Der Präsident, Cornelia Otten und Alexander Rech, der Kollege, der die interne Untersuchung leitete, schauten Lichthaus betroffen an. Sie hörten gerade die Audioprotokolle ab und erlebten Scherers Sterben. Wieder zog die Nacht an ihm vorbei, und die Erinnerung lastete schwer auf ihm, doch er hatte eine harte, unbewegliche Miene aufgesetzt, denn er wurde beobachtet. Auf der kurzen Seite des langen Tischs saß Müller. Er hatte ihn nur frostig begrüßt und kaum eines Blickes gewürdigt. Der Präsident hingegen war freundlich auf ihn zugekommen und hatte gefragt, wie er sich fühle. Aber Lichthaus blieb misstrauisch. Der Präsident stand nicht gerade im Ruf, besonders besorgt um die Belange seiner Mitarbeiter zu sein. Es sei denn, er profitierte persönlich davon. Irgendetwas war hier im Busch.
Als das Abspielgerät vernehmlich knackend stoppte, herrschte betretenes Schweigen im Raum, doch es war klar geworden, dass er den Einsatz lehrbuchmäßig geleitet hatte und Scherer angewiesen hatte, auf die Kollegen zu warten. Dass der dies nicht getan hatte, war nicht seinem Vorgesetzten anzukreiden.
»Wo war der zweite Mann?« Rech blätterte in den Unterlagen. »Marx?«
»Seiner Auskunft nach auf der Toilette.«
»Und die anderen Kollegen?«
»Wir hatten ein – wenn Sie so wollen – Rotationsprinzip. Die Teams deckten beim Observieren rasterartig den Festplatz ab. In dem Augenblick, als der Mörder auftauchte, befanden sie sich exakt an den entgegengesetzten Enden des beobachteten Bereichs. Die Mitte war vakant.«
»Wieso?«
»Hierzu wäre ein zusätzliches Team vonnöten gewesen. Aber in dieser Situation hätte auch das nicht geholfen, der Wohnwagen stand ja genau im Zentrum, und ich bin sofort los.«
»Das Einsatzteam war damit führungslos.«
»Es gab nichts mehr zu führen. Der Einsatz war geplatzt und Scherer verletzt. Sie haben ja gerade gehört, dass ich die Kollegen zusammengezogen habe. Und ich war ja weiter über Funk mit ihnen verbunden.«
»Hmh.« Rech war wenig überzeugt. »Wieso haben Sie geschossen?«
Sophie Erdmann hielt er aus der Sache heraus. »Er war zu sehen. Das Schwert in den Himmel gehoben stand er da und brüllte: Gral Gral.«
»Und das hat Ihnen gereicht um zu schießen? Sie konnten ihn nicht eindeutig identifizieren. Sie hätten ebenso gut einen Unbeteiligten treffen können. Das war nicht sauber.«
»Ich habe mich auch nicht sauber gefühlt. Ich hatte gerade einen Kollegen verloren, ihn aus einem Fluss gezogen und sinnloserweise beatmet. Als der Kerl da oben seinen Triumph herausgeschrien hat, wollte ich die Gelegenheit nutzen.«
»Es sieht eher so aus, als ob Sie Ihre Niederlage nicht akzeptieren wollten.«
Lichthaus beobachtete Rech. Er stellte nur fest, wirkte sonst aber neutral. Das Schlimmste aber war Müllers Gesicht. Als er das Lächeln darin sah, kochte Wut in ihm hoch.
»Nun«, griff Cornelia Otten schnell ein. Hatte sie gemerkt, dass er kurz davor stand zu explodieren? »Da niemand zu Schaden gekommen ist, außer vielleicht einige Bäume«, sie grinste und entkrampfte die Situation, »sehe ich aus Perspektive der Staatsanwaltschaft im Augenblick keinen Tatbestand, der zu weiteren Ermittlungen Anlass geben könnte.«
»Ich schließe mich Ihnen da an«, stimmte Rech zu.
»Dann können wir also die Suspendierung aufheben.« Der Präsident meldete sich zu Wort. »Die Presse sitzt uns im Nacken. Die suchen nach Fehlern.« Daher wehte also der Wind. Eine Wende um 180 Grad. Er wollte nach außen glänzen. Lichthaus entspannte sich langsam. Er hatte wohl nichts mehr zu befürchten.
»Wir werden sehen. Wie dachten Sie über den Einsatz?« Rech wandte sich an Müller.
»Ich war nicht vollständig überzeugt, dass hier der richtige Weg beschritten wurde, doch ich habe den Vorgang natürlich unterstützt.«
»Wieso waren so wenige Einsatzkräfte dabei? Um das Terrain zu überwachen und den eventuell Flüchtenden abzufangen, war die Gruppe definitiv zu klein.«
»Ich bin da Ihrer Meinung«, schaltete sich Lichthaus ein und merkte, wie alle außer Rech erstarrten. »Es waren zu wenige Leute für eine großflächige Überwachung.« Lichthaus schaute Müller an und sah Nervosität in seinen Augen. Die Luft knisterte, und er hatte große Lust, das Schwein zu grillen. »Wir haben aber nach anfänglicher Diskussion eine andere Strategie beschlossen, die mit einem geringeren Aufwand realisiert werden konnte. Der Rote Ritter kam immer zu den Schwertkämpfern. Die Zweiergruppen sollten sein Eintreffen beobachten und sich um den Kampfplatz postieren. Wenn er dann zum Duell angetreten wäre, hätten wir ihn mit zehn Beamten sicher stellen können.« Er blickte angewidert zu Müller hinüber.
Der entspannte sich und nickte bestätigend. Cornelia Otten schwieg dazu, obwohl sie es besser wusste, aber die Fronten aufzuweichen, schien jetzt wichtiger, als Recht zu behalten.
Rech begann nun, die Einsatzpläne zu diskutieren, während Lichthaus und Müller sich über den Tisch hinweg anfunkelten. Gegen fünf Uhr am Nachmittag kamen ihre Beratungen zu einem Ende. Lichthaus’ Suspendierung sollte auf Empfehlung Rechs aufgehoben werden. Rech würde die zuständigen Gremien informieren und einen entsprechenden Beschluss herbeiführen. Er rechnete damit, dass Lichthaus in ein bis zwei Tagen wieder im Dienst sein könne. Der Präsident war erleichtert.
Als sie den Konferenzraum verließen, drehte Lichthaus Müller demonstrativ den Rücken zu und vermied es, ihn zu verabschieden. Er war mit dem Kerl fertig. Sein Magen brannte vor unterdrückter Wut, denn kaum etwas in seinem Leben war ihm schwerer gefallen, als Müller den Hals zu retten, nur um einen ernsthaften Konflikt mit dem Präsidenten zu vermeiden. Sein einziges Ziel war es, schnell wieder in den Dienst zu kommen, um den Mörder zu jagen. Doch, dass Müller versucht hatte, ihn zum Sündenbock zu machen, blieb eine offene Rechnung. Er würde diesem Schwein die letzten Jahre so schwer wie möglich machen.
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