Kurz nach Mitternacht wachte Lichthaus auf. Im Haus war es dunkel, nur von der Straße her drang der schwache Schein einer Straßenlaterne bis zu ihm vor. Er hatte sich ein wenig erholt, doch ein Traum, der ihn wieder in die eisige Wanne gebracht hatte, ließ ihn aufschrecken. Herzrasen. Sein Atem ging rasselnd, und er war verschwitzt. Mühsam wälzte er sich auf den Rücken und stöhnte. Wenn das so weiterging, würde er zum Polizeipsychologen müssen. Nur wegen dieses Schweins von Schweiger. Er döste weg, doch zwischen Schlafen und Wachen huschte ein Gedanke durch sein Unterbewusstsein, den er nicht festhalten konnte, der aber wichtig war. Er setzte sich auf und stierte in die Dunkelheit, hoffend, dass dieser noch einmal zurückkäme. Vergebens. Beunruhigt stand er auf und machte Licht. Noch während sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnten, rief er im Präsidium an, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen.
Marx war tatsächlich noch da. Als Einziger, schließlich war jetzt das LKA am Drücker, und sie waren alle müde. Warum er noch da war, darüber sprach er nicht. Stattdessen hatte er noch eine Frage: »Sie haben doch dem LKA gesagt, Schweiger plane eine neue Entführung. Glauben Sie, dass er das jetzt noch umsetzt? Raabe hat einen internationalen Haftbefehl rausgeschickt, glaubt aber nicht an neue Opfer.«
Lichthaus rieb sich die Augen. »Nun, Schweiger ist mit dem Camper weg. Er kann versuchen, einfach nur auf einem Campingplatz in Frankreich, Spanien oder was weiß ich wo unterzukriechen und sich ruhig zu verhalten. Aber«, er zögerte einen Moment, »er war so besessen von seinem Vorhaben, ich denke, der wird das auf alle Fälle durchziehen.«
Eine Pause trat ein, aber sie war nicht von Spannung erfüllt. Zwischen ihnen herrschte Waffenstillstand. Marx raschelte mit Papier. »Sie sagten, er sei schlecht auf Sophie Erdmann zu sprechen gewesen. Soll sie gewarnt werden?«
»Ja, ist das denn nicht geschehen?«
»Nein. Ich werde sie noch anrufen.«
»Ja, ich bitte darum. Und dann gehen Sie auch nach Hause. Es ist spät genug.«
»Das macht nichts. Nach mir kräht ohnehin kein Hahn.« Lichthaus sah sein schiefes Grinsen vor sich, während er den Hörer auflegte.
Langsam ging er hinauf ins Schlafzimmer. Nach mir kräht kein Hahn. Müde zog er sich den Pullover über den Kopf, als er mitten in der Bewegung innehielt. Noch ehe der Hahn dreimal kräht, hatte Schweiger gesagt und Sophie Erdmann gemeint.
Er rannte zurück ans Telefon und versuchte, Marx zu erreichen, doch der Apparat war bereits auf Abwesenheitsmodus umgestellt. Dann probierte er es bei Sophie Erdmann. Es läutete lange, bis ihre Stimme vertraut in sein Ohr drang. »Ich bin aktuell nicht zu sprechen, aber …«
Er schnitt dem Anrufbeantworter das Wort ab und lief los. Unten im Keller kramte er aus dem Waffenschrank einen Colt Magnum hervor, den er sich vor vielen Jahren in seiner Zeit als aktiver Sportschütze zugelegt hatte.
Er gab Gas, doch es dauerte eine gefühlte Unendlichkeit, bis er hinter Kürenz am ehemaligen Güterbahnhof vorbeifuhr und in die Bergstraße abbog. Er parkte den Wagen in einiger Entfernung zum Deimelberg, wo Sophie Erdmann wohnte, und schaltete den Motor ab. Von unterwegs hatte er wieder versucht, Marx zu erreichen, wieder ohne Erfolg. Nur der Mailbox hatte er seinen Verdacht mitteilen können. Die Bereitschaft hatte ihm versprochen, eine Streife vorbeizuschicken, aber auch das beruhigte ihn nicht. Er hatte die Fotos der Toten vor Augen, und die Vorstellung, Sophie Erdmann könnte dieser Gewalt ausgesetzt sein, schnürte ihm den Atem ab.
Er wollte die Tür öffnen – und war plötzlich wie gelähmt. Angst wallte durch seinen Körper wie ein Sturm aus heiterem Himmel. Er begann zu zittern. Schweiß brach ihm aus und alles war wieder da. Die Fratze Schweigers, die Panik angesichts des Todes, die Trauer wegen Claudia und der Kleinen. Ein Déjà-vu wie aus einem Horrorfilm. Nicht noch mal, schrie es in ihm. Fahr nach Hause. Los fahr.
»Nein!!!«, brüllte er aus vollem Hals, beugte sich vor und umklammerte das Lenkrad, versuchte, sich in den Griff zu bekommen, den rasenden Puls zu beruhigen. Und wirklich ließ das Zittern nach, die Atmung wurde langsamer, er sah wieder klar. Die Panikattacke war vorbei.
Lichthaus stieg aus und hielt den Revolver schussbereit an der Seite, atmete tief die kühle Nachtluft ein und schaute sich um. Niemand war zu sehen. Er überquerte die Fahrbahn und schlich im Schatten der Häuser die wenigen Meter hinauf zur Kreuzung, wo der Deimelberg begann. In einem Fenster sah er das unstete Flackern eines Fernsehers. Sonst war alles dunkel und ruhig. Sehr ruhig.
Oben an der Ecke duckte er sich hinter eine Gartenmauer und spähte in die Straße hinein. Ab hier bot sich ihm kein Schutz mehr, die Häuser verfügten durchweg über einen Vorgarten, der Straßenzug lag gut ausgeleuchtet vor ihm. Schweigers Camper war nirgends zu sehen.
Das Haus, in dem Sophie Erdmann wohnte, befand sich auf der linken Seite, vielleicht fünfzig Meter entfernt. Die Angst kam wieder und krampfte seinen Magen zusammen. Nach kurzem Zögern überwand er sich und ging möglichst unbeteiligt wirkend weiter. Etwas raschelte und er sah sich erschrocken um, konnte jedoch nichts entdecken. Dann wieder glaubte er, leise Schritte zu hören, aber ein Lufthauch zerrieb das Geräusch. Mit zum Zerreißen angespannten Nerven erreichte er den Hauseingang. Sie wohnte unter dem Dach. Kein Lichtschein war hinter den Fenstern zu sehen. Er suchte die Namensschilder ab und las, undeutlich mit einem Kugelschreiber auf ein Klebeetikett geschrieben: Erdmann. Er drückte den Knopf und wartete, doch nichts tat sich.
»Verdammt«, murrte er leise und rief die Bereitschaft an. Die Beamten waren vor etwa einer Viertelstunde patrouilliert und hatten nichts Auffälliges bemerkt. Entweder lag er völlig falsch, oder Schweiger hatte Sophie Erdmann bereits geschnappt. Sein Atem beschleunigte sich. Er rief ihr Handy an, aber auch dort meldete sich nur die Mailbox. Dann fiel ihm ein, vielleicht war sie ja mit Güttler unterwegs. Sofort ließ die Spannung ein wenig nach. Bestimmt war er überreizt nach diesem schrecklichen Tag und hatte Schweigers Bemerkung überinterpretiert, beruhigte er sich selbst. Missmutig kehrte er um und trottete hundemüde los.
Schweiger sprang ihn von rechts an. Wie ein Geist, so schien es Lichthaus, kam er aus einer dunklen Einfahrt herausgeflogen, der schwarze Mantel flatternd wie die Flügel von Batman und auch die vorgestreckten Hände erinnerten an den Comic-Helden. Lichthaus riss die Arme vor, um ihn abzuwehren, doch es war wieder zu spät. Sein Angreifer packte ihn am Hals und riss ihn um. Er ging zu Boden, der Revolver rutschte weg und kam nach wenigen Metern, für ihn jedoch so unerreichbar wie der Mars, zum Liegen. Die Hände an seinem Hals waren wie Schraubstöcke, und schnell wurde die Luft knapp.
»Du Sau, ich hätte dich heute Mittag wie einen räudigen Köter ersäufen sollen.« Speichel rann aus Schweigers verzerrtem Mund und tropfte Lichthaus ins Gesicht. Die Erkenntnis, dass Lichthaus überlebt hatte und nun hier war, wo er sein nächstes Opfer entführen wollte, und schlimmer, dass seine Tarnung aufgeflogen war, er von nun an auf der Flucht sein würde, schien ihn außer sich zu bringen. Alle Überheblichkeit war weg und hatte einer schäumenden Wut Platz gemacht.
Lichthaus wehrte sich. Er ließ seine Faust in Schweigers Nieren krachen und konnte kurz Luft holen, als dieser sich vom Schmerz getrieben aufbäumte. Aber noch war er dem Würgegriff nicht entkommen. Seine Hand suchte Schweigers Gesicht, er drückte ihm seine Finger in die Augen. Der eiserne Griff löste sich erneut, und er atmete tief durch, doch auch jetzt gelang es ihm nicht, sich endgültig von Schweiger zu befreien. Er packte seine Wangen und zerquetschte die Haut, spürte Blut zwischen den Fingern, hörte Schweiger aufstöhnen, doch dann ließen seine Kräfte nach. Verzweifelt rang er nach Luft. Das Rauschen in seinem Kopf wuchs zu einem Sturm an. Er glitt weg, der Ohnmacht entgegen, als plötzlich die Hände von seinem Hals gerissen wurden. Luft strömte in seine Lungen und er kam wieder zur Besinnung, verfolgte das Geschehen. Schweiger war aufgesprungen und taumelte, sich die Schulter haltend, zurück in die Lücke zwischen den Häusern, aus der er herausgesprungen war.
»Bist du in Ordnung?« Marx kniete sich neben ihn. Die Magnum in der Hand, sicherte er die Einfahrt.
Lichthaus konnte nicht antworten, sein Hals war wie Sandpapier.
Plötzlich flammten Scheinwerfer auf und rasten aus der Dunkelheit auf sie zu. Marx riss ihn hoch, und beide landeten in einem Blumenbeet, als der Camper dicht an ihnen vorbeizischte.
»Auf!«, brüllte Marx und zog ihn in den Dienstwagen, der mit laufendem Motor die Straße in die eine Richtung versperrte.
Irgendwie kam Lichthaus auf den Beifahrersitz, und schon jagte Marx los. Aus seinen Augen sprühte eine Energie, die Lichthaus noch nie an ihm beobachtet hatte. Schweiger war links abgebogen, sie hatten gesehen, wie er nach wenigen Metern nach rechts die Kurfürstenstraße entlanggefahren war. Sie folgten ihm mit Blaulicht und Martinshorn und sichteten den Camper, als er links den Berg hinauffuhr. Lichthaus fing sich und schrie eine Fahndung ins Funkgerät.
»Danke.« Lichthaus schaute hinüber.
»Da haben Sie …«
»Bleib beim Du.«
»Da hast du Glück gehabt. Ich bin nur vorbeigekommen, weil ich Frau Erdmann nicht erreicht habe.«
»Fast hätte er mich doch noch gekriegt. Ich hatte keine Chance.«
»Ich habe ihn an der Schulter erwischt, wollte ihm eigentlich in den Kopf schießen, aber das Ding verreißt ja wie verrückt.« Er nahm sich die Zeit zu grinsen.
Oben am Amphitheater, Triers römischer Arena, ging es steil den Berg hinab. Der BMW setzte krachend auf, als sie um die Kurve flogen, doch sie hatten aufgeholt. Schweiger war fast an der Einmündung einer Querstraße angekommen, als der schwere Campingaufsatz ins Schlingern geriet, und der Toyota statt abzubiegen auf der anderen Straßenseite in ein Gehölz schoss und hinter schwankenden Ästen aus ihrem Blickfeld verschwand. Marx brachte den BMW mit quietschenden Reifen zum Stehen.
Dort wo der Camper abgetaucht war, führte ein Fußweg über Holzstufen in eine Kleingartenkolonie. Das Geräusch des Motors war erstorben, und sie schlichen, sobald sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, mit vorgehaltenen Waffen vorsichtig los. Der Wagen hatte die Stufen herausgerissen und den roh gezimmerten Handlauf zerstört, war aber durchgekommen. Die zerrissenen Büsche wippten noch leicht. Dann entdeckten sie ihn.
Der Camper lag schwer beschädigt schräg auf der Seite und wurde nur durch zwei dünne Weiden daran gehindert, in einen Bach zu kippen, den man von Lichthaus’ Standpunkt nicht sehen, aber hören konnte. Offensichtlich war Schweiger hier unten gegen die steinerne Brücke gekracht und der Wagen dann in die Böschung geschleudert. Eine einzelne Birne baumelte von einem Draht, der quer über den Fußweg hing, und beleuchtete die Szene. Ein Fluchen drang zu ihnen herüber. Schweiger saß hinter dem Lenkrad und hantierte im Fußraum. Schweiß glänzte auf seiner Stirn und ein dunkler Fleck zeigte, wo die Kugel ihn verletzt hatte. Plötzlich bemerkte er sie und schoss blindlings in ihre Richtung.
»Ihr miesen Kröten. Ihr kriegt mich nicht, ich liefere mich doch nicht solch niederen Knechten aus.«
Wieder schoss er, aber die beiden waren längst hinter der geborstenen Mauer in Deckung gegangen. Anschließend beugte er sich wieder in den Fußraum hinunter. Lichthaus wusste nicht, was dort vor sich ging, und auch Marx zuckte nur verständnislos die Schultern. Er wollte auf Verstärkung warten. Schweiger schien völlig durchzudrehen, und sie sollten nichts mehr riskieren.
»Wo bleibt ihr denn? Feiglinge. Seid ihr nicht Manns genug, es mit einem verletzten Ritter aufzunehmen? Wie die Weiber versteckt ihr euch. Ihr wisst wohl, dass mich niemand besiegt.«
Plötzlich gab es unter dem Wagen eine kleine Verpuffung und eine Flamme flackerte hervor, die sich schnell ausbreitete. Auch Schweiger sah den Lichtschein und spähte aus dem Fenster. Dann wurde er hektisch. Er drosch auf das Lenkrad ein, dann hielt er sich daran fest und zerrte mit aller Kraft daran. Die Flammen fraßen sich unterdessen weiter. Rauch drang in die Fahrgastzelle.
Schweiger schrie auf. »Holt mich hier raus!« Er warf die Pistole aus dem Fenster. »Ich habe keine Waffe mehr und bin eingeklemmt. Hört ihr! Ihr müsst mich hier rausholen, ich krepiere sonst.«
Die Flammen züngelten weiter. Qualm stieg auf, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der Tank erreicht sein und der Wagen lichterloh brennen würde. Lichthaus verließ schwer atmend seine Deckung und ging hinüber. Marx folgte ihm. Sie blieben einige Meter entfernt stehen und schauten wortlos hinüber.
»Na endlich. Kommt her und helft mir. Ich ergebe mich.«
Lichthaus tat einen Schritt, doch dann hielt etwas ihn zurück. Marx schien es ähnlich zu gehen. Er rührte sich nicht. Schweiger starrte sie an. Lange Sekunden, dann begriff er. Seine blutunterlaufenen Augen weiteten sich.
»Es ist eure Pflicht. Das wisst ihr doch. Los!«
Lichthaus wusste, es war an ihm zu helfen, doch jeder neue Impuls, eine Bewegung zu tun, wurde von einem Bild überblendet.
Stefanie Cordes, die tote Eva, die gebrochene Marianne Schneider, der Rest, den das Schicksal von Evas Vater übrig gelassen hatte, ein verbrannter Penner, dieser arme Teufel, Karla Springer im Straßengraben, kahl rasiert und geschändet, ihre verzweifelte Freundin, die Fotos und Trophäen auf dem Bett und dann die Wanne und das Wasser, das kalte Wasser, die Hände an seinem Hals, der immer noch schmerzte. Er schüttelte den Kopf, und Schweiger fing an zu schreien. Er beschimpfte sie mit allem, was die deutsche Sprache hergab, schließlich schrie er um Hilfe. Aber es war niemand sonst da. Er starrte sie an, erst wütend, dann voller Angst, am Ende mit Todesgewissheit in den Augen. Panik.
Und schließlich umtanzten ihn die Flammen. Er schrie vor Angst, dann Entsetzen und rasenden Schmerzen. Schrill und grausam, eigentlich unerträglich für menschliche Ohren. Töne, die du kennst, du Schwein, brüllte es in Lichthaus. Er würde es niemals zugeben, doch er genoss es. Tief in seinem Inneren verspürte er nur Gerechtigkeit in ihrer reinsten Form. Es schien ihm, als tanzten flammende Frauengestalten um ihren Peiniger herum. Lachende und jubelnde Opfer.
Schweiger durchlebte seine Vorhölle. Irgendwann hörten seine Schreie auf. Waren die Stimmbänder verkohlt? Marx ging zum Wagen, um den Feuerlöscher zu suchen, doch Lichthaus blieb. Er sah, wie die in der Hitze schrumpfenden Sehnen Schweigers Gelenke ein letztes Mal in Bewegung setzten, dann war da nur noch ein Schatten.
Tot. Der letzte Punkt in der Geschichte war gesetzt.
*
Das Handy riss ihn unsanft aus dem Schlaf. Er fuhr zusammen und stieß sich das Knie am Lenkrad, um irritiert in die Sonne zu blinzeln. »Ja«, stöhnte er.
»Hauptkommissar Lichthaus?«
»Ja?« Er war vorsichtig, denn er wollte nicht der Presse auf den Leim gehen, die angesichts des Falls verrücktspielte. »Mit wem spreche ich?«
»Mein Name ist Eisele. Ich bin bei der Sitte in Düsseldorf und würde mich gerne bei Ihnen bedanken.«
»Aha. Und wofür?«
»Na, für den Tipp mit diesem Rosner.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.« Nur langsam kam er auf Touren, ließ die Schlaftrunkenheit hinter sich.
»Sie haben uns doch diesen Rosner weitergegeben, den Sie in einer anderen Sache vernommen hatten.« Plötzlich klingelte es.
»Ja, jetzt weiß ich. Viktor Rosner. Auf Bewährung in Düsseldorf unterwegs gewesen. Was ist mit ihm?«
»Wir haben ihn durch den Wolf gedreht. Dreimal, auf feinster Stufe. Er hat gestanden, als wir ihm ein Zeugenprogramm in Aussicht gestellt haben.«
»Ihr lasst den doch nicht laufen?«
»Nee, nee. Für diese Typen gibt es kein Pardon. Wissen Sie, was die gemacht haben? Die haben ein Rodeo im Internet versteigert. Nur Eingeweihte haben das verstanden. Die am meisten geboten haben, durften neue illegale Prostituierte zureiten, die man zum Anschaffen zwingen wollte. Das hieß, vergewaltigen und verprügeln, bis die spuren. Rosner war mit von der Partie. Zwei Thailänderinnen haben ihn identifiziert.«
»Sehr gut.«
»Das wollte ich Ihnen nur noch sagen. Also vielen Dank. Wenn Sie mal in Düsseldorf zu tun haben, klingeln Sie kurz durch.«
Noch eine Weile nach Ende des Gesprächs schaute Lichthaus gedankenverloren auf den Parkplatz und schüttelte den Kopf über so viel Perfidie. Die Szene vor ihm passte jedoch so gar nicht zu dem, was er soeben gehört hatte. Familien mit kleinen Kindern, ältere Ehepaare mit Wohnmobil oder Limousinen und mittendrin er im Berlingo machten Pause auf diesem schmucken Rastplatz hinter Antwerpen, schon in Holland, wo sich die Autobahn gabelte. Rechts nach Rotterdam, links nach Walcheren. Nur noch eine Stunde bis Domburg und zu Claudia und der Kleinen, wenn er die Abkürzung direkt durch Middelburg nehmen würde. Heute Nacht hatte er es nicht mehr geschafft. War im Sekundenschlaf beinahe in den Graben gefahren und hatte angehalten.
Jetzt freute er sich auf seine kleine Familie. Doch beim Fahren kam die Erinnerung an den Vorabend zurück. Die Kollegen vom LKA waren schnell an der Unfallstelle gewesen und hatten sie vernommen. Marx und er sagten übereinstimmend aus, es sei zu riskant gewesen, sich dem brennenden Auto zu nähern. Man hatte die Aussagen kommentarlos aufgenommen, froh, den Täter zu haben. Noch dazu tot, den Verwandten der Opfer würde einiges erspart bleiben.
Sophie Erdmann war tatsächlich bei Güttler gewesen. Die beiden kamen, verlegen lächelnd, ins Präsidium, doch Lichthaus hatte ihnen schnell klargemacht, dass sie keinen besseren Moment hätten finden können, um sich zu treffen. Am nächsten Morgen dann die Pressekonferenz, eine kurze Feier mit den Kollegen. Und endlich, endlich hatte er aufbrechen können in einen kleinen Urlaub. Er hatte Müller nicht einmal um Erlaubnis gebeten, hatte ihn nur in Kenntnis gesetzt, kein weiteres Wort mit ihm gesprochen und würde auch in Zukunft so verfahren. Nur das Nötigste.
In Oostkapelle hielt er an und stieg auf die Dünen. Vor ihm breitete sich das Meer aus. Eine blaue Unendlichkeit, die den Menschen so klein machte. Unten spielten Kinder im Sand, Surfer fielen von ihren Brettern, und weiter hinten kamen zwei Reiter. Er setzte sich und genoss den Frieden und die Ruhe. Erst eine Stunde später fuhr er weiter nach Domburg. Ruhig und voller Freude auf seine kleine, aber heile Welt.
ENDE