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Mordreds Rache

Dubinin hatte so gut wie keine Wahl. Sobald feststand, daß der amerikanische Torpedo keine Gefahr mehr darstellte, ließ er die Satellitenantenne ausfahren und sendete seine Meldung. Die amerikanische Orion warf ringsum Sonarbojen ab, griff ihn aber nicht an und bestätigte so seine Vermutung, daß er ein Verbrechen begangen hatte, daß dem Mord gleichkam. Sobald das Signal empfangen worden war, machte er kehrt und hielt auf die Explosionsstelle zu. Als Seemann konnte er nicht anders handeln.

 

PRÄSIDENT FOWLER:

ICH MUSS IHNEN ZU MEINEM BEDAUERN MITTEILEN, DASS EIN SOWJETISCHES UNTERSEEBOOT, NACHDEM ES ANGEGRIFFEN WORDEN WAR, EINEN GEGENANGRIFF AUF EIN AMERIKANISCHES UNTERSEEBOOT FÜHRTE UND ES MÖGLICHERWEISE BESCHÄDIGTE. ES HAT DEN ANSCHEIN, ALS HABE SICH DIES KURZ NACH MEINEM BEFEHL ZUM ABBRUCH ALLER KAMPFHANDLUNGEN ER-EIGNET. FÜR DIESEN FEHLER KANN ES KEINE RECHTFERTIGUNG GEBEN. WIR WERDEN DEN VORFALL ERMITTELN UND DEN KAPITÄN UNSERES BOOTES, SOLLEN ES DIE UMSTÄNDE RECHTFERTIGEN, STRENG BESTRAFEN.

»Nun?«

»Mr. President, ich schlage vor, die Botschaft zu bestätigen, dem Mann zu danken und die Sache schleifen zu lassen«, erwiderte Jack.

»Einverstanden. Danke.« Die Verbindung wurde unterbrochen.

»Das war mein Boot!« fauchte Rosselli.

»Das tut mir leid«, meinte Ryan. »Ich bin selbst einmal auf einem U-Boot gefahren, mit Bart Maneuso übrigens. Kennen Sie ihn?«

»Er befehligt das Geschwader in Bangor.«

Ryan drehte sich um. »Wirklich? Das wußte ich nicht. Der Fall ist bedauerlich, aber was bleibt uns anderes übrig?«

»Ich weiß«, sagte Rosselli leise. »Wenn wir Glück haben, können wir wenigstens die Mannschaft retten.«

 

Jackson hatte kaum noch Treibstoff und war bereit zur Rückkehr. Auf der Theodore Roosevelt war gerade ein Alphaschlag vorbereitet worden, als die neuen Anweisungen eingingen. Der Verband machte sofort größere Fahrt, um mehr Distanz zur Kusnezow zu schaffen. Keine feige Flucht, fand Jackson. Von der Hawkeye kam die Warnung, die Russen hätten nach Westen abgedreht – vielleicht in den Wind, um Flugzeuge zu starten. Über dem Verband kreisten zwar vier Jäger, aber die Schiffe blieben auf Westkurs. Ihre Suchradare waren aktiv, die Raketenradare aber nicht, und das war, wie Robby wußte, ein gutes Zeichen.

Damit, dachte Robby, endet mein zweiter Krieg, sofern es überhaupt einer war ... Zusammen mit Sanchez an seinem rechten Flügel zog er die Tomcat herum. Im Lauf der nächsten paar Stunden sollten hier vier andere Tomcat kreisen, um die Lage im Auge zu behalten.

Gerade als Jacksons Maschine vom Fangseil zum Stillstand gebracht wurde, landete vorne ein Rettungshubschrauber. Als er aus der Kanzel geklettert war, hatte man drei Personen ins Schiffslazarett gebracht. Er ging unter Deck, weil er wissen wollte, wer sie waren und was eigentlich vorgefallen war. Wenige Minuten später erkannte er, daß er sich für diese Abschüsse keine Triumphsymbole ans Flugzeug pinseln lassen konnte. Heldentaten waren das nicht gewesen.

 

Die Lage in Berlin beruhigte sich sehr viel rascher als erwartet. Die zur Verstärkung anrollende Panzersäule des 11. Kavallerieregiments hatte erst 30 Kilometer zurückgelegt, als sie den Befehl zum Anhalten bekam; sie fuhr von der Autobahn ab und wartete. In Berlin selbst ging die Nachricht zuerst bei der amerikanischen Brigade ein, die sich zur Westhälfte des Kasernengeländes zurückzog. Die Russen sandten abgesessene Infanterie vor, die aber keinen Befehl zur Erneuerung des Angriffs hatte und nur wachsam in Stellung verharrte. Zum Erstaunen der Soldaten erschienen zahlreiche Polizeifahrzeuge. 20 Minuten nach dem Rückzug der Amerikaner wurde die Verbindung mit Moskau wiederhergestellt, und die Russen gingen zurück in ihre Verteidigungsstellungen. Es wurde eine Anzahl von Leichen gefunden, darunter die des Regimentskommandeurs, seines Stellvertreters und dreier Panzerbesatzungen, die seltsamerweise Einschüsse kleinkalibriger Geschosse aufwiesen. Die wichtigste Entdeckung aber machte ein Berliner Polizist, der als erster auf ein Kommandofahrzeug und einen Geländewagen stieß, die von 25-Millimeter-Feuer zerfetzt worden waren. Die »russischen« Insassen waren alle tot, trugen aber keine Erkennungsmarken. Der Polizist forderte sofort Hilfe an, die auf der Stelle losgeschickt wurde. Zwei Gesichter kamen dem Polizisten irgendwie bekannt vor.

 

»Jack.«

»Hallo, Arnie. Nehmen Sie Platz.«

»Was war los, Jack?«

Ryan schüttelte nur den Kopf. Ihm war schwindlig. Sein Verstand sagte ihm zwar, daß 60000 Menschen umgekommen waren, aber er hatte etwas hundertmal Schlimmeres verhindert und war darüber so erleichtert, daß er sich ein wenig berauscht fühlte. »Genau weiß ich das noch nicht, Arnie, aber über das Wichtigste sind Sie ja informiert.«

»Der Präsident klingt fürchterlich.«

Ryan grunzte. »Dann hätten Sie ihn mal vor zwei Stunden hören sollen. Der Mann drehte total durch.«

»War es so schlimm?«

Jack nickte. »Ja.« Dann machte er eine Pause. »Nun ja, vielleicht wäre das jedem so gegangen, vielleicht kann man von niemandem erwarten, daß er mit einer solchen Situation fertigwird, aber – aber das ist sein Job, Arnie.«

»Mir sagte er einmal, wie dankbar er Reagan und den anderen für die Veränderungen sei und wie froh, daß so etwas nun nicht mehr vorkommen könne.«

»Arnie, solange dieses Teufelszeug existiert, ist so etwas möglich.«

»Befürworten Sie totale Abrüstung?« fragte van Damm.

Ryan schaute wieder auf. Das Schwindelgefühl hatte sich gelegt. »Ich habe meine Illusionen schon vor langer Zeit verloren. Ich will nur sagen: Wenn so eine Situation möglich ist, muß man sich gedanklich damit befassen. Fowler hat das nie getan, hat sich nie die Protokolle unserer Kriegsspiele angesehen. Er war felsenfest davon überzeugt, daß so etwas nie passieren würde. Aber es geschah.«

»Wie hat sich Liz gehalten?«

»Fragen Sie mich nicht. Der Chef brauchte guten Rat, aber von ihr bekam er ihn nicht.«

»Und Sie?«

»Auf mich hörte er nicht, und das war zum Teil auch meine Schuld.«

»Beruhigen Sie sich. Es ist vorbei.«

Jack nickte wieder. »Ja.«

»Ryan, Telefon.«

Jack hob ab. »Hier Ryan. Ja, alles in Ordnung. Reden Sie langsamer.« Er lauschte mehrere Minuten lang und machte sich Notizen. »Vielen Dank, John.«

»Was war das?«

»Ein Geständnis. Steht der Hubschrauber bereit?«

»Auf dem Landeplatz auf der anderen Seite«, erwiderte ein Agent des Secret Service.

Ryan, van Damm und die drei Agenten bestiegen den VH-60 und schnallten sich an. Der Helikopter hob sofort ab. Es klarte auf. Zwar wehte noch ein kräftiger Wind, aber im Westen sah man Sterne.

»Wo ist der Vizepräsident?« fragte van Damm.

»Im NEACP«, antwortete ein Agent. »Er bleibt noch sechs Stunden in der Luft, bis wir sicher sein können, daß es auch wirklich vorbei ist.«

Das bekam Jack nicht mehr mit. Er hatte Ohrschützer aufgesetzt, sich zurückgelehnt und starrte nun ins Leere. Im Hubschrauber gab es sogar eine Bar, stellte er fest. Welch angenehme Art zu reisen.

 

»Sie wollten einen Atomkrieg auslösen?« fragte Chavez.

»Ja, das sagten sie.« Clark wusch sich die Hände. Zu schlimm war es nicht gewesen. Er hatte Kati nur vier Finger brechen und dann die gebrochenen Knochen noch etwas bearbeiten müssen. Bei Ghosn – er kannte nun seinen Namen – waren etwas drastischere Maßnahmen erforderlich gewesen, aber die Aussagen der beiden waren fast identisch.

»Ich hab’s auch gehört, aber –«

»Ganz schön ambitioniert, diese Schweine.« Clark füllte eine Plastiktüte mit Eisbeuteln, trug sie nach hinten und legte sie auf Katis Hand. Schließlich hatte er nun seine Informationen, und er war kein Sadist. Am besten wäre, sagte er sich, die Kerle jetzt einfach aus dem Flugzeug zu schmeißen, aber das ist nicht meine Aufgabe. Die beiden Terroristen waren mit Handschellen an ihre Sitze gefesselt. Clark setzte sich in die letzte Reihe, um sie im Auge behalten zu können. Hinten stand auch ihre Gepäck. Nun, da er Zeit hatte, beschloß er, es einmal zu durchsuchen.

 

»Hallo, Ryan«, sagte der Präsident von seinem Sessel. »Hi, Arnic.«

»Das war ein schlimmer Tag, Bob«, meinte van Damm.

»Allerdings.« Der Mann war gealtert. Ein Klischee, aber es stimmte. Seine Haut war fahl, dunkle Ringe umgaben seine Augen. Fowlers sonst immer sorgfältig gekämmtes Haar war zerzaust. »Ryan, haben Sie die Kerle?«

»Ja, Sir. Zwei unserer Agenten schnappten sie in Mexico City: Ismael Kati und Ibrahim Ghosn. Wer Kati ist, wissen Sie ja; ihn suchen wir schon seit Jahren. Er war an dem Bombenanschlag auf die Marines in Beirut beteiligt und hat alle möglichen anderen Aktionen inszeniert, darunter zwei Flugzeugentführungen und weitere Terroranschläge, vorwiegend in Israel. Ghosn gehört zu seiner Organisation und ist anscheinend Ingenieur. Irgendwie gelang es ihnen, die Bombe zu bauen.«

»Wer finanzierte das?« fragte der Präsident.

»Wir – das heißt, unsere Leute – mußten das mit Gewalt aus ihnen herausholen. Sir, das ist streng genommen illegal -«

Nun kam wieder Leben in Fowlers Augen. »Ich vergebe ihnen! Weiter!«

»Sir, sie sagten aus, die Operation sei von Ajatollah Mahmoud Hadschi Darjaei finanziert und unterstützt worden.«

»Iran.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Fowlers Augen begannen wieder zu glänzen.

»Korrekt. Wie Sie wissen, ist der Iran über den Ausgang des Golfkrieges nicht gerade begeistert. Unseren Agenten zufolge sagten die Terroristen folgendes aus:

Der Plan sah zwei Operationen vor, die Bombe in Denver und den Zwischenfall in Berlin. Beteiligt war auch Günther Bock, ehemals RAF, dessen Frau im vergangenen Jahr in Deutschland verhaftet wurde und sich später im Gefängnis erhängte. Die Absicht war, uns und die Russen in einen nuklearen Schlagabtausch zu treiben oder zumindest unsere Beziehungen so zu vergiften, daß die Golfregion wieder ins Chaos zurückverfiele. Angeblich glaubt Darjaei, dies sei den Interessen des Irans förderlich.«

»Wo hatten sie die Waffe her?«

»Sie behaupten, es sei eine israelische Bombe gewesen, die offenbar 1973 verlorenging. Wir müssen das noch mit den Israelis abklären, aber ich halte es für plausibel. Das Plutonium stammte aus der Anlage Savannah River, wo vor einigen Jahren eine große Menge spaltbaren Materials abhanden kam. Wir vermuteten schon immer, daß die erste Generation der israelischen Kernwaffen mit dem von dort beschafften Material hergestellt wurde.«

Fowler stand auf. »Sie sagen, daß dieser verfluchte Mullah dahintersteckte? Daß ihm hunderttausend tote Amerikaner nicht genügten? Daß er einen Atomkrieg vom Zaun brechen wollte?«

»So lauten unsere Informationen, Sir.«

»Wo ist der Kerl?«

»Mr. President, wir wissen allerhand über ihn. Er unterstützte mehrere terroristische Gruppen. Er war die lauteste islamische Stimme gegen das Vatikan-Abkommen, verlor aber viel an Prestige, als es Wirkung zu zeitigen begann, und das verbesserte nicht gerade seine Laune. Er lebt in Ghom im Iran. Seine Fraktion hat an Macht eingebüßt, und es gab bereits einen Anschlag auf ihn.«

»Halten Sie die Aussagen für plausibel?«

»Jawohl, Mr. President.«

»Glauben Sie, daß Darjaei zu so etwas fähig ist?«

»Unter Berücksichtigung seiner bisherigen Aktionen – ja.«

»Und er wohnt in Ghom?«

»Korrekt. Ghom ist ein Wallfahrtsziel der Schiiten mit über 100000 Einwohnern. Die exakte Zahl kenne ich nicht.«

»Und wo wohnt er genau?«

»Das ist das Problem. Seit er im letzten Jahr beinahe einem Attentat zum Opfer fiel, wechselt er täglich das Quartier. Allerdings bewegt er sich nur innerhalb eines bestimmten Stadtviertels. Eine genauere Position kann ich Ihnen nur mit einer Toleranz von plusminus einer Meile oder so geben.«

»Und er ist wirklich verantwortlich?«

»Unseren besten Daten zufolge sieht es so aus, Mr. President.«

»Aber Sie können ihn nicht punktgenau lokalisieren.«

»So ist es, Sir.«

Darüber dachte Fowler einige Sekunden lang nach, und als er wieder sprach, erstarrte Ryan das Blut in den Adern.

»Das ist genau genug.«

 

PRÄSIDENT NARMONOW:

WIR HABEN DIE TERRORISTEN FESTGENOMMEN UND DEN UMFANG DER OPERATION FESTGESTELLT...

»Kann das möglich sein?«

»Ich würde sagen, ja«, erwiderte Golowko. »Darjaei ist ein Fanatiker, der die Amerikaner abgrundtief haßt.«

»Diese Barbaren versuchten, uns ...«

»Überlassen Sie das den Amerikanern«, riet Golowko. »Sie sind diejenigen, die die schwersten Verluste erlitten haben.«

»Sie wissen, was Fowler vorhat?«

»Jawohl, Genosse Präsident, so gut wie Sie.«

 

PRÄSIDENT FOWLER:

BIS DIE BEWEISE UNTERSUCHT SIND, AKZEPTIERE ICH IHRE LETZTE NACHRICHT ALS DEN TATSACHEN ENTSPRECHEND. WIR WOLLEN MIT DIESER SACHE NICHTS ZU TUN HABEN. TUN SIE, WAS IMMER SIE FÜR NÖTIG HALTEN; WIR WERDEN WEDER JETZT NOCH IN DER ZUKUNFT EINWÄNDE ERHEBEN. DIESE WAHNSINNIGEN WOLLTEN UNS BEIDE ZERSTÖREN. ZUR HÖLLE MIT IHNEN.

»Mein Gott, Andruschka«, murmelte Ryan. Klarer konnte man sich nicht ausdrücken. Der Präsident las die Nachricht vom Schirm ab.

Bislang hatte Ryan den Eindruck gehabt, daß Narmonow seine Emotionen unter Kontrolle hatte, aber nun schien das Gegenteil der Fall zu sein. Fowler saß kerzengerade auf seinem Sessel und musterte ruhig den Raum.

»Daraus wird die Welt lernen«, erklärte der Präsident. »Ich werde dafür sorgen, daß so etwas nie wieder vorkommt.«

Ein Telefon ging. »Für Sie, Mr. President. Das FBI.«

»Ja?«

»Mr. President, hier Murray. Es ging gerade eine Blitzmeldung vom Bundeskriminalamt in Deutschland ein. In Berlin wurde die Leiche von Günther Bock aufgefunden. Er trug die Uniform eines Obersten des sowjetischen Heeres. Neun andere, darunter ein ehemaliger Oberst im Staatssicherheitsdienst, waren ähnlich gekleidet. Diesen Teil der Aussagen von Kati und Ghosn können wir also bestätigen.«

»Murray, halten Sie die Geständnisse für glaubwürdig?«

»Sir, im allgemeinen singen diese Kerle wie die Kanarienvögel, wenn wir sie geschnappt haben. Bei ihnen gibt es kein Schweigegebot wie bei der Mafia.«

»Vielen Dank, Mr. Murray.« Fowler hob den Kopf und schaute Ryan an. »Nun?«

»Sieht so aus, als hätten sie uns gute Informationen geliefert.«

»Na, da sind wir uns zur Abwechslung mal einig.« Fowler drückte auf den Knopf, der ihn mit dem SAC verband. »General Fremont?«

»Ja, Mr. President?«

»Wie rasch läßt sich eine Rakete auf ein neues Ziel umprogrammieren? Ich möchte eine Stadt im Iran angreifen.«

»Wie bitte?«

»Das lasse ich Dr. Ryan erklären.«

 

»Diese Schweine.« Fremont sprach allen Anwesenden aus dem Herzen.

»Jawohl, General. Ich beabsichtige, den Verantwortlichen auszuschalten, und zwar auf eine Weise, die kein Mensch je vergessen wird. Der Führer des Irans hat eine Kriegshandlung gegen die Vereinigten Staaten von Amerika begangen, und ich werde exakt im gleichen Maßstab antworten. Stellen Sie eine Rakete auf Ghom ein. Wie lange wird das dauern?«

»Mindestens zehn Minuten, Sir. Ich will mich bei meinem Operationsstab erkundigen.« Der CINC-SAC schaltete sein Mikrofon ab. »Mein Gott!«

»Pete«, sagte der stellvertretende Stabschef (Operationen), »der Mann hat recht. Dieser Dreckskerl hätte uns um ein Haar alle miteinander umgebracht – und die Russen dazu! Und nur für politischen Profit!«

»Die Sache gefällt mir trotzdem nicht.«

»Wie auch immer, wir müssen eine Rakete umprogrammieren. Ich schlage eine Minuteman-III von der Anlage Minot vor. Ihre drei Sprengköpfe sollten die Stadt dem Erdboden gleichmachen.«

Fremont nickte.

 

»Mr. President, das hat doch Zeit.«

»Nein, Ryan, ich kann nicht warten. Sie wissen ja, was sie getan haben, uns angetan haben. Das war eine Kriegshandlung –«

»Ein Terroranschlag, Sir.«

»Staatlich geförderter Terrorismus ist Krieg – das schrieben Sie vor sechs Jahren in einem Positionspapier!«

Jack hatte nicht gewußt, daß Fowler es gelesen hatte; nun wurde ihm zu seiner Überraschung sein eigenes Zitat unter die Nase gerieben. »Gewiß, Sir, das sagte ich, aber –«

»Dieser Geistliche hat Tausende von Amerikanern auf dem Gewissen und wollte uns und die Russen mit einer List dazu bringen, 200 Millionen zu töten! Und das wäre ihm beinahe gelungen.«

»Ja, Sir, richtig, aber –« Fowler gebot ihm mit erhobener Hand Einhalt und sprach in dem gelassenen Tonfall eines Mannes, der seine Entscheidung getroffen hat, weiter.

»Das war eine Kriegshandlung, die ich entsprechend beantworten werde. So habe ich entschieden. Ich bin der Präsident. Ich bin der Oberbefehlshaber. Ich bin derjenige, der die Sicherheit der Vereinigten Staaten zu wahren und in ihrem Interesse zu handeln hat. Welche Maßnahmen die Streitkräfte dieses Landes ergreifen, entscheide ich. Dieser Mann hat mit einer Atombombe Tausende unserer Bürger hingeschlachtet. Ich bin entschlossen, ihm das mit gleicher Münze heimzuzahlen. Laut Verfassung ist das mein Recht und meine Pflicht.«

»Mr. President«, sagte van Damm. »Das amerikanische Volk –«

Fowler brauste kurz auf. »Das amerikanische Volk wird fordern, daß ich handele! Aber das ist nicht der einzige Grund. Ich muß handeln. Ich muß auf diese Untat reagieren – um sicherzustellen, daß so etwas nie wieder vorkommt!«

»Bitte denken Sie das noch einmal durch, Sir.«

»Arnold, das habe ich.«

Ryan warf einen Blick hinüber zu Pete Connor und Helen D’Agustino. Die beiden verbargen ihre Gefühle bewundernswert geschickt. Der Rest der Anwesenden billigte Fowlers Absicht, und Ryan war klar, daß er mit dem Mann nicht argumentieren konnte. Er schaute auf die Uhr und fragte sich, was nun als nächstes bevorstand. »Mr. President, hier General Fremont.«

»Ja, General?«

»Sir, wir haben eine in Norddakota stationierte Minuteman-III auf das gewünschte Ziel umprogrammiert. Ich – Sir, haben Sie diese Entscheidung auch durchdacht?«

»General, ich bin Ihr Oberbefehlshaber. Ist die Rakete startbereit?«

»Sir, die Startsequenz wird nach Ihrem Befehl rund eine Minute in Anspruch nehmen.«

»Der Befehl ist hiermit erteilt.«

»Sir, so einfach ist das nicht. Sie müssen sich ausweisen. Über die Prozedur hat man Sie informiert.«

Fowler holte eine Plastikkarte aus seiner Brieftasche, auf der zehn achtstellige Zahlengruppen standen. Nur er wußte, welche er abzulesen hatte.

»Drei-drei-sechs-null-vier-zwei-null-neun.«

»Sir, ich bestätige Ihren Code. Nun, Mr. President, muß der Befehl bestätigt werden.«

»Was?«

»Sir, hier gilt die Zweimannregel. Im Fall eines eindeutigen Angriffs kann ich die Rolle des zweiten Mannes übernehmen, aber da dies nicht zutrifft, muß jemand, der auf meiner Liste steht, den Befehl bestätigen.«

»Ich habe meinen Stabschef hier.«

»Sir, laut Vorschrift stehen nur solche Personen auf der Liste, die entweder gewählt oder vom Senat bestätigt sind – Kabinettsmitglieder zum Beispiel.«

»Ich stehe auf der Liste«, sagte Jack.

»Ist das Jack Ryan, DDCI?«

»Korrekt, General.«

»Deputy Director Ryan, ich bin der CINC-SAC.« Fremont hatte einen roboterhaften Ton angeschlagen, eben jenen, in dem SAC-Befehle erteilt wurden. »Sir, ich habe den Befehl zum Nuklearabschuß erhalten. Sie müsen diesen Befehl bestätigen, aber erst muß ich Ihre Identität feststellen. Würden Sie bitte Ihren ID-Code ablesen?«

Ryanholte seine Karteheraus und sagte seinen ID-Code an. Er konnte Fremont oder einen seiner Leute in einem Buch blättern hören. »Sir, ich bestätige Ihre Identität als Dr. John Patrick Ryan, stellvertretender Direktor, CIA.«

Jack schaute Fowler an. Wenn ich nicht mitspiele, dachte er, sucht er sich einen anderen. So einfach war das. Und war Fowler überhaupt im Irrtum?

»Die Entscheidung liegt bei mir, Jack«, sagte Fowler, der neben Ryan getreten war und ihm nun die Hand auf die Schulter legte. »Sie brauchen sie nur zu bestätigen.«

»Dr. Ryan, hier CINC-SAC. Ich wiederhole, Sir: Es liegt der Befehl des Präsidenten vor, eine nukleare Interkontinentalrakete zu starten. Dies bedarf Ihrer Bestätigung, Sir.«

Ryan schaute seinen Präsidenten an und beugte sich dann über das Mikrofon, rang um Atem. »CINC-SAC, hier John Patrick Ryan. Ich bin der DDCI.« Jack machte eine Pause und fuhr dann rasch fort: »Sir, ich bestätige diesen Befehl nicht. Ich wiederhole, General, dies ist kein gültiger Startbefehl. Bitte sofort bestätigen!«

»Sir, ich bestätige: Abschußgenehmigung verweigert.«

»Korrekt«, sagte Jack, dessen Stimme nun fester wurde. »General, es ist meine Pflicht, Ihnen mitzuteilen, daß der Präsident meiner Auffassung nach nicht, ich wiederhole: nicht Herr seiner Sinne ist. Bitte berücksichtigen Sie das im Fall eines weiteren Abschußbefehls.« Jack legte die Hände auf den Tisch, holte tief Atem und setzte sich kerzengerade auf.

Fowler reagierte nicht sofort, aber dann ging er so dicht an Ryan heran, daß er fast sein Gesicht berührte. »Ryan, ich befehle Ihnen –«

Jack explodierte ein letztes Mal. »Was befehlen Sie? 100000 Menschen zu töten? Und warum?«

»Was die versucht haben –«

»Was Sie beinahe ermöglicht hätten!« Ryan tippte dem Präsidenten mit dem Zeigefinger an die Brust. »Sie haben Mist gebaut! Sie haben uns an den Rand des Abgrunds geführt. Und nun wollen Sie eine ganze Stadt abschlachten, weil Sie wütend sind, in Ihrem Stolz verletzt und es ihnen heimzahlen wollen. Sie wollen beweisen, daß Sie sich von niemandem rumschubsen lassen! Das ist doch der wahre Grund, nicht wahr? NICHT WAHR?« Fowler wurde weiß. Ryan senkte die Stimme. »Zum Töten braucht man einen triftigeren Grund. Ich weiß das, ich mußte das tun. Ich habe Menschen getötet. Wir können diesen Mann liquidieren, wenn Sie das wollen, aber ich trage nicht dazu bei, 100000 andere zu töten, nur um diesen einen Mann auszuschalten.«

Ryan trat zurück, warf seinen Dienstausweis auf den Tisch und verließ den Raum.

 

»Jesus!« stieß Chuck Timmons hervor, der wie alle in der SAC-Zentrale den Wortwechsel übers Mikrophon mitgehört hatte.

»Ja«, meinte Fremont. »Danken Sie ihm. Aber erst deaktivieren Sie diese Rakete!« Der Oberbefehlshaber des strategischen Luftkommandos mußte einen Augenblick nachdenken. Ob der Kongreß gerade tagte, wußte er nicht, aber das war nun nebensächlich. Er wies seinen Kommunikationsoffizier an, die Vorsitzenden der Verteidigungsausschüsse von Senat und Repräsentantenhaus und ihre Stellvertreter – letztere grundsätzlich als Mitglieder der Opposition – anzurufen. Wenn alle vier an der Leitung waren, wollte er eine Konferenzschaltung mit dem Vizepräsidenten herstellen lassen, der noch an Bord des NEACP war.

»Jack?« Ryan drehte sich um.

»Ja, Arnie?«

»Warum?«

»Jetzt wissen wir, warum wir die Zweimannregel haben. In dieser Stadt leben 100000 Menschen – wahrscheinlich noch mehr; ich weiß nicht, wie groß sie genau ist.« Jack schaute zum kalten klaren Himmel. »Das konnte ich nicht auf mein Gewissen laden. Wenn wir Darjaei ausschalten wollen, gibt es andere Mittel und Wege.« Ryan blies Rauch in den Wind.

»Sie haben richtig gehandelt. Das wollte ich Ihnen nur sagen.«

Jack drehte sich um. »Danke, Sir. – Ach ja, und wo ist Liz?«

»Im Blockhaus des Präsidenten. Sie hat ein Beruhigungsmittel bekommen. Tja, die hat’s wohl nicht gebracht, was?«

»Arnie, heute haben alle versagt und hauptsächlich Glück gehabt. Sie können dem Präsidenten ausrichten, daß ich zurücktrete, und zwar – am Freitag, ach was, kommt ja nicht drauf an. Die Entscheidung über meinen Nachfolger muß jemand anderes treffen.«

Der Stabschef des Präsidenten schwieg kurz und kam dann auf das zentrale Thema zurück. »Ihnen ist wohl klar, was Sie da gerade ausgelöst haben.«

»Eine Verfassungskrise?« Jack schnippte seinen Stummel in den Schnee. »Das wäre nicht meine erste, Arnie. So, und jetzt muß ich mit dem Hubschrauber nach Andrews.«

»Ich gebe die entsprechenden Anweisungen.«

 

Sie hatten gerade die amerikanische Grenze überflogen, als John Clark etwas einfiel. Kati hatte Medikamente im Koffer gehabt, Prednison und Compasin. Prednison war ein Kortisonpräparat, das oft zur Linderung von Nebenwirkungen verabreicht wurde – er stand auf und schaute sich Kati an. Dessen Augen waren zwar noch verbunden, aber es war doch zu erkennen, daß er anders aussah als auf seinen neuesten Bildern. Er war abgemagert, sein Haar war. Der Mann hat Krebs, dachte Clark. Was bedeutete das? Er ging ans Funkgerät und gab diese Information durch.

 

Die Gulfstream landete mit einigen Minuten Verspätung. Ryan, der auf einer Couch im VIP-Raum am Südrand des Luftstützpunktes Andrews lag, wurde geweckt. Murray saß neben ihm und war noch wach. Drei FBI-Fahrzeuge standen bereit. Clark, Chavez, Kati und Ghosn stiegen ein, und dann rollten die Allradfahrzeuge nach Washington.

»Was fangen wir mit den Kerlen an?« fragte Murray.

»Ich habe schon eine Idee, aber erst steht etwas anderes an.«

»Und was genau?«

»Haben Sie im Hoover Building ein Vernehmungszimmer?«

»Nein, aber in Buzzard’s Point, das ist die Außenstelle Washington«, sagte Murray. »Hat Ihr Mann die Festgenommenen über ihre Rechte informiert?«

»Ja, das habe ich ihm eingeschärft.« Ryan hörte ein lautes Geräusch. NEACP landete gerade auf dem Runway 01, von dem er vor zehn Stunden gestartet war. Die strategischen Systeme mußten rascher als erwartet abgeschaltet worden sein.

 

Die Admiral Lunin tauchte zwischen den von der P-3 abgeworfenen Leucht-und Nebelbojen auf. Rettungsschiffe konnten die Stelle wegen der großen Entfernung und des schlechten Wetters nicht erreichen. Die See ging noch immer hoch, und die Sicht war schlecht, aber da Dubinins Boot das einzige Schiff in der Umgebung war, begann er mit der Rettungsaktion.

 

Das Vernehmungszimmer war neun Quadratmeter groß und enthielt einen billigen Tisch und fünf ebenso billige Stühle. Einen Spionspiegel gab es nicht; dieser Trick war viel zu alt. Statt dessen waren zwei versteckte Überwachungskameras eingebaut – eine in einem Lichtschalter, die andere spähte durch ein Loch im Türrahmen. Die beiden Terroristen, die recht angeschlagen aussahen, wurden plaziert. Daß ihre Finger gebrochen waren, verstieß gegen das Berufsethos des FBI, doch Murray beschloß, darüber hinwegzusehen. Clark und Chavez gingen Kaffee holen.

»Wie Sie sehen, hatten Sie keinen Erfolg«, sagte Ryan zu den beiden. »Washington steht noch.«

»Und Denver?« fragte Ghosn. »Das steht nicht mehr.«

»Gewiß, dort ist Ihnen etwas gelungen, aber die Schuldigen mußten bereits büßen.«

»Was meinen Sie damit?« fragte Kati.

»Damit meine ich, daß Ghom nicht mehr existiert. Ihr Freund Darjaci beichtet nun Allah seine Sünden.«

Sie sind einfach übermüdet, dachte Ryan. Die Erschöpfung hatte Kati mehr mitgenommen als der dumpfe Schmerz in seiner Hand, und seine Miene verriet kein Entsetzen. Dann aber machte er einen schwerwiegenden Fehler.

»Damit haben Sie sich den ganzen Islam zum Feind und alle Ihre Friedensbemühungen in der Region zunichte gemacht!«

»War das Ihre Absicht?« fragte Ryan vollkommen überrascht. »Das wollten Sie erreichen? Mein Gott!«

»Ihr Gott?« fauchte Kati.

»Und was ist aus Marvin Russell geworden?« fragte Murray.

»Den haben wir getötet. Er war nur ein Ungläubiger«, erwiderte Kati.

Murray schaute Ghosn an. »Stimmt das? War er nicht Gast in Ihrem Lager?«

»Ja, ein paar Monate. Der Narr war unentbehrlich.«

»Und Sie ermordeten ihn.«

»Ja, und 200 000 andere.«

»Steht nicht im Koran: ›Betritt ein Mann dein Zelt und ißt von deinem Salz, so sollst du ihm Schutz gewähren, auch wenn er ein Ungläubiger ist‹?«

»Falsch zitiert. Und was kümmert Sie schon der Koran?«

»Sie werden sich noch wundern.«