische Pistole zog – der Mann gab zwar keinen Schuß in ihre Richtung ab –, riß sie ihre S & W heraus und brachte über knapp zwölf Meter Entfernung drei Kugeln ins Ziel, so, als hätte sie einen Pappkameraden auf dem Schießstand vor sich. Ganz einfach war das gewesen, und die Szene tauchte nie in ihren Träumen auf. Und nun gehörte Daga zu den »Jungs« und dem Pistolenschützenteam des Secret Service, das bei Wettkämpfen die Mannschaft der Elite-Kommandotruppe Delta Force regelmäßig schlug. Daga war also knallhart, Liz Elliot aber trotz ihrer kalten Arroganz offenbar nicht. Wo bleibt der Mumm, Lady? fragte Helen D’Agustino und bedachte nicht, daß Liz Elliot von nun an die wichtigste Beraterin des Präsidenten in Fragen der nationalen Sicherheit war.
Zum ersten Mal war die Begegnung seltsam gedämpft verlaufen. Günther Bocks alter Waffenbruder Ismael Kati, normalerweise ein Freund radikaler Rhetorik, die er in fünf Sprachen beherrschte, wirkte in jeder Hinsicht gedrückt. Es fehlten das grimmige Lächeln und die feurigen Gesten, und Bock fragte sich, ob Ismael vielleicht krank war.
»Die Nachricht von deiner Frau hat mich sehr betrübt«, sagte Kati.
»Lieb von dir.« Bock beschloß, sich seinen Kummer nicht anmerken zu lassen. »Im Vergleich zu dem, was dein Volk ertragen mußte, ist das nur eine Kleinigkeit. Und Rückschläge gibt es immer.«
Und in ihrem Fall besonders viele, wie sie beide wußten. Ihre beste Waffe waren immer solide Informationen gewesen, doch nun waren Bocks Quellen versiegt. Die RAF hatte Verbindungen bis in die Bundesregierung sitzen gehabt und nützliche Hinweise vom MfS und anderen Ostblock-Nachrichtendiensten bekommen. Zweifellos hatte ein Gutteil der Daten seinen Ursprung in Moskau gehabt und war aus politischen Gründen, die Bock nie hinterfragte, über die Dienste der kleinen Bruderländer geleitet worden. Immerhin erfordert der Kampf für den Weltsozialismus taktische Schachzüge, dachte Bock und korrigierte sich gleich: Zumindest war das einmal so.
Doch inzwischen griff ihnen niemand mehr unter die Arme. Die östlichen Nachrichtendienste waren über ihre revolutionären Genossen hergefallen, und die Dienste Ungarns und der CSFR hatten dem Westen sogar Daten gegen Devisen geliefert! Von den Ostdeutschen hingegen waren die Hinweise im Zuge gesamtdeutscher Zusammenarbeit und Brüderschaft umsonst weitergegeben worden. Die DDR gab es nicht mehr; sie war nun nichts als ein Anhängsel der kapitalistischen BRD. Und die Russen ... von denen war keine indirekte Unterstützung mehr zu erwarten. Mit dem Zusammenbruch des Sozialismus in Europa waren die Kontaktpersonen der RAF bei verschiedenen Behörden entweder ausgeräuchert oder umgedreht worden, und der Rest hatte den Glauben an die Zukunft des Sozialismus verloren und lieferte einfach nichts mehr. Europas revolutionäre Kämpfer hatten auf einen Schlag ihre beste Waffe verloren.
Zum Glück sah es hier anders aus, besonders für Kati. Die Israelis waren ebenso dumm wie brutal. Die einzige Konstante, die der Welt geblieben war, wußten Bock und Kati, war die Unfähigkeit der Juden, eine ernsthafte politische Initiative zu starten. Sie waren stark im Krieg, aber hoffnungslos ungeschickt im Umgang mit dem Frieden. Hinzu kam ihre Fähigkeit, ihrer Schutzmacht USA eine Politik zu diktieren, die aussah, als seien sie an Frieden überhaupt nicht interessiert. Bock hatte zwar nicht Geschichte studiert, bezweifelte aber, daß es einen historischen Präzedenzfall für dieses Verhalten gab. Der Palästinenseraufstand war für Israel eine blutende Wunde. Israels Polizei und Sicherheitsdienst, die früher nach Belieben arabische Gruppen infiltrieren konnten, verloren nun, da die Bevölkerung die Intifada zunehmend unterstützte, den Kontakt. Im Gegensatz zu Bock befehligte Kati eine laufende Operation. Bock beneidete ihn darum, wie ungünstig die taktische Lage auch sein mochte. Ein weiterer perverser Vorteil für Kati war die Effizienz seiner Gegner. Der israelische Geheimdienst führte nun schon seit zwei Generation einen Schattenkrieg gegen die arabischen Freiheitskämpfer. Wer dumm und ungeschickt gewesen war, war von Mossad-Offizieren erschossen worden. Überlebende wie Kati waren die starken, klugen, treuen Produkte eines darwinschen Ausleseprozesses.
»Was macht ihr mit Informanten?« fragte Bock.
»Wir haben letzte Woche einen geschnappt«, erwiderte Kati mit einem grausamen Lächeln. »Ehe er starb, nannte er uns den Namen seines Führungsoffiziers, den wir nun beschatten.«
Bock nickte. Früher wäre der israelische Offizier einfach erschossen worden, aber Kati hatte dazugelernt. Nun beobachtete man den Mann sehr vorsichtig und nur sporadisch in der Hoffnung, weitere Spitzel zu identifizieren.
»Und die Russen?«
»Diese Schweine liefern uns nichts Vernünftiges mehr. Wir stehen allein, wie immer«, antwortete Kati heftig. Dann fiel die Miene des Arabers wieder in seine Niedergeschlagenheit zurück.
»Du wirkst erschöpft.«
»Ich habe einen langen Tag hinter mir. Du bestimmt auch.«
Bock gähnte und reckte sich. »Bis morgen dann?«
Kati nickte, stand auf und führte den Gast zu seinem Zimmer. Bock drückte ihm die Hand, ehe er sich zurückzog. Sie kannten sich nun seit fast zwanzig Jahren.
Kati ging zurück ins Wohnzimmer und trat von dort ins Freie. Seine Wachmannschaften waren bereit und auf ihren Posten. Wie immer wechselte er ein paar Worte mit ihnen, denn wer sich um seine Männer kümmert, dem dienen sie auch treu. Dann ging er zu Bett, nachdem er sein Abendgebet gesprochen hatte. Es beunruhigte ihn ein wenig, daß sein Freund Günther, ein tapferer, kluger und treuer Mann, Atheist war. Kati verstand nicht, wie man ohne Glauben weiterkämpfen konnte.
Kämpft er überhaupt noch? fragte sich Kati, als er sich niederlegte und die schmerzenden Arme und Beine ausstreckte. Im Grunde genommen war Bock erledigt. Petra hätte im Kugelhagel der GSG-9 sterben sollen, das wäre für Günther besser gewesen. Dem Vernehmen nach war sie nur nicht getötet worden, weil sie von dem Kommandotrupp beim Stillen überrascht worden war. Da hätte kein Mensch, der diesen Namen verdiente, abdrücken können. Diese Sünde hätte Kati trotz seines Hasses auf die Israelis nie begehen können. Er dachte an Petra und lächelte. Einmal, als Günther verreist war, hatte er mit ihr geschlafen. Sie war einsam gewesen, und da er gerade heißblütig von einem erfolgreichen Einsatz im Libanon, bei dem ein israelischer Militärberater der christlichen Milizen starb, zurückgekehrt war, fielen sie einander in die Arme und kosteten ihren revolutionären Eifer zwei leidenschaftliche Stunden lang aus.
Weiß Günther Bescheid? fragte er sich. Hat Petra etwas gesagt?
Vielleicht, aber das machte nichts. Bock war nicht so eifersüchtig wie die Araber, die den Zwischenfall als tödliche Beleidigung aufgefaßt hätten. Europäer gingen mit solchen Dingen so lässig um. Seltsam, dachte Kati, aber nicht die einzige Merkwürdigkeit im Leben. Bock war ein wahrer Freund, das stand fest, in dessen Brust die Flamme so hell loderte wie in seiner eigenen. Schade nur, daß die Ereignisse in Europa dem Freund das Leben so vergällten. Seine Frau eingesperrt, die Kinder gestohlen. Bei dem Gedanken lief Kati ein Schauer über den Rücken. Die beiden hätten keine Kinder in die Welt setzen sollen. Kati war ledig geblieben und hatte nur selten weibliche Gesellschaft gesucht. Lächelnd erinnerte er sich an die vielen jungen Europäerinnen im Libanon vor zehn Jahren. Tricks hatten die gekannt, die kein arabisches Mädchen jemals lernen würde. Heiß waren sie gewesen, um ihren Eifer für die Sache zu beweisen. Gewiß, sie hatten ihn ebenso ausgenutzt wie er sie, aber er war damals ein leidenschaftlicher junger Mann gewesen, der sich daran nicht störte.
Seine Leidenschaft war erloschen, und er konnte nur hoffen, daß sie noch einmal wiederkehrte, damit er genügend Energie für die eine Sache aufbrachte. Der Arzt meinte, sein Körper spräche gut auf die Therapie an, und die Nebenwirkungen seien weniger ernst als bei den meisten anderen Patienten. Von der permanenten Erschöpfung und der Übelkeit dürfe er sich nicht entmutigen lassen; das sei normal, und es bestünde echte Hoffnung, versicherte der Arzt bei jedem Besuch. Wichtig war, daß Kati ein Motiv zum Überleben hatte, einen Lebenszweck, der ihn durchhalten ließ.
»Wie sieht’s aus?«
»Machen Sie ruhig weiter«, erwiderte Dr. Cabot über die gesicherte Satellitenverbindung. »Charlie ist an seinem Schreibtisch gestorben, Schlaganfall.« Pause. »Vielleicht das Beste, was dem armen Teufel passieren konnte.«
»Wird Liz Elliot seine Nachfolgerin?«
»Ja.«
Ryan verzog angewidert die Lippen, als hätte er gerade eine besonders bittere Medizin geschluckt. Er schaute auf die Uhr. Cabot war früher als sonst aufgestanden, um ihn anzurufen und ihm Instruktionen zu geben. Sein Chef und er waren nicht gerade Freunde, aber die Wichtigkeit des Anlasses ließ sie dies vergessen. Vielleicht läßt sich mein Verhältnis mit E. E. ähnlich regeln, dachte Ryan.
»Gut, Boß, ich fliege in neunzig Minuten ab. Adler und ich unterbreiten den Plan gleichzeitig, wie abgemacht.«
»Viel Glück, Jack.«
»Danke.« Ryan schaltete an der Konsole das Satellitentelefon aus, verließ das Kommunikationszentrum und ging in sein Zimmer. Sein Koffer war schon gepackt; nun brauchte er nur noch seine Krawatte zu binden. Das Jackett warf er lässig über die Schulter. In Israel und erst recht in Saudi-Arabien war es für so ein Kleidungsstück zu heiß, aber die Saudis erwarteten trotzdem, daß er es trug. Laut Etikette hatte eine angemessene äußere Erscheinung mit maximaler Unbequemlichkeit einherzugehen. Ryan nahm seinen Koffer und verließ den Raum.
Draußen wartete Adler. »Uhrenvergleich?« fragte er und lachte in sich hinein.
»Ehrlich, Scott, meine Idee war das nicht.«
»Macht aber Sinn.«
»Na ja... so, meine Maschine geht gleich.«
»Immer mit der Ruhe. Ohne Sie fliegt die nicht ab.«
»Wenigstens ein Vorteil, den der Regierungsdienst bietet.« Ryan schaute sich im Korridor um. Leer, aber hatten es die Israelis fertiggebracht, ihn zu verwanzen? Wenn das der Fall war, mußte die Musikberieselung den Lauschern einen Strich durch die Rechnung machen. »Nun, wie stehen die Chancen?«
»Gleicher Einsatz.«
»So gut?«
»ja«, sagte Adler und grinste. »Passen Sie auf, das haut hin. Großartige Idee von Ihnen.«
»Erstens ist die Sache nicht nur auf meinem Mist gewachsen, und zweitens werden sowieso andere die Lorbeeren ernten.«
»Mag sein, aber die Insider werden wissen, wem sie zu danken haben. So, machen wir uns an die Arbeit.«
»Informieren Sie mich über die Reaktion der Israelis. Viel Glück.«
»Danke gleichfalls.« Adler ergriff Ryans Hand. »Und guten Flug.«
Die Botschaftslimousine brachte Ryan an sein Flugzeug, dessen Triebwerke bereits liefen. Die VC-20B bekam bevorzugte Starterlaubnis, war fünf Minuten später bereits in der Luft und flog nach Süden, über das dolchförmige Israel und den Golf von Akaba hinweg in saudischen Luftraum.
Ryan schaute, wie es seine Gewohnheit war, aus dem Fenster und ging den bevorstehenden Auftritt, den er nun schon eine Woche lang geprobt hatte, in Gedanken noch einmal durch. Die Luft war klar, der Himmel über dem Ödland fast wolkenlos. Nur verkrüppelte Büsche, die individuell nicht auszumachen waren und die Landschaft aussehen ließen wie ein stoppelbärtiges Gesicht, verliehen der Sand- und Steinwüste Farbe. Ryan wußte, daß ein großer Teil Israels landschaftlich so aussah, der Sinai zum Beispiel, wo die Panzerschlachten geschlagen worden waren, und er fragte sich, warum Menschen ausgerechnet für dieses dürre Land zu sterben bereit waren. Doch schon in der Frühgeschichte waren hier die ersten organisierten Kriege ausgefochten worden, und seitdem hatte es keinen Frieden in der Region gegeben – bis heute.
Riad, die Hauptstadt von Saudi-Arabien, liegt ungefähr in der Mitte des Landes, das so groß ist wie die USA östlich des Mississippi. Die Maschine setzte ohne Verzögerung zur Landung an, da hier nicht viel Flugverkehr herrschte, und berührte sanft den Boden. Minuten später rollte die Gulfstream auf die Frachthalle zu, und der Flugbegleiter öffnete die vordere Tür. Nach zwei Stunden in der klimatisierten Maschine fühlte Jack sich jetzt plötzlich wie in einem Backofen. Die Temperatur betrug 44 Grad im Schatten, den es nicht gab. Schlimmer noch, die Sonne wurde vom Beton des Vorfelds so grell reflektiert, daß Ryans Gesicht brannte. Empfangen wurde er vom stellvertretenden Missionschef der Botschaft und dem üblichen Sicherheitspersonal. Einen Augenblick später saß er schwitzend in der Botschaftslimousine.
»Hatten Sie einen guten Flug?« fragte der Diplomat.
»Nicht übel. Ist hier alles bereit?«
»Jawohl, Sir.«
Jack genoß die respektvolle Anrede. »Gut, dann packen wir’s an.«
»Ich habe Anweisung, Sie bis an die Tür zu begleiten.«
»Richtig.«
»Es mag Sie interessieren, daß wir bisher keine Anfragen von der Presse hatten. Washington hat diesmal Stillschweigen gewahrt.«
»Das wird sich ändern. In fünf Stunden geht der Tanz los.«
Riad war sauber, unterschied sich aber von westlichen Städten insofern, als alle Gebäude neu waren. Die Stadt war zwar nur zwei Flugstunden von Israel entfernt, aber nie so umkämpft gewesen wie Palästina. Die alten Handelsrouten hatten einen weiten Bogen um das Landesinnere gemacht, wo die Hitze mörderisch war und die Nomaden, anders als die wohlhabenden Fischer und Händler an der Küste, ihr karges Leben gefristet hatten, zusammengehalten nur vom Islam, der von den heiligen Städten Mekka und Medina ausgegangen war. Den Umschwung hatten zwei Entwicklungen gebracht. Zum einen hatten die Briten hier im Ersten Weltkrieg einen Entlastungsangriff gegen das Osmanische Reich gestartet und Truppen gebunden, die den Mittelmächten anderswo hätten nützlich sein können. Zum anderen war man hier in den dreißiger Jahren auf Öl gestoßen – Reserven, die Texas weit in den Schatten stellten. In der Folge hatten sich erst Arabien und dann der Rest der Welt verändert.
Anfangs waren die Beziehungen zwischen den Saudis und dem Westen heikel gewesen. Noch immer waren die Saudis sowohl hochzivilisiert als auchprimitiv. Es gab auf dieser Halbinsel Menschen, die noch vor dreißig Jahren ein Nomadenleben wie im Bronzezeitalter geführt hatten. Gleichzeitig hatte das Land eine bewundernswerte islamische Tradition und strenge, aber gerechte Gesetze, die eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit den Vorschriften des Talmud aufwiesen. Innerhalb einer kurzen Zeitspanne hatte sich dieses Volk an unermeßlichen Reichtum gewöhnt und wurde im »kultivierten« Westen ob seiner Verschwendungssucht verspottet. In Wirklichkeit aber war dieses Land nur ein Glied mehr in der Kette der neureichen Staaten, zu denen auch Amerika einmal gehört hatte. Ryan, selber neureich, hatte Verständnis. Leute mit »altem« Geld – verdient von aufgeblasenen Vorfahren, deren ungehobelte Manieren in Vergessenheit geraten waren -fühlten sich in Gesellschaft jener, die ihr Vermögen erarbeitet und nicht geerbt hatten, immer etwas unbehaglich. Unter Nationen war das nicht anders. Die Saudis und ihre arabischen Brüder waren noch auf dem Weg zu einer Nation, die reich und einflußreich zu werden versprach, hatten aber dabei einige harte Lektionen lernen müssen – zuletzt beim Zusammenprall mit ihren Nachbarn im Norden. Und da sie überwiegend die richtigen Konsequenzen gezogen hatten, hoffte Ryan, daß ihnen der nächste Schritt ebenso leichtfallen würde. Zur wahren Größe gelangt ein Land nicht durch militärische oder wirtschaftliche Macht, sondern als Friedensstifter. Zu dieser Erkenntnis waren die Vereinigten Staaten erst unter Theodore Roosevelt gelangt, dessen Friedensnobelpreis noch heute den nach ihm benannten Raum im Weißen Haus ziert. Fast hundertzwanzig Jahre haben wir gebraucht, überlegte Jack, als der Wagen abbog und langsamer fuhr. Roosevelt erhielt den Preis für die Schlichtung einer unerheblichen Grenzstreitigkeit; wir aber versuchen mit Hilfe der Saudis, die erst seit fünfzig Jahren so etwas wie einen Staat haben, das gefährlichste Pulverfaß der zivilisierten Welt zu entschärfen. Für uns besteht also nicht der geringste Anlaß zur Überheblichkeit.
Das Protokoll bei Staatsanlässen ist so komplex und wohleinstudiert wie die Choreographie beim Ballett. Der Wagen – früher eine Kutsche – fährt vor. Der Schlag wird von einem Protokollbeamten – einstmals ein Diener – geöffnet. Der empfangende Würdenträger wartet einsam und ernst, bis der Gast ausgestiegen ist. Der Gast nickt dem Diener zu, wenn er höflich ist, und Ryan ist höflich. Ein anderer, höherer Protolcollbeamter begrüßt den Gast und geleitet ihn dann zum Würdenträger. Links und rechts stehen Wachen, in diesem Fall bewaffnete Soldaten. Die Presse war aus naheliegenden Gründen ausgeschlossen. Das Ganze wäre bei Temperaturen unter vierzig Grad behaglicher gewesen. Immerhin gab es eine schattenspendende Markise, als Ryan zum Würdenträger geführt wurde.
»Willkommen in meinem Land, Dr. Ryan.« Prinz Ali Ben Scheich begrüßte Jack mit einem festen Händedruck.
»Ich bin erfreut, Hoheit.«
»Bitte folgen Sie mir.«
»Gerne, Hoheit.« Ehe ich verdampfe, fügte Jack insgeheim hinzu.
Ali führte Jack und den Mann von der Botschaft ins Gebäude; dort trennten sich ihre Wege. Das Haus war einer der zahlreichen Paläste der vielen Prinzen, aber Ryan fand die Bezeichnung »Verwaltungspalast« treffender. Es war kleiner als vergleichbare Gebäude, die Ryan in Großbritannien besucht hatte, und sauberer, wie er zu seiner Überraschung feststellte. Vielleicht lag das an der Luft, die, anders als im feuchten und rußigen London, rein und trocken war. Die Temperatur in den klimatisierten Räumen mußte über dreißig Grad betragen haben, trotzdem fühlte Ryan sich wohl. Der Prinz trug ein wallendes Gewand und hatte ein Tuch um den Kopf geschlungen, das von zwei Schnüren - wie nennt man die Dinger noch? fragte sich Ryan – festgehalten wurde. Darüber hätte ich mich informieren lassen sollen, warf er sich vor. Aber eigentlich war das Ganze Aldens Aufgabe gewesen, der sich in der Region viel besser auskannte – doch Charlie Alden war tot, und nun hatte Jack den Ball.
Ali Ben Scheich galt bei Außenministerium und CIA als Prinz ohne Portefeuille. Der Mann, der größer, schlanker und jünger als Ryan war, beriet den König von Saudi-Arabien in Fragen der Außenpolitik und der Aufklärung. Vermutlich erstattete ihm der von den Briten ausgebildete saudische Nachrichtendienst Meldung, aber ganz klar war das nicht – zweifellos ein weiteres Vermächtnis der Briten, die es mit der Geheimhaltung sehr viel ernster nahmen als die Amerikaner. Alis Dossier bei der CIA war zwar dick, befaßte sich aber vorwiegend mit seiner Ausbildung. Nach dem Studium in Cambridge war er Heeresoffizier geworden und hatte seine militärische Ausbildung in Fort Leavenworth und der Carlyle-Kaserne in den USA fortgesetzt. In letzterer Einrichtung war er der Jüngste seiner Klasse gewesen und mit siebenundzwanzig bereits Colonel – Prinz eines königlichen Hauses zu sein, ist der Karriere nur förderlich-und hatte als Drittbester in einer Gruppe abgeschlossen, die später zehn Divisionskommandeure stellte. Ein General der Army, der Ryan über Ali informiert hatte, erinnerte sich gerne an den Kameraden und schrieb ihm einen wachen Geist und hervorragende Führungsqualitäten zu. Es war Ali gewesen, der den König nach Ausbruch der Golfkrise bewegt hatte, amerikanische Waffenhilfe anzunehmen. Er galt als entscheidungsfreudig und hatte – trotz seiner vornehmen Manieren – nur wenig Geduld mit Zeitverschwendern.
Das Arbeitszimmer des Prinzen war wegen der beiden Wachen an der Doppeltür leicht zu erkennen. Ein dritter Mann öffnete, verbeugte sich und ließ sie eintreten.
»Ich habe schon viel von Ihnen gehört«, meinte Ali beiläufig.
»Hoffentlich nur Gutes«, erwiderte Ryan, der bemüht war, entspannt zu wirken.
Ali drehte sich mit einem verschmitzten Lächeln um. »Wir haben in Grol3britannien gemeinsame Freunde, Sir John. Halten Sie sich mit Handfeuerwaffen in Übung?«
»Dazu fehlt mir die Zeit, Hoheit.«
Ali wies Jack einen Sessel an. »Für manche Dinge sollte man sich die Zeit einfach nehmen.«
Beide nahmen Platz und gingen zum Formellen über. Ein Diener erschien mit einem Silbertablett, schenkte den beiden Männern Kaffee ein und zog sich anschließend zurück.
»Ich habe von Dr. Alden gehört und bedaure seinen Tod aufrichtig. Schade, daß ein so guter Mann über eine so dumme Sache stolpern mußte ... Andererseits wollte ich Sie schon immer kennenlernen, Dr. Ryan.«
Jack nippte an seinem Kaffee, der dick, bitter und teuflisch stark war.
»Danke, Hoheit. Dank auch für Ihre Bereitschaft, mich anstelle eines höheren Vertreters zu empfangen.«
»Die wirksamsten diplomatischen Vorstöße beginnen oft informell. Nun, was kann ich für Sie tun?« Ali lächelte, lehnte sich zurück und spielte mit der Linken an seinem Bart. Auch wenn seine glänzenden, kohlschwarzen Augen den Besucher ungezwungen musterten, war die Atmosphäre nun geschäftsmäßig.
Ryan begann. »Meine Regierung möchte sondieren – will sagen, die groben Umrisse eines Plans zur Reduzierung der Spannungen in der Region vorlegen.«
»Sie meinen natürlich die Spannungen mit Israel. Ich nehme an, daß Adler in diesem Augenblick den Israelis denselben Vorschlag unterbreitet.«
»Korrekt, Hoheit.«
»Wie dramatisch«, merkte der Prinz mit einem amüsierten Lächeln an. »Bitte fahren Sie fort.«
»Hoheit, der wichtigste Faktor in dieser Angelegenheit muß die Sicherheit des Staates Israel sein. Zu einer Zeit, als wir beide noch nicht geboren waren, taten die USA und andere Länder praktisch nichts, um die Ausrottung von sechs Millionen Juden zu verhindern. Diese Unterlassungssünde lastet schwer auf meinem Land.«
Ali nickte ernst. »Das habe ich nie verstanden. Mag sein, daß die USA entschiedener hätten handeln können, aber Roosevelt und Churchill trafen ihre strategischen Entscheidungen während des Krieges in gutem Glauben. Das Schiff voller Juden, das vor Kriegsausbruch niemand haben wollte, ist natürlich ein anderes Thema. Ich finde es sehr sonderbar, daß Ihr Land diesen armen Menschen kein Asyl gewährte. Andererseits konnten weder Juden noch Nichtjuden ahnen, was bevorstand, und als sich die Katastrophe abzeichnete, hatte Hitler Europa besetzt und Ihnen die Möglichkeit einer direkten Intervention verwehrt. Ihre Führung kam damals zu dem Schluß, daß dem Morden am besten durch rasche Beendigung des Krieges Einhalt zu gebieten sei; eine logische Entscheidung. Man hätte natürlich die sogenannte Endlösung politisch thematisieren können, hielt diesen Kurs aber aus praktischen Erwägungen für ineffektiv. Im Rückblick gesehen, war das vermutlich eine Fehlentscheidung, die aber nicht in böswilliger Absicht getroffen worden war.« Ali machte eine Pause, damit Ryan den historischen Diskurs verarbeiten konnte. »Auf jeden Fall haben wir Verständnis für Ihren Wunsch, den Staat Israel zu erhalten, und akzeptieren ihn auch, wenngleich mit Vorbehalten. Sie werden sicher verstehen, daß wir unsere Zustimmung nur geben können, wenn Sie auch die Rechte anderer Völker anerkennen. Dieser Teil der Erde wird nicht nur von Juden und Wilden bewohnt.«
»Und das, Hoheit, ist die Grundlage unseres Friedensplans«, erwiderte Ryan. »Sind Sie bereit, einem Plan zuzustimmen, der die USA als Garantiemacht für Israels Sicherheit vorsieht, wenn eine Formel für die Anerkennung der Rechte anderer gefunden werden kann?« Ryan blieb keine Zeit, den Atem anzuhalten und auf die Antwort zu warten.
»Aber gewiß. Haben wir das nicht deutlich gemacht? Wer außer Amerika kann den Frieden denn garantieren? Wenn Sie in Israel Truppen stationieren und Ihre Garantie vertraglich sichern wollen, können wir das akzeptieren. Doch was wird aus den Rechten der Araber?«
»Auf welche Weise sollten wir uns Ihrer Auffassung nach mit diesen Rechten befassen?« fragte Jack.
Prinz Ali fand diese Gegenfrage verblüffend. War es nicht Ryans Auftrag, den amerikanischen Plan zu unterbreiten? Ali war zu klug, um seine momentane Verärgerung zu zeigen. Das war keine Falle, erkannte er, sondern eine fundamentale Änderung der amerikanischen Außenpolitik.
»Dr. Ryan, Sie haben diese Frage nicht grundlos gestellt, aber trotzdem ist sie rhetorisch. Eine Antwort wird Ihre Seite formulieren müssen.«
Das nahm drei Minuten in Anspruch.
Ali schüttelte betrübt den Kopf. »Dr. Ryan, wir wären wahrscheinlich in der Lage, diesen Vorschlag zu akzeptieren, aber Israel wird sich sperren – vermutlich aus genau den Gründen, die uns eine positive Reaktion ermöglichen. Natürlich sollte Israel einverstanden sein – wird es aber nicht.«
»Aber Ihre Regierung kann den Vorschlag akzeptieren, Hoheit?«
»Ich muß ihn selbstverständlich erst anderen unterbreiten, bin aber der Auffassung, daß wir positiv reagieren werden.«
»Ohne Einwände?«
Der Prinz machte eine Pause und starrte über Ryans Kopf hinweg auf die Wand. »Wir könnten mehrere Änderungen vorschlagen, die die Prämissen Ihres Plans aber nicht berühren würden. Ich bin sogar der Ansicht, daß sich diese nebensächlichen Punkte leicht und rasch aushandeln ließen, da sie die anderen beteiligten Parteien nicht direkt betreffen.«
»Und wen würden Sie als Vertreter des Islam vorschlagen?«
Ali beugte sich vor. »Ganz einfach, das weiß jeder. Der Imam der al-Aksa-Moschee, Ahmed Ben Yussif, ist ein geachteter Gelehrter und Sprachkundiger, der von der gesamten islamischen Welt in theologischen Fragen konsultiert wird. Sunniten und Schiiten fügen sich auf bestimmten Gebieten seinem Urteil. Zudem ist er gebürtiger Palästinenser.«
»So einfach ist das?« Ryan schloß die Augen und atmete erleichtert auf. Hier hatte er richtig getippt. Yussif war zwar nicht gerade moderat und hatte die Vertreibung der luden aus Westjordanien gefordert. Aber er hatte den Terrorismus aus theologischen Gründen grundsätzlich verurteilt. Er war also nicht unbedingt der Idealkandidat, aber wenn die Moslems mit ihm leben konnten, reichte das.
»Sie sind sehr optimistisch, Dr. Ryan.« Ali schüttelte den Kopf. »Zu optimistisch. Ich muß gestehen, daß Ihr Plan fairer ist, als ich oder meine Regierung erwartet hatten, aber er wird nie Wirklichkeit werden.« Ali schaute Ryan fest an. »Nun muß ich mich fragen, ob das ein ernstgemeinter Vorschlag war oder nur eine Finte mit dem Anstrich der Fairneß.«
»Hoheit, Präsident Fowler wird am kommenden Donnerstag der Vollversammlung der Vereinten Nationen eben diesen Plan unterbreiten. Ich bin ermächtigt, Ihre Regierung zu Verhandlungen in den Vatikan einzuladen.«
Der Prinz war so verdutzt, daß er in die Umgangssprache verfiel. »Meinen Sie wirklich, daß Sie das hinkriegen?«
»Hoheit, wir werden unser Bestes tun.«
Ali erhob sich und ging an seinen Schreibtisch, nahm ein Telefon ab, drücke auf einen Knopf und sagte etwas in Arabisch, von dem Ryan kein Wort verstand. Er war so erleichtert, daß ihm ein spleeniger Gedanke kam: luden und Araber hatten ja eine Gemeinsamkeit, sie schrieben von rechts nach links. Wie wird das Gehirn damit fertig? fragte er sich.
Donnerwetter, sagte er sich. Es klappt vielleicht!
Ali legte den Hörer auf und wandte sich an seinen Besucher. »Es ist Zeit für eine Audienz bei Seiner Majestät.«
»So schnell geht das?«
»Wenn bei uns ein Minister einen Kollegen sprechen will, braucht er nur einen Onkel oder Vetter anzurufen. Ein Vorteil unserer Regierungsform: Wir sind ein Familienbetrieb. Ich hoffe nur, daß Ihr Präsident sein Wort hält.«
»Die UN-Rede ist bereits verfaßt. Ich habe sie gesehen. Er rechnet mit Angriffen der israelischen Lobby im Land und ist auf sie vorbereitet.«
»Ich habe diese Lobby in Aktion erlebt, Dr. Ryan. Selbst als wir an der Seite amerikanischer Soldaten um unser Leben kämpften, verweigerte sie uns Waffen, die wir zu unserer Verteidigung brauchten. Glauben Sie, daß es da eine Änderung geben wird?«
»Der Sowjetkommunismus ist am Ende, der Warschauer Pakt ebenfalls. So viele Dinge, die seit meiner Jugend die Welt bestimmten, gibt es nicht mehr. Es ist nun an der Zeit, die restlichen Unruheherde zu beseitigen und Frieden auf der Welt zu schaffen. Sie haben gefragt, ob wir das zuwege bringen – warum eigentlich nicht? Beständig ist nur die Veränderung, Hoheit.« Ryan wußte, daß er sich geradezu unverschämt optimistisch gab, und fragte sich sorgenvoll, wie Adler in Jerusalem wohl vorankam. Adler war zwar nicht laut, aber sehr bestimmt, und es war schon viel zu lange her, seit jemand den Israelis die Leviten gelesen hatte. Der Präsident hatte sich auf diese Initiative festgelegt. Wenn die Israelis nun versuchten, sie zu blockieren, würden sie sich völlig isoliert finden.
»Beständig ist auch Gott, Dr. Ryan.«
Jack lächelte. »Eben, Hoheit. Und darum geht es uns auch.«
Prinz Ali verkniff sich ein Lächeln und wies zur Tür. »Unser Wagen steht bereit.«
In dem Army-Depot New Cumberland in Pennsylvania, wo bis zu zweihundert Jahre alte Flaggen und Standarten aufbewahrt werden, breiteten ein Brigadegeneral und ein Antiquitätenfachmann die verstaubte Fahne des Zehnten US-Kavallerieregiments auf einem Tisch aus. Der General fragte sich, ob der feine Sand noch von Colonel John Griersons Feldzug gegen die Apachen stammte. Die Fahne sollte an das Regiment gehen, hatte aber keine große Verwendung und wurde vielleicht einmal im Jahr hervorgeholt. Als eigentliche Regimentsfahne diente eine nach dem Vorbild des alten Stücks angefertigte Kopie. Daß dies passierte, war an sich ungewöhnlich. In einer Zeit der Kürzungen im Verteidigungshaushalt wurde eine neue Einheit gebildet. Dagegen hatte der General jedoch nichts einzuwenden. Das 10. Regiment war trotz seiner ruhmvollen Geschichte von Hollywood, wo nur ein einziger Film über eines der schwarzen Regimenter gedreht worden war, stiefmütterlich behandelt worden. Die vier schwarzen Einheiten – das 9. und 10. Kavallerie- und das 24. und 25. Infantrieregiment – hatten bei der Erschließung des Westens eine wichtige Rolle gespielt. Die Regimentsstandarte stammte aus dem Jahr 1866 und hatte ein Mittelstück aus Büffelfell – das Kraushaar der schwarzen »Buffalo Soldiers« war von den Indianern mit dem Fell des amerikanischen Bisons verglichen worden. Schwarze Soldaten hatten bei dem Sieg über Geronimo mitgekämpft und Teddy Roosevelt beim Sturm auf den San Juan Hill das Leben gerettet. Es war also an der Zeit, daß man ihnen offiziell Anerkennung zollte, und der Präsident hatte das nicht ohne politische Hintergedanken getan. Fest stand, daß die 10. Kavallerie eine ehrenhafte Tradition hatte.
»Die Kopie habe ich in einer Woche fertig«, sagte der Zivilist. »Was hätte der alte Grierson wohl von der heutigen Ausrüstung der Buffalos gehalten?«
»Die ist allerdings bemerkenswert«, räumte der General, der vor einigen Jahren das 11. gepanzerte Kavallerieregiment befehligt hatte, ein. Die Einheit »Black Horse« war fürs erste noch in Deutschland stationiert. Der Restaurateur hatte aber recht. Ein modernes Kavallerieregiment war mit 129 Kampfpanzern, 228 Schützenpanzern, 24 Geschützen auf Selbstfahrlafetten, 83 Hubschraubern und 5000 Mann praktisch eine Brigade, hochmobil und mit großer Feuerkraft.
»Wo wird die Einheit stationiert?«
»Zusammengestellt wird sie in Fort Stewart. Was dann mit ihr geschehen soll, weiß ich nicht. Vielleicht ergänzt sie das 18. Luftlandekorps.«
»Also brauner Anstrich?«
»Vermutlich. Na, die Jungs kennen sich ja in der Wüste aus.« Der General strich über das alte Tuch, an dem noch Staub aus Texas, New Mexico und Arizona haftete, und fragte sich, ob die Soldaten, die hinter dieser Fahne marschieren sollten, wußten, daß sie mit ihrem Outfit eine Einheit wieder zum Leben erwecken würden.