Als er allein war, sprang Lichthaus nervös auf und trat wie so oft ans Fenster. Der Tag war schwülwarm und wolkenverhangen. Die wenigen Passanten bewegten sich langsam wie unter einem schweren Gewicht. An solchen Tagen sehnte er sich in den Westerwald seiner Jugend zurück, wo so ein Wetter die absolute Ausnahme war.
Der Abschlussbericht der Gerichtsmedizin brachte keine Neuigkeiten. Eva Schneider war in der Nacht zum Mittwoch getötet worden. Güttler hatte Fotos der Leiche hinzugefügt, die das Ausmaß der Verletzungen umfassend dokumentierten.
Auch der Bericht der Spurensicherung bot wenig neue Erkenntnisse. Einzig das Reifenprofil konnte entschlüsselt werden. Es gehörte zu einem chinesischen No-Name-Produkt, das ausschließlich für Geländefahrzeuge benutzt wurde. Nun wussten sie also, nach welchem Fahrzeugtyp sie suchen mussten. Da jedoch keine Lackspuren auffindbar waren, blieb die Marke offen. Außerdem lag das Foto des gefundenen Knopfs bei. Er war relativ groß und grob aus Messing geformt. In der Mitte war ein roter Glasstein eingesetzt. Lichthaus griff zum Telefonhörer und rief Marianne Schneider an. Es tat ihm leid, sie mit einem Anruf belästigen zu müssen, und tatsächlich weinte sie sofort, als sie seine Stimme hörte, und es dauerte lange, bis sie sprechen konnte.
»Ich möchte mich für mein Verhalten von gestern entschuldigen. Ich …«
Er unterbrach sie. »Da gibt es nichts zu entschuldigen. Es steht Ihnen zu, so zu reagieren.«
Sie weinte wieder. »Wie kann ein Mensch zu so etwas fähig sein? Eva hat doch nichts getan.«
»Frau Schneider, solche Täter sind krank und müssen hinter Gitter. Aber wir brauchen Hilfe, um sie zu fassen. Ihre Hilfe.«
Sie hörte ihm zu. »Was kann ich denn machen?«
»Meine Fragen beantworten. Hatte Eva Knöpfe, die selbstgemacht waren?«
»Wie bitte?«
»Knöpfe aus Messing mit roten Glassteinen.«
»Nein. Nicht, das ich wüsste. Aber ich schaue gleich mal nach.«
»Gut. Überlegen Sie auch, ob Eva von Angst oder einer Bedrohung gesprochen hat. Hat sie einen Mann erwähnt, einen Verfolger?«
»Ich weiß es nicht. Ich rufe Sie an.« Sie legte grußlos auf.
Dann wählte er Oliver Heitmanns Nummer. Der Student war sofort am Apparat.
»Lichthaus hier. Es tut mir aufrichtig leid, was mit Ihrer Freundin passiert ist, und ich kann mir vorstellen, dass Sie das alles erst einmal verarbeiten müssen. Doch wir haben eine Frage, die ich mit Ihnen klären muss und die keinen Aufschub duldet.«
»Ja.« Seine Stimme klang wie die männliche Kopie von Marianne Schneider.
»Sie sprachen davon, dass Eva im Biergarten vor einem Mann Angst hatte. Hat sie ihn beschrieben?«
Hertmann schwieg einen Moment, er musste sich sammeln, seine Gedanken ordnen. »Groß und dunkel gekleidet. Mehr hat sie nicht gesagt. Als wir gingen, war er weg. Ich habe ihn nicht gesehen.«
»Das war es schon. Vielen Dank.« Er hängte ein und ging auf dem Weg ins Besprechungszimmer bei Steinrausch vorbei, doch das Büro war leer.
*
Als Lichthaus eintrat, saßen Cornelia Otten und Müller wie tags zuvor auf ihren Plätzen und unterhielten sich. Er wollte gerade die Tür hinter sich schließen, da kamen Scherer und Sophie Erdmann. Steinrausch und Marx fehlten noch.
»Herr Lichthaus, bitte.« Müller übertrug ihm die Leitung der Sitzung.
»Was können wir bisher sagen?« Er räusperte sich. »Der Täter ist vermutlich zwischen dreißig und vierzig Jahren alt und sehr groß. Er fährt aller Wahrscheinlichkeit nach einen Geländewagen mit Hängervorrichtung, um einen kleinen Bagger transportieren zu können. Ich gehe davon aus, dass er seine Opfer observiert, bevor er sie überfällt. Eva Schneiders Fahrrad wurde am Abend der Entführung gestohlen, so dass sie zu Fuß nach Hause gehen musste. Das hat der Täter sicherlich so arrangiert. Außerdem hat er die Möglichkeit, sein Opfer mehrere Tage festzuhalten, was darauf schließen lässt, dass er, wie die meisten Sexualtäter, allein lebt. Gesichert ist, dass er zwischen 2000 und 2001 in Wiesbaden seine DNA hinterlassen hat.« Er schaute auf die Uhr. »Steinrausch versucht gerade die Unterlagen heranzuschaffen. Vielleicht haben die einen Namen.«
»Glaube ich nicht, sonst wäre der Mistkerl vorsichtiger gewesen«, warf Cornelia Otten ein, und Lichthaus nickte ihr beifällig zu.
»Ich eigentlich auch nicht. Wie dem auch sei, wir sind ihm näher gekommen. Außerdem gibt es in Paderborn einen ähnlichen Fall, den wir aber nicht mit Bestimmtheit zuordnen können, da keine DNA vorliegt. Was mich interessiert, ist die Frage, wo der Täter in den vergangenen Jahren gelebt hat und warum zwischen den Taten eine solche Lücke klafft. Ob er eine Pause gemacht hat und jetzt wiederauftaucht oder ob er woanders sein Unwesen getrieben hat.«
»Sie denken an einen Serientäter?«
Noch bevor er antworten konnte, kam Steinrausch herein. »Nichts. Kein Name.« Er schaute in die enttäuschten Gesichter der Kollegen. »Ich habe den damals zuständigen Kommissar gesprochen. Die Spur wurde im Zusammenhang mit einer Serie von Vergewaltigungen gesichert. Ein Unbekannter hat damals in relativ kurzer Zeit fünf Frauen überwältigt und ihnen die Augen verklebt, sie missbraucht und geschlagen. Die Täterbeschreibung ist ziemlich ungenau, da nur ein Opfer, eine Stefanie Cordes, ihn kurz gesehen hat. Alle Frauen haben übereinstimmend ausgesagt, dass der Mann sehr groß war.«
»Das passt ja«, warf Müller ein. »Und was ist mit den Akten?«
»Die werden gerade gezogen. Leider sind sie noch nicht elektronisch archiviert. Sie sind wohl heute am späten Nachmittag da.«
»Wo ist eigentlich Marx?« Müller sah in die Runde.
»Er ist mit einigen Kollegen draußen und befragt die Anwohner der Glocken-, Sichel- und Kochstraße. So, weiter im Text: Wir haben einen einschlägig vorbestraften Mann namens Viktor Rosner aus der Datenbank gefiltert. Rosner passt auf das Täterprofil und wohnt im Umkreis. Ich werde ihn noch heute verhören. Meines Wissens war er zur fraglichen Zeit auf freiem Fuß.« Lichthaus warf Scherer einen Blick zu. Der nickte.
»Die Polizisten haben ihn nicht zu Hause angetroffen, er scheint aber nach Aussagen seiner Nachbarin im Weißhaus zu kellnern. Die Streife holt ihn gerade dort ab.«
»Wir sollten unser weiteres Vorgehen besprechen. Ich schlage vier Maßnahmen vor. Erstens: Das Verhör von Rosner. Das mache ich später mit Marx. Zweitens. Wir müssen diese Stefanie Cordes befragen. Persönlich. Es könnte doch sein, dass sie sich an Einzelheiten erinnert, die nicht in den Akten stehen.« Er wandte sich an Sophie Erdmann. »Ich spreche auf jeden Fall für morgen einen Termin ab. Wir fahren dann gemeinsam hin. Ich hätte Sie gerne als Frau dabei. Drittens muss sofort morgen früh die Anwohnerbefragung in und um Farschweiler anlaufen. Gesucht wird ein unbekannter Geländewagen mit Hänger, den ein großer Mann letzte Woche zwischen Dienstag und Donnerstag gefahren hat.«
»Und viertens«, ergänzte Sophie Erdmann, »sollten wir die Beschwerdeanzeigen durchsehen, ob nicht eine Belästigung gemeldet wurde. Wenn er Frauen observiert, dann fällt er auch mal auf.«
Lichthaus nickte. »Gute Idee. Also voyeuristische Beschwerden im Umkreis von fünfzig Kilometern. Könnten Sie das veranlassen, Herr Müller?«
»Ja. Das wird aber dauern. Manche Beschwerden werden nicht digital erfasst. Außerdem hinken einige Wachen wegen Personalmangels weit hinterher.«
»Die Aktion im Hunsrück schaffen wir nicht allein.« Er wandte sich an Müller und Cornelia Otten. »Wir sollten eine Soko einrichten und ein paar Kollegen zusammenziehen, die mit uns zusammenarbeiten.«
»Nun.« Müller zögerte einen Augenblick und Lichthaus schwante schon Übles, doch diesmal lenkte der Kriminaldirektor ein. »In Ordnung. Morgen stellen wir das Team zusammen.«
Die Pressekonferenz lief wie erwartet ab. In dem engen Raum wimmelte es nur so von Reportern, die eine Story witterten. Das Sprechen überließ er Cornelia Otten. Sie informierte die Wartenden darüber, dass die Leiche identifiziert worden sei und gab Eva Schneiders Namen bekannt. Außerdem wiederholte sie den Aufruf an die Bevölkerung, Verdächtiges sofort zu melden. Viele Fragen der Journalisten ließ Otten unbeantwortet und gab nur die Fakten weiter, die ermittlungstaktisch unkritisch waren. Nach einer halben Stunde war das Palaver vorüber.
*