Die Simeonstraße 44 war ein großes Geschäftshaus direkt gegenüber der Einmündung in die Glockenstraße, die man von hier aus gut einsehen konnte. Im Erdgeschoss befand sich ein Schuhgeschäft, dessen Verkäuferinnen gerade dabei waren, die Angebotsware vor dem Eingang aufzubauen. Sie lächelten Lichthaus und Sophie Erdmann freundlich an. Obwohl es noch früh war, strömten unzählige Touristen durch Trier, die vor der großen Mittagshitze ihre Besichtigungstouren abspulten. Gleich neben dem Schaufenster lag die schmale Haustür. Sophie Erdmann suchte kurz und drückte auf die Klingel.
»Ja?« Die Stimme Richard Leys knarrte metallen durch den Lautsprecher.
»Guten Morgen, Herr Ley«, begann Lichthaus. »Mein Name ist Lichthaus von der Kripo, wir hatten …«
»Kommen Sie rauf. Erster Stock«, schnarrte die Stimme und der Türsummer brummte. Das Haus war modern mit Aufzug und neuer Treppe ausgebaut. Richard Ley war ein hagerer, hochgewachsener Mann von siebenundachtzig Jahren, wie Lichthaus aus den Akten wusste. Er fixierte die beiden mit einem ungemein wachen Blick, bat sie herein und stellte seine Frau vor, die klein und rundlich das genaue Gegenteil ihres Mannes war. Die Wohnung war großzügig geschnitten und geschmackvoll eingerichtet.
»Nehmen Sie doch bitte Platz.« Sie setzten sich auf eine Couchgarnitur am Fenster. Auf einer Anrichte standen Fotos. Auf diesen war ein junger Richard Ley neben anderen Männern zu sehen – in der Fliegeruniform der Wehrmacht. Ein Pilot.
»Was kann ich für Sie tun? Ich dachte, ich hätte Ihren Kollegen bereits alles gesagt.«
»Schon«, begann Lichthaus, »aber Sie sind unser einziger Zeuge, und aus dem Protokoll der Beamten gehen bestimmte Details nicht eindeutig hervor, die sich inzwischen als wichtig für uns erwiesen haben. Also, könnten Sie uns bitte noch einmal erklären, was sich zugetragen hat, als Sie ans Fenster traten?« Richard Ley lehnte sich entspannt zurück.
»Zuerst hörte ich lautes Grölen. Betrunkene, da war ich mir ziemlich sicher. Ich bin ans Fenster, doch die waren schon weg. Etwas später ist das Mädchen gekommen. Sie ging mitten auf der Straße und schaute sich mehrfach um.«
»Sie fuhr nicht mit dem Rad?« Lichthaus war überrascht.
»Nein. Sie war zu Fuß unterwegs und hatte eindeutig Angst.«
»Wir sind bislang davon ausgegangen, dass Eva Schneider das Rad benutzt hat, um nach Hause zu fahren.«
»Also hier hatte sie kein Fahrrad dabei. Doch sie hat etwas gerufen.«
»Konnten Sie verstehen, was sie gesagt hat, oder waren nur einzelne Wörter zu hören?« Sophie Erdmann protokollierte die Befragung.
Ley dachte angestrengt nach. »Nun, ich höre nicht mehr so gut, aber ich glaube verstanden zu haben: Mir reicht es!«
»Was geschah dann?«
»Sie zögerte einen Augenblick und rannte schließlich die Straße hinunter. Ich habe mich noch gefragt, wovor sie solche Angst hat, aber wissen Sie, wenn man hier mitten in der Stadt wohnt, gewöhnt man sich an einiges.«
Lichthaus fasste nach: »Sonst nichts?«
»Nur der Mann, der anschließend gelaufen kam.«
»Welcher Mann?«, unterbrach Lichthaus ihn. »In unseren Unterlagen ist hiervon nichts vermerkt.«
»Ich habe es Ihren Beamten aber erzählt«, erwiderte Ley knapp. »Also, ein Kerl kam aus Richtung Hauptmarkt die Simeonstraße entlang. Trotz der Entfernung wirkte er ziemlich groß, bestimmt über 1,90 Meter. Er hatte es eilig, wäre mir nicht weiter aufgefallen, wenn er nicht so einen weiten Mantel getragen hätte und gelaufen wäre. Im Sommer, habe ich mir gedacht, wie komisch.«
»Ja, das ist in der Tat merkwürdig. Haben Sie sonst etwas bemerkt?«
»Irgendetwas war mit dem, aber ich kann es nicht mehr fassen. Tut mir leid. Ich bin kurz danach wieder ins Bett. – Wieso läuft so ein Mädchen auch mitten in der Nacht allein durch die Gegend? Früher hätte es das nicht gegeben.« Er sah die Beamten fragend an, doch die reagierten nicht.
»Um wie viel Uhr haben Sie die junge Frau eigentlich gesehen?«
»Das war Punkt drei, die Domuhr hatte gerade geschlagen.«
Sie unterhielten sich noch eine Weile, dann brachen sie auf. Im Hinausgehen trat Lichthaus an das Fenster, um die Perspektive Leys einzunehmen. Er versuchte, sich die verängstigte Eva Schneider dort unten vorzustellen, doch wollte ihm das am helllichten Tag und mit Hunderten von Passanten nicht so recht gelingen.
Im Präsidium sah er bei Steinrausch vorbei. Der hatte bereits mehrere Überwachungskameras ausfindig gemacht, die zumindest einen Teil der Innenstadt aufzeichneten. Jetzt telefonierte er mit einem der Besitzer, dem Geschäftsführer eines Juwelierladens, wegen der Aufnahmen. Daher ging er weiter zu Scherer ins Büro und fragte nach den Aussagen der Frauenärztin. Eva Schneiders letzter Termin lag allerdings so lange zurück, dass die Ärztin nicht mit Bestimmtheit eine Schwangerschaft ausschließen konnte. Andererseits nahm das Mädchen die Pille, und außerdem hatten Oliver Heitmann und Evas Freundin, Anne Minneger, eine Schwangerschaft für absolut unwahrscheinlich gehalten. Lichthaus hakte diese Möglichkeit ab. Wenn Eva abgehauen war, dann sicherlich aus einem anderen Grund.
Der Trierische Volksfreund hatte die Vermisstenanzeige geschaltet. Offensichtlich gab es in der Sommerpause wenig Lokales zu berichten, so dass man nicht nur die üblichen dürren Zeilen aus der Pressemitteilung kopiert, sondern sogar einen redaktionell aufgearbeiteten Artikel samt Foto gebracht hatte. Lichthaus hoffte, dass sich hier neue Ansätze ergaben. Eigentlich konnte er im Augenblick nur noch warten, doch ihm brannte der Fall unter den Nägeln. Er griff zum Telefon und rief Marx an, der aber noch keine Neuigkeiten hatte. Die Wasserschutzpolizei hatte Mosel und Saar abgesucht, jedoch nichts gefunden. Auch an den Schleusen war keine Leiche angetrieben worden. Lichthaus überlegte kurz, ob er noch Taucher anfordern sollte, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Sie hatten keine Hinweise, also wussten sie auch nicht, wo genau sie suchen sollten. Blinder Aktionismus half allenfalls, seine Ungeduld zu befriedigen. Fahndungstechnisch liefen sie in eine Sackgasse. In Eva Schneiders Umfeld gab es keine Anzeichen dafür, dass sie einfach abgehauen war. Er sah ein, dass er die Ergebnisse der laufenden Aktionen abwarten musste, und verbrachte den Rest des Tages lustlos mit Verwaltungsaufgaben und Uraltfällen, vor denen er schnellstmöglich nach Eitelsbach floh.
Müde und abgespannt kam Lichthaus nach Hause. Der Nachmittag hatte ihn mitgenommen und sein Kopf dröhnte. Claudia saß im Wohnzimmer und prüfte eine Liste mit Bildtiteln. Sie schaute auf, lächelte und gab ihm einen Kuss.
»Wie war es heute?«
Er zog eine Grimasse. »Mies. Wir kommen einfach nicht weiter.«
»Du denkst daran, dass am Samstag meine Eltern zum Frühstück kommen?«
Er nickte und ging nach oben, um kalt zu duschen. Eine Viertelstunde später saßen sie im Auto und fuhren nach Trier.
In Leos Galerie lieferten sie die Bilder ab, die Claudia bereits am Nachmittag verpackt und in ihr Auto geladen hatte. Zu Lichthaus’ Überraschung hielt Leo sich an die Absprachen. Er hatte einen großen Raum für Claudias Bilder freigemacht, damit jedes für sich auf den Betrachter wirken konnte. Da Henriette wach, aber nicht hungrig war, kümmerte er sich um die Kleine. Seine Frau und der Galerist hängten derweil die Bilder in die gewünschte Reihenfolge. Wie immer nahm das viel Zeit in Anspruch. Claudia war in Bezug auf ihre Bilder unglaublich pingelig. Neben Gemälden fertigte sie mit Vorliebe Holzdrucke an. Lichthaus hatte dabei schon erlebt, wie sie einen fertigen Holzschnitt wütend wegwarf, da er an einer winzigen Stelle verschnitten war. Wie nicht anders zu erwarten, gerieten die beiden in Streit. Claudia drohte sogar, die Vernissage platzen zu lassen, wenn eines der Bilder nicht ein bisschen höher gehängt würde. Lichthaus konnte den Starrsinn seiner Frau in solchen Augenblicken nicht verstehen und verdrückte sich nach draußen.
Als er in die Galerie zurückkam, hatten sich die Gemüter beruhigt. Die Bilder hingen an ihrem Platz und auch der Ablauf der Vernissage schien geklärt zu sein. Der Trierische Volksfreund würde sogar eine Kulturreporterin schicken.
Später aßen sie auf dem Kornmarkt einen Salat. Die Restaurants am Platz waren bis auf den letzten Stuhl besetzt. Ein Summen umgab sie wie in einem Bienenstock.
»Was ist eigentlich mit Eva Schneider?«, begann Claudia.
Lichthaus seufzte. »Nichts. Wir haben das gesamte Umfeld durchleuchtet und drehen jeden Stein um, haben aber keine konkrete Spur gefunden. Auch auf den Zeitungsartikel hat bisher niemand reagiert.«
»Und wie geht es jetzt weiter?«
»Wir suchen weiter die Mosel ab, und Steinrausch wertet Überwachungskameras aus, die etwas aufgezeichnet haben könnten. Bisher gab es von ihr keine Kontenbewegung, keine Mail. Sie ist verschwunden. Uns bleibt nur abzuwarten und zu hoffen, dass …«
»… ihr eine Leiche habt«, beendete sie seinen Satz.
»… sie vielleicht wieder auftaucht«, wich er aus.
Claudia verdrehte die Augen. »Wo soll sie denn herkommen, wenn selbst ihr sie nicht finden könnt?«
Lichthaus zuckte mit den Schultern. »Was wir brauchen, sind neue Anhaltspunkte. Wir stecken nicht in einer Sackgasse, sondern stehen orientierungslos im Nebel.«
»Du meinst, du brauchst ihre Leiche?«
»Ja, auch das«, gab er resigniert nach.
»Du rechnest also doch mit so was?«
»Seit heute ja. Sie ist bis zur Glockenstraße gegangen und hatte allem Anschein nach vor jemandem Angst. Durchgebrannt ist sie nicht, da bin ich mir eigentlich sicher, und einen Unfall hätte man uns gemeldet. Was also sonst? Außerdem können wir nicht nachvollziehen, wieso sie mit dem Rad losfährt und dann zu Fuß unterwegs ist. Was ist da geschehen?«
Claudia wusste keine Antwort und schaute ihn ratlos an.
Sie wechselten das Thema, um sich die Stimmung nicht zu verderben, und brachen erst dann auf, als unvermittelt ein Gewitter losbrach.
In dieser Nacht lag Lichthaus lange wach, nachdem ihn ein Donnerschlag geweckt hatte. Irgendwann stand er auf und schaute im Kinderzimmer nach Henriette. Dann ging er in sein Arbeitszimmer. Es war winzig, mit Dachschräge und kleinem Flächenfenster. Platz war nur für seinen Schreibtisch und den Computer. Leise öffnete er das Fenster einen Spaltbreit und ließ die frische Gewitterluft hinein. Sie roch würzig, und er genoss die Abkühlung. Regen setzte ein und rauschte mit beruhigender Gleichmäßigkeit das Dach hinunter. Gelangweilt blätterte er alte Zeitschriften durch, als ihm das Gespräch mit Ley durch den Kopf ging. Der Mann im Mantel war die Simeonstraße entlanggelaufen. Sie mussten also auch bis zur Porta Nigra nach Kameras suchen. Irgendwann legte er sich wieder ins Bett und lauschte dem ruhigen Atem seiner Frau. Es dauerte lange, bis er endlich einschlief.
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