Das Telefon läutete exakt mit Beginn der Radionachrichten um acht Uhr. Lichthaus hatte schon mit dem Fahrrad Brötchen in Ruwer geholt und wickelte gerade die Kleine.

»Gehst du dran, Claudia? Das sind jetzt deine Eltern und sagen, dass sie eine Stunde später kommen.«

»Ha, ha.« Dann hörte er sie aus der Küche kommen und das Telefon aufnehmen.

Henriette strampelte mit den Beinen, und er kitzelte leicht ihren Bauch, woraufhin sie zusammenzuckte und ihn groß ansah. Lichthaus lachte.

»Scherer.« Missmutig streckte sie ihm den Hörer entgegen. Er nahm ihn und tauschte mit ihr den Platz.

»Morgen. Was gibt es, Thomas?«

»Wir haben eine Leiche. Oben im Wald bei Farschweiler. Ein Baggerfahrer hat sie ausgegraben.«

»Oh Mann! Muss das sein, am Wochenende? – Wer weiß bereits Bescheid?«

»Die Spurensicherer, Steinrausch, Sophie und jetzt du. Marx konnte ich nicht erreichen, habe ihm aber auf die Mailbox gesprochen.«

»Sag noch Dr. Glittler, dass in der Rechtsmedizin Arbeit reinkommt. Nicht, dass der nachher weg ist.«

»In Ordnung.«

»Wann holst du mich ab?

»Dauert nicht mehr lange, bin gerade am Bahnhof vorbei.«

»Gut. Bis gleich.« Resigniert ließ er die Hand mit dem Telefon sinken und schaute zu seiner Frau hinüber.

»Verdammt noch mal, du hast einen Scheißjob.« Sie wickelte weiter und blickte ihn über die Schulter sauer an. »Jetzt habe ich eine Vernissage, meine Eltern kommen zu Besuch, und du musst zum Einsatz.«

Er ging zu ihr und legte die Arme um sie, doch Claudia schüttelte ihn verärgert ab.

»Es tut mir leid. Aber was soll ich denn machen? Die haben oben im Hochwald eine Leiche ausgegraben.«

»Eva Schneider?«

»Scherer hat nur von einer Leiche gesprochen, man wird sie erst identifizieren müssen.« Der Gedanke, dass Eva Schneider tot sein könnte, konkretisierte sich mit diesem Fund. Da er die Mutter kennengelernt hatte und um das Schicksal der Familie wusste, würde ihn der Fall emotional stärker belasten.

Claudia hatte Henriette wieder angezogen und nahm sie jetzt auf den Arm. »Beeil dich, dann kannst du noch was essen.«

Bevor er zu frühstücken begann, zog er sich erst noch schnell eine Jeans und feste Schuhe an und war bereits beim zweiten Brötchen, als Scherer vorfuhr. Er küsste Claudia, die ihm in der Küche Gesellschaft leistete. »Sag deinen Eltern einen schönen Gruß, und dass es mir leid tut.« Zügig ging er raus zum Auto. Scherer schaltete das Blaulicht ein und gab Gas.

»Ein Baggerfahrer hat die Leiche ausgegraben. Die Kollegen aus Hermeskeil sind zuständig. Sie haben uns informiert und müssten bereits oben sein.«

»Frau oder Mann?«

»Weiß nicht.«

»Wer von uns ist vor Ort?«

»Sophie wahrscheinlich. Sie war gerade unterwegs nach Mainz und ist sofort hingefahren. Die Spusi war schon am Packen, als ich weg bin. Die müssten auch jeden Moment eintreffen.«

Lichthaus registrierte, dass sich Scherer und Sophie Erdmann bereits duzten, konzentrierte sich dann aber wieder auf den mündlichen Bericht seines Kollegen. Viel wussten sie allerdings noch nicht. Seine Spannung wuchs. Was würde sie erwarten? Die Leiche von Eva Schneider?

Scherer raste mit hoher Geschwindigkeit über die fast leeren Straßen, und sie erreichten nach nur fünfzehn Minuten den Parkplatz im Wald, von dem gerade zwei Streifenwagen wegfuhren. Als Lichthaus und Scherer ausstiegen, sahen sie Sophie Erdmann vor einer Gruppe Wanderer und einigen Dorfbewohnern stehen, die neugierig versuchten, an den Leichenfundort zu kommen. Neben ihr zwei Streifenbeamte in Uniform. Unentschlossen hielten sie Rollen mit rotem Flatterband in der Hand und warteten auf Anweisungen.

»Das gibt es doch gar nicht! Sie warten jetzt hier! Wer von Ihnen auch nur einen weiteren Schritt in den Wald hineingeht, den nehme ich fest und werde ihn, so sicher wie das Amen in der Kirche, wegen Behinderung der Polizei belangen.« Sie war wütend und schrie die Gruppe an, die verunsichert vor ihr zurückwich. Anschließend waren die Polizisten dran. »Und Sie stehen hier nicht so rum. Haben Sie schon mal was von Tatortsicherung gehört? Ja?« Sophie Erdmann trug ein leichtes Sommerkleid, das ihr nicht unbedingt das Aussehen einer Kommissarin im Einsatz verlieh. Aber sie zeigte allen, dass sie es nicht mit einem netten Mädchen zu tun hatten, das sich gleich auf den Weg zum Shoppen machen würde.

»Im weiten Umkreis wird alles gesperrt. Sie ziehen als Erstes im großen Bogen um den Fundort ein Band. Und halten Sie Abstand! Wenn einer von Ihnen Spuren zertrampelt, kann er was erleben.«

»Unser Chef hat gesagt, wir sollen hier unten warten.«

»Solange die Mordkommission ermittelt, hat der nichts mehr zu sagen. Klar?« Die Beamten zogen die Köpfe ein und verschwanden eilig den Weg hinauf in den Wald. Lichthaus sah Scherer grinsend an.

»Hallo!« Sophie Erdmann schaute die Ankömmlinge an und atmete hörbar aus. »Wie ich es hasse, mit Dilettanten zu arbeiten.«

»Wer ist am Fundort?«

»Enders, der Chef von den beiden Clowns da.«

»Gut. Was haben wir bisher?«

»Der hat die Leiche gefunden.« Sie deutete auf Dupré und fasste kurz zusammen, wie er die Leiche gefunden hatte.

»Ist er irgendwie verdächtig?«

Sophie Erdmann schüttelte den Kopf.

»Gut, dann kümmere ich mich später um ihn. Er soll hier warten. Ich gehe erst zum Fundort. Befragen Sie bitte die Leute hier unten, die haben jetzt den nötigen Respekt.« Er grinste sie an. »Thomas, du kümmerst dich um die Sperrung sämtlicher Zugangswege. Und lass dir bitte die Vermisstenbeschreibungen durchgeben, vielleicht wissen wir dann schnell, mit wem wir es zu tun haben. Fang mit Eva Schneider an.«

Er ging zum Einsatzwagen und zog einen Papieroverall heraus. Dann folgte er den Beamten in den Wald. Hinter einer Biegung sah er den Bagger am Wegrand stehen. Enders lehnte an dem Fahrzeug in der Sonne und drehte der Grube den Rücken zu. Als der drahtige Hochwälder Lichthaus sah, richtete er sich auf, nickte dem Ankömmling zum Gruß entgegen und wünschte ihm einen guten Morgen. Der etwa Fünfzigjährige hatte wache Augen.

»Morgen. Gut ist der ja wohl nicht.« Lichthaus grinste schief, zog den Overall an und stieg auf den Bagger, um sich einen Überblick zu verschaffen.

Enders folgte ihm und zwängte sich neben ihn in die Kabine. »Wir hatten Glück, dass der Baggerfahrer kotzen musste.«

Unter den Bäumen war es duster und Lichthaus’ Augen mussten sich zuerst an das schwache Licht gewöhnen. Was ihm augenblicklich auffiel, war der Geruch frisch aufgebrochener Erde, dann erst erkannte er das Erbrochene, an dem sich bereits Käfer und Ameisen zu schaffen machten, und endlich sah er auch den Fuß. Er verstand, worauf Enders hinauswollte. Dupré hatte die Erde zunächst flach abgetragen. Hierbei hatte sich der Fuß oder das Hosenbein, das er jetzt auch erkennen konnte, an der Baggerschaufel verfangen und war freigelegt worden. Hätte Dupré den Grabprozess nicht unterbrochen, wäre der Körper im nächsten Arbeitsgang unweigerlich in die Höhe gehoben worden, was wichtige Spuren zerstört hätte. Es schien der Fuß einer jungen Frau zu sein. Unter dem Dreck schimmerte glatte, straffe Haut.

»Ich frage mich, wie sie hierher gebracht und vergraben worden ist. Kann man unbemerkt mit dem Auto bis zu dieser Stelle fahren?«

»Es gibt eine Unzahl von festen Wegen, die sich wie ein Netz über den ganzen Wald legen. Ich schätze, dass Sie von wenigstens zehn unterschiedlichen Stellen aus hierher gelangen können, ohne gesehen zu werden.«

Lichthaus blies die Backen auf »Da haben wir was zu tun. Na, mal sehen, was die Spezialisten herausfinden.«

Das Team der Spurensicherung verfügte über zwei Fahrzeuge, die bis obenhin mit Technik vollgepackt waren. Ein mittelgroßer LKW mit eigenem Labor für Auswertungen vor Ort und ein großer Lieferwagen, der keine fest installierte Laboreinrichtung hatte, wegen des geringeren Gewichts jedoch an unwegsamen Tatorten zum Einsatz kam. Für den hatte man sich entschieden, um hier zu ermitteln.

Kaum hatte der Bus angehalten, sprang Holger Spleeth heraus, gefolgt von Dominik Winkelmann. Spleeth, der Leiter der Spurensicherung, war ein schlaksiger Typ – an die zwei Meter groß, hager und mit hervorstehendem Adamsapfel. Lichthaus wusste, dass er ein introvertierter Grübler war, der wie ein Bluthund auch die kleinste Spur verfolgte. Ideal in dieser Funktion. Den Mitarbeitern seines Teams war er hingegen ein Gräuel. Man merkte Spleeth an, dass er es hasste, Menschen zu führen. Dementsprechend unwirsch war er zu ihnen. Sie hielten sich daher lieber an Dominik Winkelmann. Obwohl gut einen Kopf kleiner als sein Chef, dafür aber doppelt so breit, sprühte er nur so vor Energie. Die beiden hatten stillschweigend eine Aufgabenteilung vorgenommen. Winkelmann war für Organisation, Führung und die Struktur der Tatortarbeit zuständig, Spleeth für deren penible Umsetzung.

Lichthaus hatte sich einen Eindruck vom Fundort gemacht. Er sah ein, dass er hier im Augenblick überflüssig war, und ging zurück.

*