Zu Hause in Eitelsbach schaute er dumpf den Lichtern des Streifenwagens hinterher, der langsam in Richtung Ruwer fuhr. Nichts rührte sich, nur ein lauer Wind wehte durch die sternenlose Nacht. Unschlüssig stand er vor der Tür und blickte die Straße entlang. Er hatte Angst vor den Bildern. Oben im Schlafzimmer würden sie aus der Dunkelheit kriechen und sein Bewusstsein füllen. Das weiße Gesicht, die heraushängende Zunge, der Täter. Bis zur Schmerzgrenze würde er sich herumwälzen, das Licht anmachen, doch die Bilder würden wiederkommen, sobald er die Augen schloss. Er würde das Stöhnen hören, das nichts, keine Ohrstopfen, keine Musik, zum Verstummen bringen könnte. Würde seinen Fehler suchen. Immer wieder. Und wenn er dann einschliefe, käme ihm alles im Traum hinterher. Von keinem Abwehrmechanismus gefiltert würde der Schrecken auftauchen, groß und schwer wie ein Riesenkrake und zäh wie Teer an ihm kleben, ihn verfolgen und erst in vielen Tagen Ruhe geben. Und da war keine Claudia, die ihn an sich drücken, die mit ihm reden, ihn trösten könnte. Er musste allein kämpfen. Gegen die Bilder. Und morgen gegen Müller.
Langsam ging er die Straße entlang. Gleich hinter der Gabelung links stand ein Mehrfamilienhaus aus den siebziger Jahren. Schmucklos. Hier wohnte Otto. Sein Weingut lag zwar an der Straße nach Mertesdorf, fast schon aus dem Ort heraus, doch vor vielen Jahren hatte er Platz gemacht für seinen Sohn Werner und dessen Frau mit den damals noch kleinen Kindern. Zusammen mit seiner Erika war er in die Parterrewohnung des neuen Hauses gezogen, das er selbst gebaut hatte. Sie war vor fünf Jahren gestorben. Eines Morgens hatte sie tot im Bett gelegen. Einfach so.
Schön für sie, sagte Otto immer, aber schlimm für mich. Kein Abschied, nichts. Seitdem schlief er schlecht, und so auch in dieser Nacht. Als Lichthaus näher kam, sah er zwischen den Ritzen der Rollläden Licht schimmern. Er zögerte einen Moment, dachte erschaudernd an sein leeres Haus und klingelte. Otto war sofort an der Tür und öffnete, ohne die Gegensprechanlage zu nutzen.
»Was ist los?« Er sah ihn mit angstweiten Augen an. »Claudia oder die Kleine?«
»Nein, keine von beiden.« Er musste einen erbärmlichen Anblick darbieten, um den Alten so zu erschrecken.
»Dann kann es nicht so schlimm sein, wie du aussiehst.« Er atmete hörbar erleichtert aus.
Otto trug einen alten Schlafanzug aus Baumwolle. Blau gestreift und etwas verwaschen hing er zu kurz an seiner stämmigen Figur und ließ einen Blick auf seine weißen, geäderten Unterschenkel frei, die im krassen Gegensatz zu seinem braunen Gesicht standen. Die Wohnung zeugte von Ottos Leben. Viel Arbeit und wenig Ruhe. Sie wirkte funktionell, nur den Bedürfnissen angepasst. Die wenigen Bilder an den Wänden waren wahllos zusammengestellte Farbdrucke großer Meister. Anders als bei manchen alten Leuten, roch seine Wohnung nie ungelüftet und muffig. Otto achtete peinlich genau auf absolute Sauberkeit und wurde hierbei von einer Zugehfrau unterstützt, die zweimal in der Woche kam. Trotzdem, der einzige Raum, den Lichthaus gemütlich finden konnte, war die uralte Einbauküche aus den frühen sechziger Jahren, reif für das Heimatmuseum, stünde hier nicht ein neuer Flachbildfernseher. Es gab indirektes Licht und eine Eckbank mit altmodisch gemustertem Polster, auf die Lichthaus sich schwerfällig setzte.
Wortlos griff Otto in den Kühlschrank, holte eine Schnapsflasche heraus und goss ein. Sie tranken ihn schnell, und eine wohlige Wärme breitete sich in Lichthaus’ Körper aus. Otto brannte heimlich, ohne Lizenz den besten Zwetschgenschnaps, den Lichthaus jemals probiert hatte. Er hustete wie immer von dem leichten Brennen in der Kehle.
»Was ist denn los? Erzähl.« Der Alte setzte sich zu ihm auf die Eckbank und schenkte nach.
Lichthaus zögerte, nur das Ticken der Wanduhr war zu hören. Irgendwann begann er zu sprechen, stockend, dann immer flüssiger, der Anfang mit Marianne Schneider bis zu den Grauen des Abends, suchte auch nach Gründen für das Desaster und Entschuldigungen für sich. Als er geendet hatte, schaute er vor sich auf den Tisch und fühlte sich besser, war aber auch fertig.
Otto sah ihn lange an. »Du fühlst dich schuldig?«
Lichthaus blieb erst einmal stumm und lauschte in sich hinein. Neben der Leere, völliger Erschöpfung und Trauer war noch etwas. Nagender, dauernd präsenter Zweifel am eigenen Tun. Er hatte versucht, ihn zu unterdrücken, doch geradezu zwanghaft spulte er immer wieder seine Entscheidungen durch.
»Ja. Ich hätte den Einsatz absagen müssen. Wir waren zu wenige. Außerdem kann ich Marx keine Schuld geben. Der ist krank. Verdammte Scheiße, das ist mir noch nie passiert.«
»Meinst du, es gibt großen Ärger?«
»Mir können sie nichts wollen. Scherer hat sich vollkommen falsch verhalten, und Müller mich hängen lassen.«
»Trotzdem fühlst du dich schuldig.«
»Ja. Und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.«
Otto schaute zur Wand und dachte nach.
»Lern damit zu leben. So wie ich«, begann er leise. »Als ich elf war, ist ein Junge hergezogen. Peter. Peter Ossing. Wir haben ihn nur Ossings Pittchen genannt. Sein Vater war in der Verwaltung drüben im Weingut Maximin Grünhaus. Sie wohnten direkt nebenan. Obwohl Pittchen und ich im selben Jahr geboren wurden, war er einen ganzen Kopf kleiner. Frühgeburt, haben die Frauen gesagt. Ein Einzelkind. Wir haben uns angefreundet und viel miteinander gespielt. Für Pittchen war ich bald so etwas wie der große Bruder, den er nie gehabt hat. Er saß in der Schule neben mir, machte mit mir zusammen die Hausaufgaben und half mir oft, denn er war ein guter Schüler. Draußen bei den anderen Jungs war ich sein Beschützer, da er ein richtiger Angsthase war.« Otto lächelte Lichthaus an. »Ich war der Stärkste von allen. Jedes Mal habe ich ihn rausgehauen, wenn die anderen ihn gehänselt haben oder eine Mutprobe anstand. Er war wirklich wie ein kleiner Bruder.«
Otto schaute auf das dunkle Fenster, ohne etwas zu sehen, und stieg in die Vergangenheit. Siebzig Jahre zurück, und als Lichthaus sein Gesicht sah, wusste er, dass die Bilder für den Alten schlimm sein mussten. Es fiel ihm schwer weiterzureden. Er atmete tief ein.
»Ich habe das bis jetzt niemandem erzählt, aber vielleicht hilft es dir ja.« Er zögerte. »Oder mir. Na, egal. Eines Tages im Sommer ’36 sind wir hinter Hüsters Mühle ans Ende des Mühlteichs gegangen. Die Ruwer war aufgestaut worden, und es hatten sich große Becken gebildet, wo das Wasser tief war und man toll schwimmen konnte. Wir waren wohl sieben Jungs. Alle sind geschwommen und hatten Spaß, bis Heins Willi, der ist dann 1944 gefallen, auf die Idee kam, von einem Ast aus hineinzuspringen. Nur Pittchen hatte wieder Angst, und die anderen haben ihn ausgelacht, als er da oben saß und nicht gesprungen ist. Ich sehe ihn noch, wie er da hing.« Otto seufzte.
»Die schwarze Badehose vom Jungvolk war ihm viel zu weit und schlotterte an seinem dünnen Körper. Er hielt sich krampfhaft an den Ästen fest und schaute mich an. Voller Angst. Wie zwei braune Rehaugen. Sag was, schrien sie mir zu. Sag, dass ich nicht springen muss. Sie flehten richtig, doch ich war still. Hielt den Mund. Bockig wie ein dummer Esel. Soll er sich doch mal überwinden oder selbst aufgeben, hab ich mir damals gesagt. Die anderen johlten. Hasenfuß, Hasenfuß. Ein Wort hätte genügt, und alles wäre gut gewesen, aber ich schwieg. Er hat sich schließlich abgewendet. Enttäuscht über mich, alleingelassen.« Er machte eine Pause, bevor er weitersprach.
»Wie versteinert hat er nach unten aufs Wasser gestarrt und zum ersten Mal gekämpft. Er ist schließlich auch hinunter, doch genau wie einer, dem die Angst im Nacken sitzt. Ohne Schwung, Beine und Arme ungelenk von sich gestreckt ist er kopfüber runtergeknallt. Ich habe sofort gesehen, dass er zu dicht am Ufer war, und bin rein, bevor er wieder hochkam, um ihn an Land zu ziehen. Die anderen machten noch Witze. Als ich ihn rauszog, war Pittchen voller Panik, die Augen weit aufgerissen. Er konnte sich nicht mehr bewegen, sein Rückgrat war am Hals gebrochen. Das wussten wir aber noch nicht. Zwei sind los und haben einen Leiterwagen geholt, während ich bei ihm blieb.« Wieder schwieg er einen Moment.
»Ich hielt seinen Kopf auf meinem Schoß. Er sagte nichts, sondern sah mich nur an. Anklagend, voll tiefster Enttäuschung. Ich habe den Wagen fast allein gezogen. Vorneweg, um ihn nicht ansehen zu müssen. Bin gerannt wie ein Irrer, mehr um vor meiner Schuld wegzulaufen, als alles andere. Bis zum Ruwerer Krankenhaus unten, da wo jetzt der Kindergarten ist. Da ist er zwei Tage später gestorben. Erstickt. Ich bin nicht hin. Konnte einfach nicht. War zu feige. Seine Mutter ist dran kaputt gegangen. War völlig durchgeknallt. Sie sind irgendwann weggezogen. Keiner hat mir je die Schuld gegeben, aber ich spüre sie bis heute.« Er sah Lichthaus mit schmerzendem Blick an. »Los wird man das Gefühl nie, man lernt, damit zu leben. Pittchen geistert mir immer noch in den Träumen hinterher. Wir spielen, und jedes Mal mache ich den Mund auf, wenn er springt, und kann nichts sagen.«
Otto blinkerte mit den Augen. Er schenkte noch einen Schnaps ein und wiederholte sich.
»Lerne, damit zu leben.«
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