Der Donnerstag verlief ohne große Fortschritte.
Am Freitag gab es neue Erkenntnisse, die aber ihre Verwirrung noch vergrößerte. Evas Fahrrad tauchte auf. Es war bereits am Montag vom Ordnungsamt sichergestellt worden. Der Ort, an dem man es gefunden hatte, gab ihnen aber ein Rätsel auf. Es hatte, betrachtete man den Weg von Oliver Hettmann zu Schneiders Haus, noch hinter Leys Wohnung gelegen. Ley hatte Eva aber zu Fuß gehen sehen, da war er ganz sicher. Sie diskutierten intensiv darüber, wie das Rad später auf der Strecke auftauchen konnte, ohne jedoch zu einem griffigen Ergebnis zu kommen. Vielleicht hatte jemand das Rad gestohlen und zufälligerweise dort abgestellt? Dieser Fund half ihnen jedenfalls nicht, die Ereignisse der Nacht zu rekonstruieren. Nur eines war sicher: Es war Evas Rad. Die Mutter hatte es eindeutig identifiziert, völlig haltlos zu schluchzen begonnen und war beinahe zusammengebrochen.
Steinrausch brachte am frühen Nachmittag das erste Foto einer Überwachungskamera mit in die Besprechung. Es war zu dem Zeitpunkt von den Geschäftsräumen eines Juweliers aus gemacht worden, als Ley der merkwürdig gekleidete Mann aufgefallen war. Das Bild zeigte lediglich einen dunklen Schatten. Ein Gesicht war nicht zu erkennen. Deutlich zu sehen war jedoch der wehende Mantel. Steinrausch hatte zum Vergleich ein Foto von sich selbst gemacht und errechnet, dass die vorbeilaufende Person deutlich über einen Meter neunzig groß sein musste. Außerdem hatte er noch weitere Überwachungskameras gefunden, und nun hofften alle auf bessere Fotos.
Später kam Marx zu Lichthaus ins Büro. Sein buntes T-Shirt zeigte nasse Flecken und ihm klebten die wenigen Haare schweißnass an der Stirn. In der Hand hielt er den typischen Plastikbeutel zur Sicherung der Beweise. Er sah erschöpft aus, grinste jedoch triumphierend.
»Wir wissen jetzt, wo der Täter sie geschnappt hat. Die Hunde haben das Ding im Grünstreifen zwischen Christophstraße und Theodor-Heuss-Allee gefunden. Es stammt von Eva Schneider.«
Lichthaus stellte fest, dass der Beutel einen Flipflop enthielt, und überwand sich zu einem Lob. »Gut gemacht.«
»Er lag direkt gegenüber Schneiders Haus. Sie hatte es fast geschafft.« Marx schüttelte bedauernd den Kopf.
»Wir müssen die Nachbarn befragen, ob ihnen ein fremdes Fahrzeug aufgefallen ist. Irgendwie muss er sie ja auch weggeschafft haben.« Lichthaus war zufrieden. Wieder ein Fortschritt. Sie kamen in der Sache Stück für Stück weiter.
»Das habe ich bereits für morgen veranlasst.«
»Sehr gut. Bringen Sie den Flipflop bitte zu Spleeth.«
Gegen Abend saßen sie noch einmal kurz im Besprechungsraum und fassten den Stand der Dinge zusammen. Dann ging es ins Wochenende. Bevor er sich auf den Heimweg machte, bat er die Kollegen von der Bereitschaft, ihn am Wochenende sofort zu informieren, wenn es etwas Neues gäbe.
*
Er parkte das Auto an der Ecke, gleich neben der Eisdiele, und schaltete den Motor aus. Um diese Zeit störte es niemanden. Tagsüber war hier jedoch Parkverbot, die Tische standen bis zum Geländer, hinter dem das Wasser des Leukbachs dahinfloss. Jetzt waren die Stühle mit Ketten zusammengeschlossen. Jetzt, um ein Uhr in der Nacht, lag das Lokal verlassen da.
Dunkel starrten die Fensterhöhlen ihn an. Etwas weiter rauschte der Wasserfall, der die unzähligen Touristen magisch anzog. Er saß rauchend im Halbdunkel und beobachtete das Mädchen. Ein boshaftes Grinsen huschte über sein Gesicht, dann blies er den Rauch hinaus, der in der leichten Brise verwirbelte. Ein paar Jugendliche, der Sprache nach Holländer, überquerten den Platz, der tagsüber von Menschen überströmt wurde. Sie gingen vorbei, ohne das dunkle Auto weiter zu beachten. Hinten, an einem der Tische des »Goldenen Sterns«, saßen noch einige Gäste vor leeren Gläsern und lachten, doch auch sie würden bald verschwinden. Dann käme sie heraus, um die Tische abzuräumen und die Tischplatten abzuwischen. Das kannte er schon. Anschließend ging sie nach Hause. Zu Fuß durch dunkle, leere Straßen.
Wieder das Grinsen.
Selbstbewusst war das Weib in ihrem kurzen Röckchen. Gestern hatte sie ihn überrascht und war mit ihrem Freund im Auto davongefahren. Das erste Mal nach drei Tagen. Aber er hatte Geduld. Er schaute ihr nach, bis sie verschwunden war, dann ließ er den Motor an und fuhr davon.
*
Marco Dupré stand vor dem Tor und versuchte den Schlüssel in das Vorhängeschloss zu stecken. Ihm war so schlecht wie seit Jahren nicht mehr, und er kämpfte andauernd gegen den Brechreiz an, der in ihm wütete. Mühsam raffte er sich auf und schaffte es endlich beim dritten Anlauf, das Tor zu öffnen und die Flügel aufzustoßen. Am Wasserhahn hinter dem Bürocontainer ließ er sich lange das kalte Wasser über den Kopf laufen.
»Junggesellenabschied, so eine Scheiße«, murmelte er vor sich hin und wischte sich mit den Händen die Tropfen aus Gesicht und Haaren. Etwas frischer ging er zur Bürotür, doch sagte ihm die Erfahrung, dass die Erholung nur von kurzer Dauer sein würde. Sein Bruder Guido hatte seinen Ausstand gegeben. Sie waren mit etwa zwanzig Mann zu einer Hütte im Wald gefahren, und es war hoch hergegangen. Um drei war er schließlich trotz Gewitters nach Hause gewankt.
Umständlich schloss er die Tür auf und betrat das kleine, kahle Büro. Auf dem Schreibtisch lag ein Zettel mit der Telefonnummer des Försters. Sein heutiger Auftrag. Während er dem Tuten in der Leitung lauschte, spürte er, wie ihm wieder schlecht wurde. Endlich nahm jemand ab, und er riss sich zusammen.
»Binz.«
»Dupré GmbH hier, guten Morgen.« Marco schluckte heftig. »Wir sollen heute oben im Wald einen Graben anfüllen. Ihr Kollege Heinz sagte mir, Sie wüssten, wo.«
»Na, der ist lustig. Ich habe schließlich auch Wochenende.« Der Mann war hörbar gereizt. »Sie sitzen doch in Lorscheid?«
»Ja.«
»Dann finden Sie das leicht auch ohne mich. Fahren Sie hoch zur großen Scheidschneise. Kennen Sie das?«
»Klar.« Marco konzentrierte sich, um nicht den Faden zu verlieren.
»Etwa auf halber Höhe sehen Sie rechts einen Graben. Füllen Sie den mit dem Kies auf, der daneben liegt.«
»Ja, also einen Graben auf halber Höhe rechts.«
»Genau. Das werden Sie ja wohl alleine hinkriegen. Ich komme am Montag rauf und schau mir das Ganze dann an.« Binz legte ohne Gruß auf.
»Idiot«, murmelte Marco.
Er atmete tief ein, um auf Touren zu kommen, nahm einen Schlüssel aus der Schublade, ging raus zum Bagger und fuhr los. Die Sonne stand nun relativ hoch und brannte ungehindert auf ihn hinunter. Es wurde brütend heiß in der gläsernen Kabine und nach wenigen Minuten klebte sein T-Shirt klatschnass am Rücken. Marco fluchte so, wie er es seinen Kindern verboten hatte, und öffnete Tür und Frontscheibe, doch auch das brachte keine richtige Abkühlung. Der Weg vor seinen Augen begann, mehr und mehr zu schwanken, und er verlor die Kontrolle. Schließlich fuhr der Bagger holpernd in die Wiese, wo er ihn gerade so zum Stehen bringen konnte, bevor er aus der Kabine heraus in hohem Bogen in ein kleines Kissen Wiesenschaumkraut kotzte.
Von da an lief es etwas besser. Als er die Schneise einige hundert Meter hinaufgefahren war, sah er parallel zum Wegrand, unter einer Gruppe von Krüppeleichen, den Graben und gleich daneben einen Haufen Kies.
Allmählich konnte er das Pochen in seinem Kopf nicht mehr ignorieren, und er sehnte sich nach Ruhe. Er stoppte den Bagger, dann stutzte er, denn am Anfang des Grabens waren bereits einige Meter mit Erde zugeschüttet worden und er wusste nicht, ob da die Kiespackung schon eingearbeitet worden war. Unentschlossen überlegte er, Binz deswegen anzurufen, ließ es dann aber bleiben, da er keine Lust hatte, sich noch einmal anschnauzen zu lassen. Er würde das Stück einfach aufgraben und gegebenenfalls den Kies hineinkippen.
Vorsichtig manövrierte er sein Gefährt in Position und legte los. Der Boden war schwarz und schwer, aber noch nicht verdichtet, wodurch er zügig vorankam. Als er jedoch rund einen Meter Tiefe erreicht hatte, hing die Baggerschaufel fest. Genervt versuchte er den Baggerarm zurückzuziehen, doch die Wurzel, oder was auch immer ihn festhielt, war sehr stark, so dass er in Schieflage geriet. Er wollte gerade den Zug lösen, als der Arm freikam und der Bagger ruckartig auf den Weg krachte. Das war zu viel. Er streckte den Kopf unter der offen stehenden Frontscheibe weit hinaus und übergab sich erneut. Aber sein Inneres gab keine Ruhe, und er würgte noch mehrfach, obwohl der Magen bereits leer war. Benommen schaute er seinem Erbrochenen hinterher und entdeckte den verdreckten Fuß, der mit lackierten Zehennägeln aus der Erde ragte.
*