Sebastian Elenz wühlte auf seinem Schreibtisch in den Protokollen, die er und seine zwei Kollegen in den vergangenen Monaten aufgenommen hatten, und verfluchte den anderen die Knochen. Nur Unordnung, keiner von beiden heftete etwas ab oder gab die wichtigen Daten in den Rechner ein. Nun musste er alles sortieren und würde sich dann wohl auch an die Erfassung machen. Der Stapel kam ins Rutschen, fiel vom Tisch und verteilte sich auf dem ganzen Boden. Mehrere Blätter rutschten unter den Schrank.
»Verdammt!« Er sprang auf und begann, leise vor sich hinfluchend die Protokolle wieder aufzuheben. Es waren so einige, obwohl sich die Beschwerden in Saarburg in Grenzen hielten. Elenz war der Jüngste der drei Beamten. Hans Breit und Bernhard Jüngling, der Leiter der Wache, taten seit etlichen Jahren ihren Dienst in Saarburg und würden bis zur Pensionierung bleiben. Sie fuhren heute Streife.
Breit, der eigentlich für einen Großteil der Papierflut zuständig war, weigerte sich einfach, für Ordnung zu sorgen. Elenz wollte hier weg und hatte sich daher begierig auf die Anfrage aus Trier gestürzt. Die hatten da drüben eine Tote und jetzt noch eine verbrannte Leiche und suchten nach Hinweisen in beiden Fällen. Er blätterte den Stapel der Beschwerden durch und fand nur Rüpeleien und Streitereien unter Nachbarn, aber keine Belästigungen von Frauen. Einen Moment zögerte er und wollte alles wieder auf Breits Schreibtisch werfen, doch dann ging er zum PC und begann seufzend die wenigen wichtigen Daten ins System zu tippen. Den Rest würde er abheften.
Der Morgen war bislang ruhig gewesen. Es goss seit einiger Zeit wie aus Eimern, und er trauerte jetzt schon dem Sommer nach. Gelangweilt schaute er den Sturzbächen zu, die sich vom Dach vor der Eingangstür auf die Treppe ergossen. Mittlerweile war er der Überzeugung, dass zwei Jahre auf dieser Wache reichten. Im Frühjahr hatte er sich für einen Lehrgang zum Kriminalassistenten angemeldet, doch ihr Chef, Hauptkommissar Rüdiger Hansen, er war Leiter der Polizeiinspektion hier in Saarburg, hatte ihn abgewürgt, dieses verdammte Arschloch. Er sei zu jung. So ein Blödsinn! Er war fünfundzwanzig und schon seit drei Jahren aktiv bei der Polizei, nachdem er das Studium an der Polizeihochschule mit sehr guten Noten abgeschlossen hatte. Aber Hansen konnte ihn nicht leiden, weil er ihm einmal vor allen Kollegen widersprochen hatte. Eigentlich eine Lappalie, doch Funk, ihr zuständiger Kriminaldirektor in Trier, war ebenfalls dabei gewesen und hatte ihm auch noch Recht gegeben. Hansens wütend funkelnde Augen hätte er noch heute malen können. Seitdem ging nichts mehr. Frustriert setzte er sich wieder und surfte gelangweilt im Internet. Er suchte seit längerem ein Auto. Schöne Karren waren schon zu haben, nur nicht für sein schmales Portemonnaie.
Als die Eingangstür aufging, sah er zwei Jugendliche mit klatschnassen Hosen und tropfenden Schirmen hereinkommen. Elenz stammte nicht aus Saarburg und kannte die beiden daher nicht. Der Junge war groß und kräftig gebaut, hatte eine pickelige Haut und schien von dem Besuch bei der Polizei wenig begeistert zu sein. Er schaute gelangweilt drein und hielt sich im Hintergrund. Das Mädchen, mittelgroß und kompakt, ohne dick zu sein, war eher der sportliche Typ. Er hatte sie schon einmal gesehen, konnte sie aber nicht zuordnen. Sie war hübsch, strahlte eine starke Persönlichkeit aus, die sie attraktiv machte. Sie trat an die Theke, schob sich eine Strähne feuchten Haars aus dem Gesicht und begann, ohne Umschweife zu sprechen.
»Guten Morgen, mein Name ist Simone Simons, und ich möchte eine Anzeige machen.«
»Worum geht es denn?« Er zog ein Formblatt hervor und begann zu schreiben.
»Gestern wurde ich von einem Mann in einem Fahrzeug verfolgt.« Elenz merkte auf.
»Ich habe den Typ verjagt. Der kommt sicher nicht wieder. Wir können uns das Ganze also sparen.« Der Junge schaute streitsüchtig seine Freundin an, die ihn nicht weiter beachtete. Elenz winkte die beiden zu einem Tisch mit PC.
»Mal von vorne. Zuerst brauche ich Ihre Personalien.«
Simone Simons und ihr Freund Dennis erzählten ihm, was sich in der Nacht zugetragen hatte. Elenz verfasste ein umfangreiches Protokoll, das ihn innerlich aufwühlte. Er sah deutliche Parallelen zwischen diesem Vorfall und dem gesuchten Sexualmörder. Der Geländewagen und die Observierung des Opfers schienen zu passen. Er bedankte sich bei den Jugendlichen und versprach, dass sich kurzfristig ein Kollege bei ihnen melden würde. Als die beiden fort waren, kopierte er das Protokoll und wollte es eben an die Mordkommission schicken, als er zögerte. Wenn er Hansen überging, könnte er sein Fortkommen abschreiben. Würde er ihn einschalten, könnte sich Hansen zwar das Lob selbst anheften, doch für ihn, Elenz, würde sich hoffentlich einiges verbessern. Wenn nichts an der Sache dran wäre, hätte ja Hansen sich zur Weitergabe entschieden, und er wäre nicht der Dumme. Andernfalls konnte er sich schon jetzt seinen Kollegen Breit vorstellen, wie er, den roten Kopf halb im Bierglas versunken, kehlig lachte und ihn wegen seines falschen Alarms aufzog.
Kurz entschlossen fertigte er ein knappes Anschreiben an Hansen und sandte ihm das Protokoll zwecks Überprüfung und Weitergabe zu.
*
Im Präsidium ging Lichthaus als Erstes zu Müller und erläuterte ihm den Stand der Dinge. Marx hatte bereits einen Bericht abgegeben, so dass der Chef über die Entwicklungen im Bilde war. Sie besprachen die Gründung der Sonderkommission. Es waren bereits fünfzehn Kollegen ausgewählt, die Lichthaus’ Team unterstützen würden. Außerdem genehmigte Müller ihm, einen Fallanalytiker hinzuzuziehen. Der Polizeidirektor stand unter Druck, denn die beiden Fälle zogen bereits Kreise. Für den kommenden Morgen war ein Termin beim Polizeipräsidenten angesetzt, an dem auch der Oberstaatsanwalt teilnehmen würde. Zur Vorbereitung vereinbarten sie eine Sitzung des Teams für den Nachmittag.
In seinem Büro angekommen, hatte sich Lichthaus noch nicht hinter den Schreibtisch gesetzt, als Steinrausch hereinkam. Er nahm wie immer ungefragt Platz.
»Es gibt etwas Neues. Die Befragung im Hochwald läuft noch, aber wir haben die ersten Ergebnisse. Ein Bauer kann sich erinnern, dass er am Freitag, bevor wir die Tote gefunden haben, oben bei Hinzert einen dunkelblauen Mitsubishi Pajero gesehen hat. Er war sich mit dem Typ ziemlich sicher, denn sein Schwager fährt auch so einen. Hinzert ist …«
»Bei Reinsfeld, ich war mal da. Konnte er den Fahrer erkennen oder die Nummer?«
»Moment«, Steinrausch räusperte sich. »Ein Mann mittleren Alters saß in dem Auto. Eine Nummer hat der Zeuge nicht gesehen, wohl aber, dass der Geländewagen unter der Autobahnbrücke durch in den Wald gefahren ist. Von dort aus kommt man zum Fundort. Ich habe das mit Marx geprüft. Außerdem«, er schaute triumphierend, »hatte er einen geschlossenen Hänger dabei.«
»Gut.« Lichthaus schöpfte etwas Hoffnung. »Wir lassen das Ganze durch die Kfz-Datenbank laufen. Das sollen die Neuen machen. Die fangen ja heute an.«
»Okay, ich geb’s weiter«, versprach Steinrausch, als er den Raum verließ.
Lichthaus’ Magen verabschiedete Steinrausch mit einem lauten Knurren und erinnerte ihn daran, dass er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Er beschloss, in die Kantine zu gehen, als Spleeth hereinkam. Der Mann sah aus wie sein eigener Schatten, dunkle Ringe unter blutunterlaufenen Augen, dazu kam seine gebeugte Haltung. Hatte Lichthaus gestern gedacht, dass Spleeth bereits am Ende sei, so musste er sich jetzt überzeugen lassen, dass es noch schlimmer ging. Hoffentlich sah er selbst nicht genauso aus.
»Ich habe hier den Bericht über das Brandopfer. Der Brandbeschleuniger war ein Gemisch aus mehreren Komponenten, die frei verkäuflich zu haben sind. Die Kleiderreste des Toten waren so verbrannt, dass wir hierzu keine Aussagen machen können.« Er blätterte müde in der dünnen Tatortmappe, die er mitgebracht hatte.
»Sonst nichts?« Lichthaus sah Spleeth erstaunt an, doch der schüttelte nur den Kopf. »Es hängt also alles an der Autopsie. Ich werde Güttler gleich anrufen.«
»Da wäre noch etwas.« Spleeth druckste herum. »Der Knopf aus dem Hosenaufschlag von Eva Schneider.« Er zog ein Foto und ein Fax aus seiner Mappe. »Ich habe gestern das Bild an besagtes Museum für Knöpfe in Thüringen gemailt.« Lichthaus schaute sich das Foto, eine starke Vergrößerung, genauer an, während Spleeth weitersprach. »Das Muster und die Machart des Knopfs sind eindeutig eine Kopie mittelalterlichen Handwerks. Der Leiter des Museums meinte, der Hersteller würde sich nicht besonders mit der Materie auskennen. Eine solche Form hätte er im Original noch nie zu Gesicht bekommen. Es fehlen auch epochentypische Stilmerkmale. Allerdings hätte er kürzlich auf einem Mittelaltermarkt ähnliche Knöpfe gesehen. Er rät uns, lokale Vereine anzusprechen, die öfter auf solchen Veranstaltungen auftreten und ihre Ausrüstung meistens selbst herstellen.«
»Ich gebe die Sache an Steinrausch weiter, der kennt sich mit so etwas am besten aus.«
Spleeth gab ihm die Unterlagen und stand auf, doch Lichthaus hielt ihn auf.
»Haben Sie im Fall Schneider noch andere Ergebnisse?«
»Winkelmann sitzt am Bericht. Es ist aber nicht mehr viel rausgekommen. Die Mikrospuren sind in der Auswertung, doch auch das wird nicht viel bringen, andererseits haben wir das Sperma. Den Lehm, den wir gefunden haben, gibt es hier überall. Eine genaue geographische Eingrenzung ist leider nicht möglich. Am Schuhprofil arbeiten wir noch.«
Lichthaus stöhnte auf. »Was ist denn mit der Baggerschaufel?«
»Das nennt man Löffel«, belehrte ihn Spleeth.
Lichthaus ließ gereizt die Hände auf den Tisch knallen. »Na von mir aus: Der Löffel.«
Spleeth blieb ungerührt. »Der Löffel ist ein Standardersatzteil. Hängt an jedem zweiten Greifarm. Dieser ist allerdings an einer Stelle beschädigt. Wenn ihr uns den Bagger bringt, können wir ziemlich sicher sagen, ob damit an der Fundstelle gegraben wurde.«
«Beweise gegen den Täter werden wir also genug haben. Wenn wir ihn nur fassen können …«
»Euer Job«, war Spleeths Kommentar, bevor er hinausschlurfte.
Sein Magen fand diesmal keine Erwiderung, trotzdem machte Lichthaus sich endlich auf in die Kantine. Zurück in seinem Büro rief er Güttler an, doch eine Mitarbeiterin teilte ihm mit, dass der Gerichtsmediziner den Körper des Toten gerade geöffnet hätte und daher nur schlecht zum Telefon kommen könne. Ohne aufzulegen wählte er eine Nummer in Mainz.
»Richter.«
»Hallo Klaus, hier ist Johannes Lichthaus.«
»Ach, ein Anruf aus der Provinz.« Lichthaus überhörte die Spitze. Klaus Richter war einige Jahre in seinem Team gewesen und nach Lichthaus’ Weggang auf dessen Posten gekommen. Sie hatten sich immer gut verstanden und als Tandem viele Erfolge erzielt. Dadurch hatte sich so etwas wie eine Freundschaft zwischen ihnen entwickelt, obwohl sie auf der privaten Schiene kaum Gemeinsamkeiten hatten. Richter war durch und durch Karrierepolizist und engagierte sich in der Lokalpolitik. Er würde beruflieh stetig weiterkommen, da er gut vernetzt und sehr ehrgeizig war. Obwohl Lichthaus’ Wechsel nach Trier auch bei ihm nur ein Kopfschütteln hervorgerufen hatte, war der Kontakt nie ganz abgerissen, und wenn Lichthaus in Mainz war, trafen sie sich zum Essen. Jetzt tratschten sie ein bisschen über gemeinsame Bekannte, bevor Lichthaus auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen kam.
»Ich habe ein Problem. Wir haben am Samstag eine Tote gefunden. Die Spur führt zu einer Vergewaltigungsserie in Wiesbaden, und wir wollen eine Fallanalyse anfertigen lassen. Habt ihr ein Team frei?«
»Von der Toten habe ich bereits gehört. Das LKA schaut schon interessiert hin. Also, die beim BKA haben ja mittlerweile eigene Teams, die kannst du anfordern, aber das dauert. Letztes Jahr ist ein sehr guter Kriminalpsychologe namens von Falkberg von uns weggegangen. Zurzeit habilitiert er in …«, er machte eine Kunstpause, »… Trier. Der hat sogar in den Neunzigerjahren an einer Studie zu empirischen Täterprofilen teilgenommen. Der kennt sich aus. Frag ihn mal, wenn du ihn schon vor Ort hast.«
Lichthaus ließ sich seine Nummer durchgeben. »Und über die Provinz reden wir noch! Komm du nur mal her, so viel kannst du gar nicht vertragen, wie hier los ist!«
Er legte den Hörer gar nicht erst auf und wählte erneut, doch er erreichte nur die Sekretärin, die ihm mitteilte, dass Dr. von Falkberg den ganzen Mittag nicht zu erreichen sei, da er offene Sprechstunde habe.
Lichthaus schaute auf die Uhr. Es war jetzt halb zwei. Um vier Uhr würden sie sich treffen, um die neuen Kollegen einzuführen. Bis dahin war noch ausreichend Zeit. Er schnappte sich Spleeths Tatortmappe und machte sich auf den Weg zur Uni.
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