Zum Abschied schmiegte sie sich noch einmal an Olivers warmen Körper. Sie lauschte seinem leisen Schnarchen und küsste ihn, dann schlängelte Eva sich unter der Bettdecke hervor und suchte ihre Kleidung zusammen. Sie schlüpfte in Slip und Jeans, streifte das T-Shirt über, den BH stopfte sie in den Rucksack.
Es war stickig in der kleinen Dachwohnung. Im spärlichen Licht, das von der Straßenlampe gegenüber hereinfiel, übersah sie eine leere Wasserflasche und stieß sie um.
Oliver wälzte sich herum und blinzelte mit den Augen. »Was machst du denn? Es ist mitten in der Nacht. Bleib doch hier!«
»Oliver, bitte.«
»Ich bring dich.« Er stützte sich auf seinen Unterarm.
»Nein, lass! Mit dem Rad bin ich ganz schnell zu Hause.« Eva wartete seine Antwort nicht ab, gab ihm noch einen Kuss und schlüpfte in ihre Flipflops. Als sie einen Moment später die Wohnungstür hinter sich zuzog, konnte sie ihn schon wieder schnarchen hören.
Es war eine kühle Nacht nach einem heißen Augusttag, den sie im Südbad verbracht hatten. Am Abend hatte Oliver Pizza gebacken, die sie auf dem winzigen Balkon gegessen hatten, der gerade einmal Platz für die beiden wackeligen Stühle und den Klapptisch bot. Sie seufzte. Wie gern wäre sie noch geblieben und am Morgen neben Oliver erwacht.
Aber meist ging sie in der Nacht nach Hause. Ihr Vater war vor zwei Jahren an Darmkrebs erkrankt. Seitdem beherrschte die furchtbare Krankheit ihr Familienleben. Er hatte gar nicht mitbekommen, wie sie erwachsen geworden war, und erwartete selbstverständlich, dass sie die Nacht zu Hause verbrachte. Wer konnte schon sagen, wie viel Zeit ihnen noch gemeinsam blieb? Also tat sie ihm den Gefallen.
Sie ließ die Haustür leise zufallen und ging auf die andere Straßenseite zu den Fahrradständern, doch ihr Rad war verschwunden. Nur das durchgesägte Schloss lag wie ein toter Wurm auf dem Boden. Sie fluchte und schleuderte es über eine Mauer. Es war ein teures Rad gewesen. Ein Geschenk ihrer Eltern und erst ein paar Monate alt. Verdammt! Sie zögerte einen Augenblick und schaute sehnsüchtig zu Olivers Wohnung hinauf, drehte sich dann aber doch um. Es war nicht weit, nur quer durch die Fußgängerzone, noch nicht einmal eine Viertelstunde würde sie brauchen.
Manchmal genoss sie es, durch die einsamen Straßen zu laufen. Angst hatte sie noch nie empfunden. In der Nacht wirkte alles seltsam anders, aber doch friedlich. Heute hatte sie keinen Sinn dafür. Voller Wut stürmte sie los, vorbei an Rathaus und Antoniuskirche, Richtung Innenstadt.
Zu Beginn der Fleischstraße hatte sie sich einigermaßen beruhigt und überlegte gerade, wo sie eine Anzeige wegen des Diebstahls machen sollte, als hinter ihr klirrend eine Flasche zu Bruch ging. Sie zuckte zusammen und drehte sich um, konnte jedoch niemanden sehen. Sie wurde unruhig und ging schneller. Zum ersten Mal waren ihr die leeren Straßen unheimlich. Keine Menschenseele weit und breit. Nur das Schlappen ihrer Flipflops hallte überlaut durch die Stille. Die Fleischstraße zog sich nun in die Länge. Es war dunkel, die Straßenlaternen standen hier in größerem Abstand voneinander. Endlich der Kornmarkt. Einige Schaufenster waren beleuchtet. Ein Auto fuhr oben die Konstantinstraße hinauf zur Basilika. Das beruhigte ein wenig, aber das unbestimmte Gefühl, beobachtet zu werden, nahm zu. Sie behielt ihr Tempo bis zum Hauptmarkt bei, wo sie plötzlich einen Mann hämisch lachen hörte. So dicht hinter ihr. Was will der Kerl? Sie lief weiter, ohne sich umzuschauen. Die Domuhr schlug dreimal, doch die Kirche drüben am Domfreihof wirkte verschlossen wie eine Burg. Ihre Augen suchten fieberhaft nach Passanten. Ohne Erfolg. In keinem Fenster ein Licht. Die Stadt war ausgestorben wie eine verlassene Filmkulisse.
Da! Etwas weiter vorne in der Simeonstraße zog grölend eine Gruppe betrunkener Studenten in Richtung Porta Nigra. Sie stützten sich gegenseitig und lachten bierselig. Eva wollte rufen, doch schon verschwanden die Schatten im Margaretengässchen. Der Lärm wurde schnell leiser, dann war es wieder still.
Sie wünschte sich Oliver herbei. Anfangs hatte er sie immer nach Hause gebracht, aber Eva hielt das für unnütz, sie hatte Trier für ungefährlich gehalten. Bis jetzt.
»Kleines Mädchen ganz alleine?«, kam es aus dem Nichts.
Sie schrie auf, schaute panisch über die Schulter und glaubte, eine Bewegung ausmachen zu können, war sich jedoch nicht sicher. Schnell lief sie weiter, versuchte im Licht der Laternen zu bleiben. Tränen stiegen in ihr auf, doch dann kam die Wut.
Sie drehte sich um. »Mir reicht das jetzt, du blödes Schwein. Hau ab oder zeig dich, wenn du den Mut hast! Ich habe keine Angst vor dir.« Aber sie merkte selbst, wie ihre Stimme zitterte.
Nichts rührte sich. Dann plötzlich wieder die raunende Stimme aus der Dunkelheit.
»Schweig stille, Weib. Du wirst mir Untertan sein.«
Die Angst explodierte. Panisch hastete Eva wieder los, bog in die Glockenstraße ein, immer weiter, nur nach Hause wollte sie. Diese verdammten Flipflops. Kein Mensch konnte in diesen Badelatschen rennen. Plötzlich entdeckte sie ihr Fahrrad. Es stand an das Tor eines Biergartens gelehnt. Das war bestimmt kein Zufall. Und sie ahnte nun, wer sie verfolgte und ihr ein Zeichen geben wollte. Ein kaltes Schaudern überlief sie, als die Erinnerung an ihren letzten Besuch hier sie blitzartig durchfuhr. So gierig war sie noch von niemandem angestarrt worden. Sie sah gut aus, und an ihrer Figur war laut Oliver alles genau da, wo es sein sollte. So manch einer konnte die Augen nicht von ihr lassen. Aber der Typ, der sie auf dem Weg zur Toilette angegafft hatte, war geil gewesen bis zur Halskrause. Schutzlos und nackt hatte sie sich unter diesem Blick gefühlt, den sie bis heute nicht vergessen konnte.
Eva griff sich das Fahrrad und stieg auf, doch als sie losfahren wollte, trat sie ins Leere. Erst jetzt sah sie die Kette auf dem Boden liegen.
»Scheiße!« Ganz laut schrie sie es und knallte das Rad gegen das Tor. Nur schnell weiter. Sie rannte wieder.
Heftig atmend erreichte sie die Christophstraße, als ein Taxi gemächlich an ihr vorbeifuhr. Der Fahrer hatte keinen Gast und starrte geradeaus auf die leere Straße. Sie winkte, doch er sah sie nicht. Irgendwo kläffte ein Hund. Ihre Eltern wohnten auf der anderen Seite, nur der dunkle, Baum bewachsene Grünstreifen trennte sie noch von ihrem Zuhause. Sie lief über den Fußgängerübergang und verschwand zwischen den dicht begrünten, riesigen Kastanien. Stockdunkel war es hier, aber sie kannte sich aus und verlangsamte kaum ihr Tempo. Plötzlich stolperte sie, verlor einen ihrer Flipflops und landete im Gras. Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr. Ihr Herz raste. Sie schrie wieder auf.
Dann eine wütende Stimme neben ihr. »Pass doch auf, du blöde Sau!«
Sie war über einen Stadtstreicher gestolpert, der hier die Nacht verbrachte. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt und sie sah, dass sein Schlafplatz von Plastiktüten und leeren Flaschen umgeben war. Vater hatte sich schon oft wegen der Penner geärgert, die den ganzen Tag über soffen und nachts in die Toreinfahrt pinkelten, doch jetzt erschien ihr dieser Mann wie ein Geschenk Gottes.
»Ich werde verfolgt, können Sie mir helfen?« Ihre Stimme überschlug sich, doch der Kerl grunzte nur und legte sich wieder hin.
»Leck mich.«
»Bitte!«, schrie sie ihn an.
»Verschwinde, sonst mach ich dir Beine.«
Sie gab auf, suchte hysterisch den verlorenen Flipflop. Ohne Erfolg. Egal. Sie eilte weiter. Zwischen den Bäumen tauchte das Haus auf. Die Außenlampe war eingeschaltet. Evas Anspannung ließ nach. Gleich würde sie es geschafft haben.
Der Angriff kam aus dem Nichts. Mit ungeahnter Wucht stieß er sie um und begrub sie unter sich. Sie sah den Boden auf sich zurasen. Nicht einmal die Arme konnte sie schützend ausstrecken, bevor sie aufs trockene Gras krachte. Eva bäumte sich auf und schrie, so laut sie konnte, doch der Mann wusste offensichtlich genau, was er tat. Kräftig drückte er ihr ein Tuch auf das Gesicht und hielt ihren Kopf fest. Eva versuchte, sich ruckartig wegzudrehen, doch sie kam nicht weit. Wut der Verzweiflung und Panik loderten in ihr auf. Irgendetwas war auf dem Tuch, stank schrecklich und benebelte ihr Hirn. Sie stemmte sich gegen ihn, wollte sich auf den Rücken wälzen. Aber er war ungemein stark und hielt sie auf dem Boden fest wie ein kleines Kind, so sehr sie auch kämpfte. Was war mit dem Penner, warum half er ihr nicht? Sie registrierte, dass er sich tatsächlich aufgerappelt hatte und in ihre Richtung sah, und schöpfte Hoffnung.
Aber auch ihr Angreifer hatte es bemerkt. »Polizei«, schrie er. »Hau bloß ab, sonst nehme ich dich auch noch mit.« Wie durch einen Schleier sah sie den Penner wegrennen. Sie spürte eine zunehmende Benommenheit. Ihre Glieder wurden schwer und ihre Bewegungen erlahmten. Ganz still lagen sie, wie zwei Liebende in inniger Umarmung. Die Wärme seines Körpers drang zu ihr herüber. Ekel stieg in ihr hoch. Sie würgte. Wehrlos schaute sie hinüber zu der Lampe über der Haustür ihrer Eltern. Alles in ihr war Verzweiflung, dann verlor sie das Bewusstsein.
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