Für Hauptkommissar Rüdiger Hansen endete der Urlaub eine Stunde später. Und seine Karriere auch. Er hatte den Grill angeworfen und sich am Ende dieses sonnigen Tages ein Bier genehmigt, als das Handy klingelte. Einen Augenblick zögerte er, dann schlenderte er in den Wohnwagen und setzte sich auf das Bett, in dem er gestern Abend seit langem wieder einmal mit Sabine geschlafen hatte. Sie hatten die Spannungen, die ihnen vor dem Urlaub zu schaffen gemacht hatten, endlich hinter sich gelassen, und Sabine hatte sogar von Kindern gesprochen. Er lächelte der Erinnerung hinterher und nahm das Gespräch an.
»Ja, hier Hansen.«
Für einige Minuten waren das seine letzten Worte. Er hatte Funk schon häufiger wütend erlebt, aber gegen das, was nun auf ihn herabprasselte, war das alles nur ein freundlicher Anpfiff gewesen. Der Chef brüllte nicht einmal, sondern setzte ihn so schneidend kalt in Kenntnis über die Vorkommnisse und sein Versagen, dass ihm übel wurde. Als er endlich fertig war, taumelte er hinaus. Blass wie der Tod. Sabine kam ihm entgegen. Sie trug ihren knappen Bikini, der ihre tadellose Figur mehr als unterstrich. Noch vor zehn Minuten hätte ihn das auf Gedanken gebracht, doch nun ging er glasig blickend an ihr vorbei.
»Rüdiger, was ist los?«
»Pack zusammen, wir müssen sofort heim. Funk hat mich gerade angerufen.« Er schaute sie nicht an, ging einfach weiter in Richtung Strand.
»Funk? Der kann mich mal, ich …«Da war sie wieder, die alte Sabine. Giftig und egoistisch. Er wirbelte herum.
»Mach, was ich dir sage. Tu nur einmal das, was ich dir sage.« Er brüllte aus vollem Hals. Die Nachbarn starrten herüber, doch Hansen hatte sich bereits abgewendet und schlurfte an den Strand. Es waren kaum Leute hier, nur ein Mann warf seinem Hund einen Stock zum Apportieren in die hohen Wellen. Weiter hinten versuchten zwei Jungen einen Lenkdrachen zu starten.
Er ging vor bis zu dem Punkt, an dem sich das Wasser schäumend auf das Land ergoss und ließ sich in den Sand fallen. Drei Menschen waren gestorben, weil er den Bericht ungelesen weggeschlossen hatte. Er schaute zwei Surfern zu, ohne sie wahrzunehmen. Dann wieder das endlose Anbranden der Wellen. Immerfort traten sie die Attacke auf das Land an. Chancenlos, doch unverzagt. Warum ging er nicht hinein? Vereinte sich mit ihrer Unendlichkeit? Er wusste es nicht.
Plötzlich saß seine Frau neben ihm und legte ihren Arm um seine Schultern. Zuflucht. Er lehnte sich an sie und erzählte ihr alles.
Sprudelte seine Verzweiflung heraus, weinte mit ihr zusammen und überwand die erste Krise. Eine Stunde später spannten sie den Wohnwagen an und fuhren zurück in eine ungewisse Zukunft.
*
Alles war Kälte. Neben ihm, über ihm und unter ihm. In ihm. Er fühlte das Wasser des Hades. Wo bloß der Fährmann blieb, der ihn übersetzen würde, hinüber zur Unterwelt? Er trieb weg, hinein in die Dunkelheit.
Dann ein lautes Knallen und ein heftiger Schmerz auf seiner Wange. Eine Ohrfeige? Und noch einmal.
»Lichthaus. Heh. Aufwachen.« Die Stimme kam von weit her. Wieder eine Ohrfeige. Er wollte sich wegdrehen, doch es gelang nicht. Er konnte sich nicht rühren. Überall diese Kälte. Sie ließ ihn erstarren.
»Lichthaus!«, bohrte sich die Stimme in sein Bewusstsein. »Er kommt zu sich.«
Die Augen auf, befahl er sich. Doch es wurde nur ein Schlitz, durch den ein starkes, aber sehr kurzes Flimmern drang. Er versuchte es noch einmal. Jetzt ging es. Licht fiel ihm wie tausend Nadeln auf die Netzhaut. Endlich sah er das Gesicht. Eine junge Frau mit braunem struppigem Haar und einem netten Lächeln beugte sich über ihn. Ein Stethoskop baumelte von ihrem Hals und durchkreuzte sein Gesichtsfeld.
»Was ist los?« Er krächzte.
»Sie waren ohnmächtig.«
»Aha.« Er hörte die Worte, konnte ihnen aber keinen Sinn geben. Genauso wenig, wie er das einordnen konnte, was seine Augen sahen.
»Sie sind in Vierherrenborn. Ihre Kollegen haben Sie aus dem Keller geholt.« Langsam kam alles wieder.
»Mit den Zähnen«, murmelte er.
»Bitte?«
Plötzlich erschien Sophie Erdmann im Bild.
»Hallo Johannes. Gott sei Dank. Wir dachten schon, du seist tot.«
»Mit den Zähnen.«
Sie schaute verständnislos. Lichthaus schloss die Augen und zwang die Erinnerung herbei. Die Angst kam zurück und auch die Kälte. Er begann zu zittern und irgendjemand legte ihm eine weitere Decke über. »Ich habe den Stopfen mit den Zähnen herausgezogen. Das Wasser stand mir bis an die Lippe. Ich habe die Knoten soweit gelockert, dass ich mich ein wenig bewegen konnte. Ich habe mich zurückgeschoben, so dass ich mit dem Kopf am Rand vorbei bis zum Boden konnte. Das Wasser ging schnell zurück, und ich konnte wieder atmen. Und dann weiß ich nichts mehr.«
»Sie haben durch Ihre Bewegungen die Schlinge um den Hals sehr fest zugezogen.« Jetzt sprach wieder die Ärztin. »Dadurch war die Sauerstoffzufuhr verknappt. Ihr Körper hat auf Sparflamme umgeschaltet. Wir haben Sie jetzt mal ordentlich durchmassiert und Ihren Kreislauf auf Touren gebracht. Ich denke, Sie sind schnell wieder einigermaßen fit.« Sie verschwand, und Sophie Erdmann tauchte wieder auf. Er griff ihren Arm.
»Ihr müsst ihn finden, er will sich heute noch eine weitere Frau greifen.«
»Woher weißt du das?«
»Er hat lange mit mir gesprochen. Das Schwein. Bevor er das Wasser aufgedreht hat, sagte er, nun habe er aber keine Zeit mehr, er werde einen weiteren Schritt in Richtung seines Grals gehen.« Das Reden hatte ihn angestrengt, die Augen fielen ihm zu.
»Gut, ich sage Bescheid. Und du ruhst dich aus, dann geht es dir bald besser.«
Sie sollte Recht behalten. Schon eine halbe Stunde später konnte er aufstehen. Sie hatten ihm trockene Sachen besorgt. Pulli, Hose, Stiefel, alles schwarz. Von der Soko ausgeliehen, wie Sophie Erdmann belustigt anmerkte. Das Haus wurde durchsucht und man fand weitere Beweise. Schweiger hatte seine bestialischen Untaten fotografiert und gefilmt, auch persönliche Dinge der Getöteten aufbewahrt. Lichthaus ging nicht wieder hinein, konnte sich nicht überwinden. Stattdessen drückte er sich auf dem Hof herum und beobachtete die Kollegen, die in der Scheune den Hänger auseinandernahmen. Die Ärztin hatte ihm ein Kreislaufmittel gespritzt, und es ging ihm recht gut, doch fühlte er tief drinnen eine Beklemmung, mit der er noch zu kämpfen haben würde, da war er sich sicher.
Er ließ sich Kaffee aus einer großen Warmhaltekanne geben – Frau Guillaume hatte selbst auf diesem eiligen Einsatz noch für ihr Wohlergehen sorgen können – und setzte sich auf die Deichsel des verrosteten Pflugs, als das LKA mit einem ganzen Tross auf den Hof jagte. Aus seinen langen Dienstjahren beim Landeskriminalamt kannte er die Vorgehensweise nur zu gut. Er wusste, was jetzt passieren würde. Als Erstes entmachtete man die lokalen Dienststellen, damit sie nicht dazwischenfunken konnten, und sammelte anschließend alle relevanten Informationen. Hierauf baute man eine eigene Ermittlungsstrategie auf und nutzte die Wucht der ganzen Technik, die das LKA bot, um den Fall erfolgreich zu lösen.
Die Beamten sprangen aus den Wagen, riefen Müller und sein Team herbei.
Lichthaus hörte nicht, was gesagt wurde, doch nach längeren Gesprächen kamen Steinrausch, Sophie Erdmann und Marx mit so frustrierten Gesichtern auf ihn zu, dass sich jedes weitere Wort erübrigte.
»Wir sind raus«, murmelte Steinrausch. »Jetzt wo alles klar ist, kommen die her und spielen den großen Zampano.«
»Einer von denen will Sie sprechen, Raabe heißt er.« Marx sah übel aus. Der Entzug schien ihn zu zermürben, doch seine Augen schauten klar und konzentriert. »Ich fahre schon mal ins Präsidium und stelle die Unterlagen für die zusammen.«
»Machen Sie aber bitte Kopien von allen wichtigen Schriftstücken«, forderte Lichthaus ihn auf. »Der Fall wird sicherlich einen Pressesturm auslösen. Da werden schnell Schuldzuweisungen gemacht.«
Während Marx schon davonfuhr, diskutierte Müller immer noch heftig mit einem der LKA-Männer. Sein Kopf war knallrot angelaufen. Offensichtlich ein unangenehmes Gespräch. Lichthaus schaute zu Sophie Erdmann.
»Er wurde gefragt, warum er bereits heute Morgen den Täter als identifiziert und tot gemeldet hat und jetzt eine Fahndung läuft.« Sie grinste hämisch.
»Da lassen wir ihn mal strampeln.« Lichthaus wartete noch ein wenig und ging dann hinüber. Müller hatte sein Sakko durchgeschwitzt und gestikulierte mit den Armen. Er hatte bisher jeden Blickkontakt mit ihm vermieden und zeigte auch jetzt, als Lichthaus hinzutrat, keine Regung.
»Herr Raabe, Sie wollten mich sprechen?«
»Warten Sie, bis ich Zeit habe.« Nur ein kurzer Blick streifte Lichthaus. Der Ton war arrogant.
»Die Ärztin hat mich soeben krankgeschrieben. Entweder befragen Sie mich jetzt oder Sie können mich zu Hause besuchen.« Er drehte sich ruhig um und ging weg. Raabe kam hinter ihm her.
»Sie werden doch wohl …«
»Der Täter hat versucht, mich zu töten«, schnitt Lichthaus ihm das Wort ab. »Ich bin völlig fertig und will heim.«
Raabe lenkte ein. Er beendete das Gespräch mit Müller auf der Stelle und befragte ihn nun ganz professionell. Lichthaus schilderte den gesamten Fahndungsablauf und auch den Verlauf des heutigen Tages. Niemand diskutierte seine Eigenmächtigkeiten, der Erfolg gab ihm Recht.
Gegen sieben brachten ihn zwei Streifenbeamte nach Hause. Sie setzten ihn und den Berlingo in Eitelsbach ab und waren erst nach langen Diskussionen bereit, ihn allein zu lassen.
Kaum war er allein in dem stummen Haus, kam das Grauen zurück. Unzusammenhängende Bilder blitzten durch sein Gehirn. Das Becken, die Schamhaare auf der Bettdecke und dann die Fratze von Schweiger. Sophie Erdmann hatte sich nicht getäuscht. Mit ihren weiblichen Antipathien hatte sie intuitiv richtig gelegen.
Er rief Claudia an, zitternd und voller Vorfreude. Ihre Stimme war wie aus einer anderen Welt. Warm und voller Leben. Sie fragte, wie es ihm gehe, und als er nur kurz meinte, jetzt gut, erzählte sie von den Banalitäten eines Urlaubstages, die Erholung bedeuten. Piauder auf mich ein, sang Grönemeyer, und genau das tat sie. Lichthaus ließ es geschehen, wischte nur hier und da die Tränen weg, die ihm übers Gesicht liefen. Dann berichtete er von der Klärung des Falles und wie es dazu gekommen war, verschwieg aber seinen Beinahetod. Er würde es ihr erzählen, doch nicht am Telefon. Sie war begeistert über den Fahndungserfolg und erst recht, als Lichthaus sie bat, am Wochenende noch nicht heimzufahren. Er wollte stattdessen am folgenden Tag nach Holland fahren um dort ein paar Tage Urlaub mit ihnen zu machen.
Er hatte sich spontan entschieden. Wollte einfach zu seiner Familie. Er hatte heute Schlimmstes erlebt und brauchte eine Auszeit. Fühlte sich vollkommen ausgelaugt und kraftlos. Die anderen würden nach Schweiger fahnden müssen, zumal er ja eigentlich noch gar nicht im Dienst war. Wenn er nur wüsste, was Schweiger vorhatte.
Er grübelte noch eine Zeit lang, dann übermannte ihn die Erschöpfung, und er schlief auf dem Sofa ein. So wie er war.
*