Matthias Lautwein wälzte sich auf die Seite und schaute auf die Anzeige des Radioweckers, die ihn vom Nachttisch her grün anleuchtete. Halb zwei. Er konnte häufig nicht schlafen, was ihn aber nicht störte. Es war schön, ruhig in der Dunkelheit zu liegen und dem Licht zuzuschauen, das durch die nicht ganz herabgelassenen Rollläden ins Schlafzimmer des Pfarrhauses sickerte. Für ihn wirkten die Ruhe und das Dämmerlicht regelrecht bewusstseinserweiternd. Niemand hatte ein Anliegen, bat um ein Gespräch oder rief ihn an. Niemand wollte von ihm Entscheidungen für die noch so banalsten Fragen, etwa ob die Kerze auf dem Altar rot zu sein habe oder weiß. Er konnte ungestört den Tag reflektieren und fand so oft Lösungen für komplizierte Probleme.

Schon seit über zwei Jahren war er nun Pfarrer hier in diesem Vorort von Mainz. Dabei war er erst vierunddreißig. Das ging heute alles so schnell in der katholischen Kirche. Fachkräftemangel würden es die Wirtschaftswissenschaftler nennen. Vor nicht einmal vier Jahren war er im Mainzer Dom zum Priester geweiht worden. Mit dem Gesicht nach unten hatten er und drei weitere Kandidaten im Altarraum gelegen, bevor der Bischof ihnen die Weihe erteilte. Er konnte noch jetzt den kühlen Boden an der Stirn fühlen. Eine Station als Vikar und schon war er hier gelandet. Für ihn war es die Erfüllung eines lang gehegten Traums. Seine eigene Pfarrei, ein Leben gewidmet der Seelsorge.

Der Entschluss, Priester zu werden, war langsam in ihm gereift, bis er bereit war, ihn umzusetzen. Weder das schwere Studium in Mainz noch die Vorstellung, ein Leben ohne Frau und Familie führen zu müssen, hatten ihn dann noch davon abhalten können. Die Weihe war wohl der größte, nun jedenfalls fast der größte Augenblick seines Lebens gewesen. Einen winzigen Augenblick lang hatte er geglaubt, Gott persönlich stünde neben ihm.

Die Anfangszeit in der Pfarrei war schwer gewesen. Er hatte die Rangeleien zwischen den aktiven, jedoch durchweg alten und zumeist weiblichen Gemeindemitgliedern unterschätzt. Sprach er mit der einen länger als mit der anderen, war diese eingeschnappt.

Erst die gleichmäßige Verteilung sowohl seiner Aufmerksamkeit als auch der zu erledigenden Arbeiten auf alle hatte die Wogen zu glätten vermocht und ihm den Weg zu einem seelsorgenden Gemeindepfarrer geöffnet. Er genoss es, hier gebraucht zu werden, Gottes Segen und Wort zu verkünden und die Jugendarbeit zu organisieren. Zwischenzeitlich organisierte er einmal im Jahr eine Fahrt nach Rom, wo er studiert hatte und sich bestens auskannte.

Christine würde diesen Oktober auch mitfahren. Christine, die Frau, mit der er seit einem Jahr schlief.

Pfarrer Matthias Lautwein drehte sich vorsichtig im Bett herum und schaute zu, wie sich ihr Brustkorb langsam und gleichmäßig hob. Sie blieb selten über Nacht bei ihm und ging immer vor dem Morgengrauen. Hinten durch den Garten verschwand sie unsichtbar für neugierige Blicke, auf den Parkplatz des riesigen Wohnblocks, an den der Pfarrgarten stieß.

Christine hatte eines Nachmittags, es war Rosenmontag, an der Tür geklingelt. Verweint, mit roten Augen hatte sie um ein Gespräch gebeten und ihn völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Nur einen Augenblick hatte es gedauert und sein pastoraler Schutzschild war zerbrochen. Der unbändige Wunsch hatte ihn durchdrungen, diese Frau haben zu dürfen. Er musste sie angestarrt haben, denn sie schaute überrascht auf, als sie seinen Blick spürte.

Christine war keine auffallende Schönheit. Mittelblond, andere hätten hellbraun gesagt, fiel ihr Haar glatt auf die Schultern. Sie war nicht groß, noch hatte sie eine überwältigende Figur oder ein besonders markantes Gesicht, doch ihre braunen Augen hatten ihn aufgesogen. Er hatte augenblicklich jeden Mann beneidet, den sie damit verliebt anschaute. Dann hatte er sich gefangen und mit aller Kraft zusammengerissen, hatte sich hinter der Würde seines Amtes versteckt und auf die Routine gesetzt. Ihr Vater war tags zuvor gestorben, und sie bat ihn, die Beerdigung zu übernehmen, da es der ausdrückliche Wunsch des Verstorbenen gewesen sei. Sie unterhielten sich lange über den Toten und den Tod, doch für ihn verkörperte sie das Leben mit allen wundervollen Geheimnissen, die sich ihm bislang nicht offenbart hatten. Er hatte gespürt, wie er sich verliebte, und es wehrlos geschehen lassen. Als sie dann ging, wurde ihm die Leere des Pfarrhauses überdeutlich bewusst. Heute fiel es ihm schwer, das nachzuempfinden.

Draußen fuhren Autos vorbei und hielten am Ende der Straße an. Die Motoren erstarben und die Ruhe senkte sich wieder über das Viertel.

Er hatte die Beerdigung gut gemeistert. Hatte den Angehörigen sein Beileid ausgesprochen, war dann schnell unter dem Vorwand weiterer Termine verschwunden, die er absichtlich so gelegt hatte. Christine vergessen konnte er hingegen nicht. Er arbeitete mehr als zuvor und befreite sich von dem Verlangen, sie wiederzusehen, doch nach einer Woche stand sie abermals vor seiner Tür. Sie kam, um sich zu bedanken, und brachte ihm eine Flasche Wein. Er hatte sie hereingebeten und Frau Schneider, die Pfarrsekretärin, hatte ihnen Kaffee gekocht. Die Unterhaltung hatte sich vordergründig um die Trauerarbeit und Christines Mutter gedreht, während er die Gelegenheit nutzte, ihren Anblick, ihr Lächeln und ihre Stimme zu trinken.

Zwei Tage später hatte es ihn an den Rhein gezogen. Er war passionierter Radfahrer und spulte wöchentlich seine einhundertzwanzig Kilometer ab, oft auch im Keller, wenn die Arbeit ihm erst nach Einbruch der Dunkelheit Zeit ließ. Hier hatten sie sich getroffen. Zufällig. Seine Sportkleidung hatte seine, aber auch ihre Befangenheit weggewischt, gerade so, als ob er sein Priesteramt an der Garderobe abgegeben hätte. Sie lud ihn zu sich nach Hause ein, und er ging einfach mit. Sie tranken ein Glas Wein, aßen etwas und lachten viel. Beim Abschied legte sie ihm einfach ihre Arme um den Hals und küsste ihn sanft. Seine Lust war explodiert. Der unbewusst aufgestaute Druck jahrelanger Enthaltsamkeit war aus ihm hervorgebrochen wie ein längst erloschen geglaubter Vulkan. Er hatte sich nicht seiner Erektion geschämt, noch auch nur einen Augenblick gezögert, ihr ins Schlafzimmer zu folgen, was ihn später zutiefst verstört hatte. Die Wärme ihres Körpers und ihr zärtliches Verlangen waren berauschend gewesen, und als er in sie eindrang, wusste er, dass Gott dies nicht hatte werden lassen, um darauf zu verzichten.

Bis in den frühen Morgen war er geblieben, und erst als er zurück im Pfarrhaus war, schlug sein schlechtes Gewissen zu. Er war in die Kirche gelaufen und hatte sich vor den Altar niedergeworfen, hatte den Hauch des Weihrauchs wahrgenommen und zu Gott gefleht. Nicht um Verzeihung, sondern um den rechten Weg, um ein Zeichen, doch Gott war stumm geblieben. Also hatte er einfach weitergemacht mit der Pfarrei und mit Christine, auf die er nicht mehr verzichten konnte und auch nicht wollte. Sie trafen sich seitdem regelmäßig. Oft bei ihr und nur ganz selten, so wie heute, hier im Pfarrhaus.

Unten an der Haustür wurde geläutet. Ungeduldig, keine Verzögerung akzeptierend. Christine war augenblicklich wach, doch er bedeutete ihr nur, liegen zu bleiben. Es kamen öfter Menschen in der Nacht. Häufig Angehörige, die um die letzte Ölung eines Sterbenden baten, aber auch Verzweifelte, deren Ehe zerbrach, deren Körper sie im Stich ließ, und all die Einsamen, die es in der Stille um sie herum nicht mehr aushielten. Er hörte ihnen zu. Stundenlang und spendete Trost, organisierte Hilfe. War Seelsorger. Mit oder ohne Frau an seiner Seite, wo war der Unterschied?

Er schlüpfte im dunklen Zimmer in eine schwarze Jeans und zog sich ein T-Shirt über, dann ging er hinaus. Das Pfarrhaus war alt und die Treppe knarzte leicht, als er hinabging. Durch den Glaseinsatz der Tür erkannte er eine Person, die davor stand, ein Mann. Groß und massiv wirkte sein schattenhafter Umriss.

Matthias Lautwein spürte den kalten Plattenboden unter seinen nackten Füßen, als er den Riegel zurückzog und das Schloss öffnete. Was dann folgte, hätte er sich niemals vorstellen können und überwältigte ihn später auch in der Erinnerung immer wieder. Die Haustür wurde mit großer Gewalt aufgedrückt und zwei Gestalten, schwarz gekleidet und mit einer Art Strumpfmaske über dem Kopf, stürzten herein. Er schrie nicht einmal. Die beiden packten ihn rüde, verdrehten seine Arme und zwangen ihn mit dem Gesicht nach vorne auf den Boden. Einer stemmte ihm das Knie in den Rücken, als wollte er alle Luft aus seinen Lungen pressen.

»Was …«, brüllte er los, kam aber nicht weiter, denn eine behandschuhte Hand verschloss ihm den Mund.

»Objekt gesichert«, ließ sich eine gedämpfte Stimme hören.

Es kamen noch mehr Personen herein, dann wurde die Haustür geschlossen und Lautwein auf die Beine gezerrt und in die Küche geschleppt. Jemand machte Licht.

»Was …« begann er wieder, als ihn eine harte, metallene Stimme unterbrach.

»Matthias Lautwein?«

»Wer sind Sie?«

»Die Fragen stelle ich. Mein Name ist Müller. Wir sind von der Polizei. Sind Sie Matthias Lautwein?«

In ihm rangen Wut und Angst miteinander. Er entschied sich zur Vorsicht. »Ja. Was wollen Sie in meinem Haus? Können Sie nicht an die Tür eines Pfarrhauses kommen und höflich um ein Gespräch bitten, das ich Ihnen niemals verwehrt hätte?«

Seine Augen hatten sich an das Licht gewöhnt, und er schaute sich um. Die beiden Kerle mit Strumpfmaske standen hinter ihm. Vor ihm hatte sich ein großer Mann in Anzug und Krawatte aufgebaut. Einen freundlichen Herrn hätte er ihn genannt, wenn da nicht diese arktisch kalten Augen gewesen wären. In der Küche lehnten zwei weitere Beamte an der Arbeitsplatte. Eine junge, gut aussehende Frau, die ihn neugierig musterte, und ein kleiner Kerl, etwas dicklich. Er schaute sich verlegen um, fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Ein Katholik alter Prägung. Er wäre jede Wette eingegangen.

»Wo waren Sie in der Nacht vom 16. auf den 17. August?« Müller starrte ihn an.

Lautwein war verwirrt. »Woher soll ich das wissen? Hier in meinem Bett denke ich. Wie üblich.«

»Und das kann natürlich keiner bezeugen.«

»Nein, das wird Ihnen niemand bezeugen.« Er hatte seine Antwort absichtlich so formuliert. Sollte Christine hier gewesen sein, hätte er nicht einmal gelogen. Müller schien den kleinen Unterschied nicht zu bemerken, doch die junge Frau schaute kritisch.

»Sie sollten sich aber erinnern.«

»Worum geht es eigentlich?« Langsam fing er sich.

»Um ein Kapitalverbrechen. Wo waren Sie in der Nacht vom 27. auf den 28. August?«

»Ich weiß es nicht.« Seine Verwirrung schwoll an. Neue Daten, neue Fragen und kein Warum. Er war es nicht gewohnt, unter Druck gesetzt zu werden, und spürte, wie die Angst in ihm hochkam. »Sagen Sie mir doch bitte, was Sie wollen.«

Seine Stimme wurde flehentlich, doch der Mann gegenüber ging nicht auf ihn ein. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Triumph.

»Sie geben mir keine Antworten.« Er beugte sich nun vor und schrie. »Sie stehen unter Tatverdacht. Wo waren Sie also am 16. August?«

»In meinem Bett.«

Alle wirbelten herum. Christine stand in der Tür. Sie hatte nur die Jeans und das T-Shirt an, und jeder konnte sehen, dass sie keinen BH trug. Müller war aus dem Takt und suchte einen Augenblick nach Fassung. »Und wenn Sie es ganz genau wissen wollen, er hat mit mir geschlafen.« Ihre Augen waren voller Wut. Lautwein hatte sie noch nie so erlebt. Er war erleichtert, trotz der Brisanz ihrer Aussagen. Er würde sich hinter ihr verstecken. Feigling, schrie es in ihm. Es war egal.

»Ah. Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?« Der Kopf der Truppe wähnte sich zurück im Spiel. Eine Beziehung im Pfarrhaus. Eine ganz neue Perspektive.

»Dürfen Sie nicht.« Sie kam in die Küche und stellte sich neben Lautwein. Die vermummten Beamten traten zur Seite. »Wer sind Sie überhaupt, und was berechtigt Sie, hier einzudringen?«

»Wir …«

»Sie haben sich weder ausgewiesen, noch Herrn Lautwein über den Grund Ihres Eindringens in Kenntnis gesetzt. Nun, wo ist Ihr Ausweis?«

Die Gruppe sah sich betreten an. Schließlich zog Müller seinen Ausweis hervor und hielt ihn Christine hin, die ihn aufmerksam studierte.

»Also Herr Müller, was geht hier vor?« Der Raum war wie ein Boxring. Müller und Christine. Die anderen waren die Zuschauer.

»Wer sind Sie?« Seine Stimme war eisig.

»Christine Koppelmann. Für Sie Dr. Koppelmann.«

»Nun Frau Doktor …«

»Sie haben meine Frage immer noch nicht beantwortet.« Sie unterbrach ihn wieder. Das zeigte Wirkung.

Müller verlor langsam die Fassung. »Was fällt Ihnen ein, so mit mir zu reden?«

»Ich rede mit Ihnen, wie es mir passt. Und erst beantworten Sie meine Frage, bevor sich hier etwas tut.«

»Ich nehme Sie mit aufs Präsidium. Alle beide.« Müller schrie jetzt.

»Da bin ich aber gespannt auf Ihre Begründung.« Süffisant war sie, jedes ihrer Worte ein Peitschenschlag. »Sie unterlaufen hier eine Vorschrift nach der anderen. Der Staatsanwalt wird sich freuen. Nur zu Ihrer Information: Ich bin Staatssekretärin im Justizministerium und ärgere mich jeden Tag über aufgeblasene Beamte, die im Dienst die Grenzen überschreiten. Und wenn Sie jetzt nicht nach Vorschrift vorgehen, lernen Sie mich kennen.«

Lautwein starrte sie an. Die Härte, mit der sie vorging, erfüllte ihn mit Bewunderung, war ihm an ihr aber fremd. Doch dann erkannte er, was sie tat. Druck aufbauen, um sich, aber vor allem auch ihn zu schützen, unabhängig von allen Vorwürfen, die im Raum standen.

Müller gab sich geschlagen. Er schluckte zweimal kräftig, bevor er sie ins Bild setzte. Sie hatten das alte Video einer Überwachungskamera aus Wiesbaden ausgewertet und das Kennzeichen eines verdächtigen PKWs feststellen können. Der Wagen war auf seinen Namen gemeldet. Lautwein war anfangs verwirrt, doch letztendlich klärte sich alles auf. Er hatte den Wagen vor seinem Auslandsjahr in Rom verkauft, hatte – naiv, wie er nun einmal war – dem Käufer vertraut, nicht einmal einen Vertrag gemacht und sich darauf verlassen, dass der neue Besitzer den Wagen ummeiden würde. Das hatte er aber wohl nicht gemacht, oder vielleicht nicht sofort.

Lautwein ging, begleitet von der jungen Beamtin, in sein Büro und fand, was er suchte. Sein altes Flugticket nach Rom, das er sich aus nostalgischen Gründen aufgehoben hatte. Er war zwei Tage vor der Videoaufnahme geflogen.

Müller starrte auf das Ticket und schaute dann seine Leute zerknirscht an. Er nickte kurz und stand auf.

»Herr Lautwein, wir prüfen das. Bis dahin nehmen wir Sie mit …«

»Nein. Hier geht niemand mit. Ihre Punkte sind alle abgearbeitet.« Christine hatte sich vor ihn gestellt, doch er sah, wie Müller beidrehte. »Morgen erhalten Sie eine Aussage von mir, die der Minister unterschrieben hat. Er ist über meine Liaison mit Herrn Lautwein informiert. Sollte hiervon etwas nach außen dringen, komme ich auf Sie zurück. Ganz nach Vorschrift via Dienstaufsicht. Das gilt auch für Sie.« Sie schaute die Beamten an, die schwach nickten. »Und jetzt gehen Sie bitte. Aber schnell.«

Sie verließen wortlos das Haus. Nur der Ältere, der die ganze Zeit schweigend dagestanden hatte, drehte sich noch einmal um. »Es tut mir leid. Das war beschämend«, dann ging auch er. Als die Tür zuschlug, nahm Lautwein Christine in den Arm und drückte sie an sich. Gott hatte ihm ein Zeichen gegeben.

»Danke.«

*