Müller weckte ihn am Morgen schon um kurz vor acht Uhr. Er hatte bis sechs Uhr nicht geschlafen und war dann vor Erschöpfung weggedämmert.

»Lichthaus. Was war da los?« Müllers Stimme war kühl. Ohne Gruß, ohne Bedauern schnarrte er los. »Der Präsident will uns sehen. Wir gehen um zehn zu ihm. Vorher legen Sie mir Ihr Protokoll vor.«

Lichthaus war auf der Hut. Müller würde jeden Bericht intensiv durchleuchten, um anderen die Fehler zuzuschieben. Vor einigen Jahren hatte er auf die gleiche Art seinen Vorgänger in ärgste Bedrängnis gebracht, als dieser einen V-Mann eingesetzt hatte, der fast getötet worden wäre. Müller hatte Kenntnis von diesem Einsatz, schob aber anhand der Protokolle die Probleme auf die Detailarbeit, so dass man dem Kollegen die alleinige Schuld zuschrieb.

»Ich habe keinen Bericht.«

»Wieso das denn?«

»Ich war erst um zwei Uhr zu Hause. Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, war ich bisher noch nicht in der Lage, irgendetwas zu schreiben. Sie werden warten müssen.« Sein Ton war unfreundlich und aggressiv. »Fragen Sie Frau Otten, die hat alles aufgenommen.«

»Ich will auch einen vorläufigen …«

»Vor zehn nicht. Wir sehen uns beim Präsidenten.« Er legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Der Kampf war eröffnet. Und eines war sicher: Müller würde jeden Hebel in Bewegung setzten, um schadlos davonzukommen.

Das Telefon klingelte wieder. Wut stieg in ihm auf, und er riss den Hörer ruckartig hoch. Doch es war Claudia. Ihre Stimme wirkte wie aus einer anderen, schöneren Welt. Einen Augenblick lang lauschte er einfach nur ihrem Klang, dann entspannte er sich und erzählte alles. Sie war schockiert und wollte sofort nach Hause kommen, aber er hielt sie davon ab, versprach ihr aber, sie laufend über den Stand der Dinge zu informieren.

Wenig später fuhr er ins Präsidium. Als er aus dem Haus trat, gingen die Eitelsbacher zur Kirche. Sie hatten keinen eigenen Pastor mehr, der regelmäßig die Messe in der kleinen Kirche las, doch hatten die Einwohner einen Fahrdienst eingerichtet, der einen Geistlichen im Ruhestand jeden Sonntag in einem Kloster abholte. Lichthaus beneidete sie alle um die sonntägliche Normalität. Aber er musste nun schnell handeln, brauchte einen Vorsprung, um die Diskussion aus sicherer Position führen zu können. Zuerst musste er den Einsatzplan holen und die bisherigen Ermittlungen rekapitulieren, um darlegen zu können, dass seine Schlussfolgerungen nur logisch waren.

 

Der Flur war menschenleer, was nicht bedeuten musste, dass die gesamte Etage verlassen war. In Marie Guillaumes Büro suchte er in den Postfächern. Es war stickig und der Staub segelte durch die Sonne, die wie zum Hohn heute wieder schien. Scherers Fach war leer, doch in seinem eigenen Postfach fand er das von Müller unterschriebene Protokoll, in dem er auch um mehr Beamten ersucht hatte. Er atmete auf, machte schnell eine Kopie, um sie auf dem Postweg an Cornelia Otten zu schicken.

Es würde nicht einfach werden. Der Präsident war ein typischer politischer Beamter. Aalglatt und blitzschnell, sofern es darum ging, sich Ärger vom Hals zu halten. Er würde versuchen, dass einem anderen die Schuld zugewiesen würde, egal mit welchen Mitteln. Wenn Lichthaus eine Chance haben wollte, musste er die Fakten so einsetzen, dass augenscheinlich Müller und nicht er die Lage falsch eingeschätzt hatte.

Auf dem Gang klopfte er einem Impuls folgend an Marx’ Tür und drückte die Klinke. Zu seiner Überraschung sprang die Tür auf, und er stolperte hinterher.

Marx saß am Schreibtisch und starrte ihn aus blutunterlaufenen Augen an. Er trug noch dieselben Kleider wie am Vorabend und sah verheerend aus. Das Hemd stand halb offen und die Haare klebten schweißnass am Kopf. An seinem unrasierten Kinn rann wie bei einem sabbernden Greis ein dünner Faden Speichel herunter. Er schien es nicht einmal zu bemerken. Vor ihm auf der Schreibtischplatte lag seine Pistole.

Lichthaus zögerte, dann trat er ganz ein und schloss die Tür. »Ich bin gekommen, um mich bei Ihnen zu entschuldigen«, seine Stimme war rau.

Marx lachte laut auf, verzweifelt und klagend. »Wofür? Sie hatten doch Recht.« Er schluchzte auf und stierte wie irr umher, wobei er sich mit der Hand ununterbrochen über den Mund wischte. »Ich hab ihn allein gelassen. Wäre ich da geblieben, würde er noch leben.« Er griff zur Pistole und starrte sie an. Er war stocknüchtern und gefährlich nahe dran, sie zu benutzen.

Lichthaus setzte sich langsam auf einen Stuhl. Er ließ sein Gegenüber nicht aus den Augen. »Das macht ihn auch nicht wieder lebendig, doch wenn hier jemand schuldig ist, dann bin ich das. Sie sind krank, und ich hätte wissen müssen, dass Sie nicht den ganzen Abend durchstehen können.«

Marx blickte auf. Verstehen im Gesicht. Lichthaus erreichte ihn, er hörte zu.

»Was ich gestern zu Ihnen gesagt habe, war falsch. Sie sind nicht schuld. Ich hätte Sie nicht in ein Team stecken dürfen. Sie sind alkoholkrank.«

»Unsinn. Er war mein Partner«, flüsterte er.

Lichthaus schwitzte. »Bei aller Trauer, die ich auch empfinde, Scherer hat sich entgegen meinen Anweisungen dem Täter genähert. Ich hatte ihn ausdrücklich angewiesen, zwar dranzubleiben, aber auf Verstärkung zu warten. Ihnen kann man keinen Vorwurf machen. Sie sind nicht schuld.«

»Aber …« Marx war verwirrt und schaute ihn fragend an.

Lichthaus nutzte den Augenblick, langte hinüber, nahm ihm langsam die Pistole aus der Hand und sicherte sie. »Die nehme ich mit. Marx, ich brauche Sie im Team, sonst geht uns dieses Dreckschwein durch die Lappen. Sie waren auf der Toilette. Das steht in allen Berichten und dabei bleibt es.«

Marx saß zusammengefallen da. Die Krise war vorbei, doch er war entsetzlich gezeichnet. Plötzlich straffte er sich. »In Ordnung. Und danach gehe ich in Entzug.«

*