Götz von Falkberg hatte das Profil fertig und bat sie Platz zu nehmen. Wie Lichthaus in den vergangenen Tagen schon mehrfach bemerkt hatte, reagierten viele Männer reflexartig auf Sophie Erdmann und balzten los, wie er es für sich nannte. Auch von Falkberg machte hier keine Ausnahme, rückte ihr den Stuhl zurecht und war von ausgesuchter Freundlichkeit. Er bot ihnen Kaffee an, doch nur Sophie Erdmann ließ sich auf das Abenteuer des falkbergschen Instantkaffees ein. Was ihnen von Falkberg dann darlegte, war noch enttäuschender.
»Nun, ich war ja, wie Sie wissen, vier Jahre als Psychologe in der Operativen Fallanalyse im LKA tätig, doch einen Fall, der einerseits so klar und andererseits auch so verwirrend ist, hatte ich noch nie.« Er nippte an seinem Kaffee und griff sich ein Papier. »Hier ist das Profil.«
Er las vor. »Männlich, zwischen 30 und 45; über 1,90 Meter groß; sehr kräftig; überdurchschnittlich intelligent; lebt allein in einem Haus, es ist sicher frei stehend; Beweismittel werden in seiner Wohnung zu finden sein, vor allem die Folterinstrumente, und er wird sicher etwas von seinen Opfern als Trophäe behalten; unauffälliger Einzelgänger ohne Beziehungen zu Männern oder Frauen; geht höchstwahrscheinlich einem Beruf im handwerklichen Bereich nach oder hat entsprechende Vorkenntnisse; eventuell gescheiterter Student; war in psychologischer Behandlung; leidet unter mehreren Formen einer narzisstischen, dissozialen Persönlichkeitsstörung mit sadistischer Prägung.« Von Falkberg legte das Blatt vor sich auf die Schreibtischplatte und sah die Polizisten an. »Sie sind enttäuscht, nicht wahr?« Lichthaus nickte, offenbar sah man ihm das an. »Das habe ich erwartet, aber ich werde in das Profil nur die Punkte hineinschreiben, bei denen ich mir sicher bin, denn Mutmaßungen ins Blaue hinein helfen Ihnen ja nicht wirklich weiter. Außerdem werde ich kurz erläutern, wie ich auf die einzelnen Punkte gekommen bin und vor allem, was ich hinter den Persönlichkeitsstörungen vermute.«
Lichthaus zog ein Diktafon aus der Tasche. »Darf ich das aufnehmen? Kommt nicht in die Akten.«
Von Falkberg nickte. »Ich habe versucht, jede Einzelheit zu deuten, die auffällig war. Zunächst einmal die Körpergröße und -kraft. Eva Schneider war ein Meter sechsundsiebzig groß und sportlich. Um sie so geräuschlos zu greifen, dass niemand aufmerksam wurde, musste er sie deutlich überragen. Ich habe mit einem Nahkampfexperten gesprochen, der mir meine Vermutung bestätigte. Dass er in einem eigenen frei stehenden Haus lebt, wahrscheinlich gehört es ihm sogar, schließe ich aus der Tatsache, dass er das Opfer mehrere Tage festgehalten hat. Wir, das heißt ein Assistent und ich, haben das lange diskutiert.«
»Die Informationen waren doch vertraulich«, unterbrach ihn Lichthaus.
»Ich habe ihn ja auch nur ganz theoretisch um seine Meinung gefragt, nicht zu dem konkreten Fall. Wir waren uns beide darin einig, denn wie kann er gefahrlos und geplant eine betäubte Frau in ein Mehrparteienhaus hinein- und wieder hinausschaffen. Das Risiko, entdeckt zu werden, ist zu groß und unser Täter zeigt enormes strategisches Geschick, das würde nicht passen. Darauf komme ich gleich.«
»Und wenn er sie woanders gefangen gehalten hat?«
Von Falkberg schaute Sophie Erdmann strahlend an. »Genau den Punkt habe ich auch überlegt. Natürlich könnte es sein, dass er eine Wohnung bewohnt. Es wäre allerdings sehr viel unbequemer für ihn. Die Wahrscheinlichkeit ist also groß, dass er sein Opfer in einem frei stehenden Haus untergebracht hat. Und es muss ihm jederzeit zugänglich sein und darf nicht von einer anderen Person bewohnt sein. Ich bin davon überzeugt, dass sie unmittelbar an seinem Wohnort war, sonst hätte er nicht jederzeit Zugriff auf sie gehabt. Wo es liegt, kann ich natürlich nicht sagen. Ein Stollen oder Erdloch kann es jedenfalls nicht gewesen sein, weil die Spuren hierzu keinen Hinweis geben. Die gefundenen Erdspuren stammen ausschließlich vom Fundort. Aber kommen wir zu dem Ort, wo er die Leiche abgelegt hat.« Er kramte aus seinen Unterlagen eine Landkarte des Hochwalds hervor.
»Unser Mann ist intelligent. Ich habe mir den Fundort mal genauer angesehen und dann mit der ganzen näheren Umgebung abgeglichen. Die Stelle ist unauffällig erreichbar und wird forstwirtschaftlich nicht genutzt. Das ist nicht selten, aber der Weg wurde erst kürzlich erneuert, es sind gerade Drainagen verlegt worden, so dass der Graben nicht auffiel. Der Platz wurde so gewählt, dass er den Weg weithin gut einsehen konnte, um rechtzeitig abzuhauen. Einfach perfekt. Auch die Technik, mit der die Tote begraben wurde, ist perfekt. Es wurden keine Spuren eines Baggers gefunden. Nur die Schaufelspuren, deshalb gehe ich davon aus, dass er vom Hänger aus zügig arbeiten, aber auch ebenso schnell abhauen konnte. Das einzige Risiko war der kurze Moment, als die Tote offen im Loch lag. Ich schätze maximal zwei Minuten.«
»Glauben Sie, er hat eine bereits verfeinerte Technik?«, Lichthaus formulierte vorsichtig.
»Sie meinen, ob er schon andere Opfer so weggeschafft hat? Ich weiß es nicht, aber vermutlich ja.«
»Also ein Serienmörder.«
»Vermutlich ja. Aber dazu kommen wir noch.«
»Wieso das Sperma? Einen besseren Beweis kann er doch nicht liefern.«
»Arroganz. Er hält sich für absolut überlegen. Das bringt uns zur zentralen Komponente, seinen geistigen Störungen.«
Sophie Erdmann trank an ihrer Tasse, ohne sich das Geringste anmerken zu lassen, und machte sich nun auch Notizen.
»Er ist ganz klar ein Sadist. Ich gehe davon aus, dass er wie viele Serienmörder Hirnschäden hat, die seine Persönlichkeitsstörungen zumindest biologisch erklären. Er kombiniert dissoziale und narzisstische Störungen miteinander, eine Kombination, die in Verbindung mit sadistischem Tötungsverlangen sehr selten auftritt. Diese Überlagerung erklärt andere Merkmale. Dissozial, weil er wie die meisten Soziopathen gemütsarm ist und alle sozialen Normen ignoriert. Nur so kann er diese Frau tagelang quälen. Ich möchte nicht wissen, wie das arme Mädchen gelitten hat.« Er schaute auf die Fotos der toten Eva Schneider und schüttelte leicht den Kopf. »Wenn Sie mit den Typen reden, sind immer die anderen schuld. Seine Fokussierung auf Frauen wird wohl mit seiner Kindheit zu tun haben. Schauen Sie.« Er legte die Bilder der vergewaltigten Frauen und das von Eva Schneider nebeneinander vor Lichthaus und Sophie Erdmann auf den Schreibtisch. Sie sahen alle verschieden aus. »Die Frauen weisen keine Gemeinsamkeiten auf, doch machen alle den Eindruck einer starken Persönlichkeit. Es kann daher sein, dass er unter einer dominanten Frau, ich denke die Mutter, gelitten hat und ähnliche Typen einen Schlüsselreiz auslösen.«
»Wieso?«, wollte Sophie Erdmann wissen.
»Das ist nur eine Vermutung, doch das Opfer hatte während der gesamten Zeit die Augen verbunden. Warum? Und obwohl er enorm unter Stress litt, hat er sie mit geschlossenen Augen ordentlich mit dem Gesicht nach unten abgelegt. Für mich deutet das auf ein schlechtes Gewissen hin. Angst vor der Mutter, die ihn strafen könnte. Das ist natürlich irrational, wir können uns das kaum vorstellen, für ihn existiert sie fort, auch wenn sie längst verstorben ist. Wir hatten mal einen Fall, da verhielt sich ein Täter ähnlich. Seine Mutter war ultrakatholisch und tief in seinem Unterbewusstsein regte sich nach der Tat immer die Furcht vor Sünde und Hölle. Eigentlich untypisch für Sadisten. Was andererseits jedoch für einen sadistisch motivierten Täter spricht, ist die geplante Tatausführung.«
»Wie entwickeln sich solche Täter?« Lichthaus war von von Falkbergs Ausführungen fasziniert.
Dieser goss sich Kaffee nach. Draußen auf dem Gang rumorten ein paar Studenten, doch er ließ sich nicht ablenken und fuhr fort. »Sadisten haben meistens Hirnschäden. Dazu kommen dann noch Schlüsselreize, basierend auf prägenden Erlebnissen in der Kindheit. Irgendwann wird dieser Schlüsselreiz dann so groß, dass die Person das Erlebnis noch einmal erleben möchte. Nehmen wir ein Beispiel. 1988 wurde Bruno Achtern in Hannover zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Er hatte vier Frauen vergewaltigt, brutal getötet, zerstückelt und sich später mehrmals an den Leichenteilen befriedigt. Er hat die klassische Vita eines Sadisten. In seinem Gehirn wurde ein deformierter rechtsseitiger Temporallappen festgestellt, der Folge eines frühkindlichen Traumas war. Eine solche Anomalie findet sich übrigens bei vielen Sexualtätern. Das für seine Entwicklung prägende Erlebnis war die Schlachtung eines Tiers. Er lebte das Gesehene nach und tötete als Heranwachsender kleine Tiere und empfand diese Taten unbewusst als sexuelle Stimuli. Der Übergang zur gestörten Sexualität begann, als er bei seinen ersten Kontakten mit Frauen nur frustrierende Erfahrungen machte. Er wurde sich seiner Abartigkeit bewusst und ekelte sich einerseits vor seinen Gewaltphantasien und seinen brutalen Tierquälereien, um auf der anderen Seite hierbei enorme Lust zu verspüren. Am Ende dieser Phase war er sozial völlig abgekapselt und lebte in einer Welt aus Omnipotenzphantasien. Ich denke, dass Sie das so ähnlich bei Ihrem Täter auch finden werden. Starke Isolation und in diesem Fall narzisstische Selbstüberschätzung. Dieses Ritterspiel, das Sie mir heute Morgen schilderten, passt vollständig in das Bild.«
»Sie glauben, der Rote Ritter ist der Täter?« Lichthaus sah von Falkberg intensiv an.
»Dafür fehlt zwar aktuell noch jeder Beleg, doch es spricht einiges dafür. Jetzt zu Ihrer Frage, wieso ich von einem Serienmörder ausgehe. Es gibt bei allen sadistischen Tätern diesen Moment, wo sie ihre Phantasien endlich in die Tat umsetzen müssen, so auch bei Achtern. Wir nennen das narzisstisches Streben nach Autarkie, also sich quasi selbst in der Tat zu erleben. Er beobachtete gezielt potenzielle Opfer und griff sie an, nachdem er einen optimalen Tatort festgelegt hatte. Er steigerte seine Grausamkeit nach und nach, probierte dies, probierte das. Eine Frau vergewaltigte er, eine andere schlug er derart zusammen, dass sie wochenlang im Krankenhaus lag. Seine Tötungsziele setzte er nie um, da Phantasie und Wirklichkeit noch zu weit voneinander entfernt waren. Dazu brauchte es einige Jahre. So scheint es auch beim Mörder von Eva Schneider gewesen zu sein. Er hat damals im Rheingau seine Probierphase erlebt, indem er die Frauen vergewaltigte und misshandelte. Mittlerweile hat er wenigstens einen Mord umgesetzt. Erfahrungsgemäß bleibt es nicht bei nur einer Tat. Ich schätze, dass es schon mehr waren. Im Durchschnitt dauert es nach der ersten vollendeten Tötung zweieinhalb Jahre bis zur Wiederholung. In diesem Zeitraum grübeln die Täter über sich selbst und schwanken zwischen Ekel und erotischem Nacherleben hin und her.«
»Wie sehen Sie also unseren Fall? Und wo steht Ihrer Meinung nach unser Täter?« Sophie Erdmanns Gesicht wirkte angespannt.
»Er ist in der Wiederholungsphase. Seit der Vergewaltigungsserie hatten wir einige Jahre Pause bis zum Mord an Eva Schneider, allerdings sind bereits in den letzten beiden Jahren zwei Frauen verschwunden, vielleicht waren das schon seine ersten Opfer …«
»In Luxemburg wurden in dieser Zeit vier Frauen als vermisst gemeldet«, warf Lichthaus ein. Sophie Erdmann starrte ihn an. »Da wir noch keine Verbindung zwischen diesen Fällen herstellen können«, erklärte er schnell, »halten wir diese Infos unter Verschluss. Auch in der Ermittlungsgruppe.« Er sah seine Kollegin an, die schluckte, aber schließlich nickte.
»Das sind also sechs Verdachtsfälle und ein sicher zugeordneter Mord.« Von Falkberg blies die Backen auf. »Ich schlage vor, dass Sie das Raster durchlaufen lassen und die Verdächtigen nach dem Profil filtern. Die, die übrig bleiben, schauen wir uns darin an.«
»Was ist mit dem Roten Ritter?«
»Vielleicht sieht Ihr Ritter sich als Parzival, der ja ebenfalls eine rote Rüstung trug. Es passt auf jeden Fall zu seinen narzisstischen Zügen. Er ist der Beste und gewinnt immer. Wehe nur dem, der ihn besiegt, denn die extreme Kränkbarkeit dieser Typen mündet in irrationale Ausbrüche. Der Mann ist äußerst gefährlich.«
»Was können Sie noch sagen?«
»Nichts ohne neue Fakten.«
Da alles gesagt zu sein schien und die Zeit drängte, verabschiedeten sie sich von dem Psychologen und versprachen, ihn auf dem Laufenden zu halten. Er öffnete ihnen die Tür und geleitete sie, freundlich mit Sophie Erdmann plaudernd, bis zum Aufzug. Lichthaus stand unter äußerster Anspannung. Mit einem Mal war er sich sicher, dass der Rote Ritter ihr Täter war. Stichhaltige Beweise konnten sie zwar nicht vorweisen, aber das Bild, das sich langsam vor seinem geistigen Auge entwickelte, ließ keinen anderen Schluss zu. Lichthaus hatte in den vergangenen Jahren ein gutes Gefühl für seine Fälle entwickelt und entgegen allen Einwänden meistens Recht behalten. Er würde die Dinge nun noch stärker vorantreiben und plante bereits den Einsatz am Wochenende. Das war ihre große Chance.
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