Es regnete noch immer ohne Pause. Die Autos fuhren in langen Gischtfontänen vor ihm her, hinauf auf das Tarforster Plateau, auf dem die Universität lag. Man hatte hier Anfang der Achtzigerjahre eine Campusuniversität mit eigenen Gebäuden für jeden Fachbereich errichtet. Lichthaus gefielen die Glaspassagen, über die sie miteinander verbunden waren. Das gab dem Komplex einen etwas futuristischen Anschein. Er parkte sein Auto und lief unter einem Regenschirm hinüber zum mehrstöckigen Haus der Psychologen. Er erkannte es an der cremeweißen Farbe und den blauen Fensterrahmen. Es lag etwas abseits und war über das Forum zu erreichen, auf dem an schönen Tagen die Studenten zuhauf in der Sonne lagen.
Von Falkbergs Büro befand sich im vierten Stock und er ging langsam hinauf. Er war sich nicht sicher, ob er seine Fallanalyse auf einen einzelnen Psychologen stützen sollte oder ob es sinnvoller wäre, die Aufgabe an ein Team des BKA zu übertragen. Im Gegensatz zu den USA, wo üblicherweise ein Psychologe die Fallanalyse allein übernahm, hatte man sich in Deutschland für spezialisierte Teams entschieden, die man für effizienter hielt. Andererseits war ein Fallanalytiker vor Ort in Trier von unschätzbarem Wert, da die Wege sich verkürzten und bürokratische Hürden erst gar nicht entstanden. Er würde sich nach diesem Gespräch entscheiden.
Die Sprechstunde war entweder nicht gut besucht oder schon vorbei. Kein Student wartete vor der Bürotür. Lichthaus klopfte an und wartete höflich auf das Herein, bevor er eintrat.
Der Raum war klein, und alle Wände waren mit einfachen Metallregalen zugestellt, die von Büchern, Kopien, Seminararbeiten und sonstigen Unterlagen nur so überquollen. In der Mitte, gleich neben dem Fenster, stand ein Schreibtisch, auf dem ein unglaubliches Chaos herrschte: Stifte, Zeitschriften, Kaffeebecher, einige Bilderrahmen und Brötchenkrümel in unbeschreiblichem Durcheinander. Dahinter von Falkberg, das exakte Gegenteil. Die kurzen, dichten, braunen Haare waren akkurat gescheitelt. Der graue Rollkragenpullover und das wollene Sakko waren makellos, genauso wie die glänzenden Schuhe, die unter dem Tisch hervorlugten. Von Falkberg musterte ihn aufmerksam durch eine große Brille, der man ansah, dass sie einige Dioptrien korrigieren musste. Der Mann wirkte sympathisch, wenngleich augenblicklich befremdet.
»Guten Tag. Für einen Studenten sind Sie etwas zu alt, für das Seniorenstudium aber noch zu frisch«, bemerkte er mit einem leicht ironischen Lächeln und schaute auf die Tatortmappe in Lichthaus’ Hand, sagte aber nichts weiter.
Lichthaus erwiderte den Gruß. »Mein Name ist Johannes Lichthaus, und ich leite die Untersuchungen im Fall des toten Mädchens, das wir im Wald gefunden haben.«
Von Falkberg bot ihm einen Platz an und er setzte sich auf einen Stuhl vor den Schreibtisch.
»Wenn Sie zu mir kommen, scheint etwas mehr dran zu sein als ein einfacher Mord.«
»Das ist bislang nur eine Vermutung«, wich Lichthaus aus.
»Aber doch so konkret, dass Sie hier heraufgekommen sind. Ohne Voranmeldung.« Von Falkberg schien belustigt. »Ich habe in der Zeitung von dem Mädchen gelesen.«
»Nun, wir können nachweisen, dass es sich um einen Serientäter handelt, da er bereits vor mehreren Jahren im Raum Wiesbaden für eine Vergewaltigungsserie verantwortlich war. Was in der Zwischenzeit war, wissen wir nicht. Wir …«
Von Falkberg unterbrach ihn. »Ein Serientäter also. Interessant. Warum sind Sie sich da so sicher?«
»Er hat Sperma hinterlassen, das wir den Altfällen zuordnen konnten.«
»Gut, also erstens, wenn ich eine Analyse mache, dann nur auf Basis der Fakten, unbeeinflusst durch Ihre Mutmaßungen. Die können Sie dann anschließend mit meinen Ergebnissen abgleichen. In der Regel lässt sich so der potenzielle Täterkreis weiter einengen.«
Lichthaus kannte die Methode. Der Analytiker würde die Fakten intensiv studieren und anschließend den Fall von allen Seiten beleuchten. Das mochte simpel klingen, aber Lichthaus wusste, dass es jahrelange Erfahrung und umfangreiches Fachwissen voraussetzte, um die richtigen Schlüsse ziehen zu können.
»Ich suche bei meinen Analysen nach signifikantem Tatverhalten«, fuhr von Falkberg fort. »Aus unserer Sicht muss jede Handlung des Täters, jede Verletzung des Opfers einen nachvollziehbaren Grund haben. Wir können daran zum Beispiel sehen, ob er geplant gehandelt hat oder ob es Anzeichen dafür gibt, dass er das Opfer kannte. Wir hatten einmal einen Mörder, der eine Frau erwürgt und dann mit gefalteten Händen begraben hat. Wir nennen das »undoing«. Er wollte das Ganze ungeschehen machen. Deshalb vermuteten wir, dass der Mann das Opfer vorher schon kannte und dass es sich um eine Affekttat handelte. Schlussendlich konnte ein Kollege der Frau festgenommen werden, der sie bedrängt und, als sie zu schreien anfing, erwürgt hatte. Zentral für mich sind vor allem die Tatort- und Opferspuren, da ich hier dem Täter direkt begegne. Ich will herauslesen, warum er sich so und nicht anders verhalten hat.«
»Wir haben bislang keinen Tatort, sondern nur einen Fundort.«
»Was ist mit den Vergewaltigungen in Wiesbaden?«
»Da schon.«
»Gut. Nennen Sie mir die Einzelheiten, dann sage ich Ihnen, ob eine Fallanalyse Sinn macht.«
Lichthaus trug aus dem Gedächtnis die Fakten vor. Er achtete darauf, Spekulationen herauszuhalten, brauchte aber trotzdem fast zehn Minuten, um alle Einzelheiten zusammenzufassen, und wunderte sich, wie viel sie eigentlich schon hatten. Als er geendet hatte, schaute von Falkberg eine kleine Ewigkeit aus dem Fenster und dachte nach. Er hatte sich keine Notizen gemacht, sondern schien auf sein Gedächtnis zu vertrauen.
»Wollen Sie einen Kaffee?«, begann er und bereitete ihm, als Lichthaus nickte, geistesabwesend einen Pulverkaffee zu. Dann fing er an.
»Ohne die Akten eingesehen zu haben und ohne die genauen Fund- und Tatortprofile zu kennen, glaube ich sagen zu können, dass der Täter ein sogenannter Soziopath ist. Das sind planerisch vorgehende Mörder, die erbarmungslos töten. Es gilt in der Psychologie als Tatsache, dass diese Typen völlig emotionslos sind und nur dann etwas empfinden, wenn sie andere quälen. Eine Untersuchung hat bewiesen, dass Fehlentwicklungen im Hirn das emotionale Zentrum und das Angstzentrum haben verkümmern lassen. Einige Kollegen glauben auch, dass die Täter nur in diesen Extremsituationen überhaupt ihr Menschsein spüren, also Emotionen erfahren können. Dass sie diesen auslösenden Kick brauchen.« Er grinste Lichthaus schief an, der höflich an der braunen Brühe des viel zu starken Kaffees nippte, während er aufmerksam zuhörte und sich hier und da Notizen machte. »Sie wollen keinen Sex von den Opfern, sondern absolute Macht über diese. Die Sexualität ist nur Mittel zum Zweck. Sie suchen ihre Omnipotenz und die totale Beherrschung des anderen. Solche Täter sind nicht zu therapieren und hören niemals mit dem Morden auf.«
»Glauben Sie, dass Eva Schneider sein erstes Opfer war?«
»Wohl kaum. So, wie Sie es schildern, ist er sehr umsichtig vorgegangen, was eine gewisse Intelligenz, aber auch ausreichend Erfahrung vermuten lässt. Nein, ich denke, da gibt es noch mehr Tote, vor allem wenn man den Zeitabstand seit den Vergewaltigungen sieht. Soziopathen neigen dazu, immer schneller einen neuen Kick zu suchen.«
»Da können wir uns ja auf einiges gefasst machen.«
Von Falkberg stand auf und suchte mit erstaunlicher Sicherheit aus all dem Chaos einen Artikel heraus, den er Lichthaus reichte.
»Das ist eine Ausarbeitung zum Thema. Heißt: Der Serienmörder, Analyse serieller Tötungsdelikte in Deutschland. Der ist zwar schon einige Jahre alt, doch eigentlich hat sich wenig geändert. Lesen Sie den mal durch, da haben wir viele interessante Details zusammengetragen.«
Lichthaus dachte kurz nach. Der Besuch bei von Falkberg hatte sich für ihn bereits gelohnt, er verstand nun besser, was den Täter antrieb, und er wollte den Psychologen unbedingt in die Fahndung mit einbeziehen. »Wie sieht es aus? Machen Sie uns ein Profil?«
Von Falkberg nickte und zog ein Formular aus der Schublade. »Der Fall interessiert mich.« Er reichte Lichthaus ein Blatt Papier. »Das sind meine Bedingungen, die ich auch mit dem BKA vereinbart habe. Wenn Sie mir Ihr Okay geben, kann ich loslegen.«
»Das bekommen Sie. Ich kläre das heute noch ab. Welche Informationen brauchen Sie?«
»Alles! Tatortmappe, alle Fakten, gesicherte Erkenntnisse und so weiter.«
»Stellen wir Ihnen zusammen.« Er machte sich eine Notiz und stand auf. »Ich muss los. Vielen Dank schon mal. Bis bald also.«
Es hatte aufgehört zu regnen und Lichthaus spazierte langsam zu seinem Auto. Die Fahndung verdichtete sich immer mehr zu der Herkulesaufgabe, die er von Beginn an gefürchtet hatte. Und die Zeit drängte, denn wenn von Falkberg Recht hatte, war über kurz oder lang mit weiteren Opfern zu rechnen. Als er den Wagen starten wollte, klingelte sein Handy. Er kramte es aus seiner Tasche hervor und ließ sich im Sitz zurückfallen. Es war Güttler.
»Ich habe die Autopsie von eurem Grillwürstchen fast beendet.«
Lichthaus schüttelte den Kopf. »Was kam denn raus, du alter Metzger?«
»Nichts.«
»Wie bitte?«
»Na ja. Fast nichts. Das, was ich noch sehen konnte, war, dass er sehr schlechte Zähne und eine Säuferleber hatte. Außerdem etwa zweieinhalb Promille im Blut. Der war seit Jahren nicht mehr beim Zahnarzt. Einen Vergleich des Zahnschemas kannst du da vergessen. Die Leber sieht schlimm aus, aber damit ist er ja nicht der Einzige auf der Welt.«
»Wie alt schätzt du ihn?«
»Ende vierzig. Dem Gebiss nach wahrscheinlich aus Osteuropa. So läuft hier niemand rum.«
»Fingerabdrücke?«
»Verbrannt. DNA steht noch aus. Ach, übrigens, er hatte eine künstliche Herzklappe. Ziemlich alt schon. Vielleicht hilft die uns weiter.«
»Gut. Danke für den Anruf, Stefan. Gib uns den Bericht bitte rein und melde dich kurz bei Marx, der ist für den Fall zuständig.«
Lichthaus trennte die Verbindung und fuhr los. Die Anhaltspunkte im zweiten Mordfall waren gleich null. Wenn man Güttlers Vermutung folgte, könnte es sein, dass ein Osteuropäer Bandenstreitigkeiten zum Opfer gefallen war, denn die Tatsache, dass der Mörder dem Mann beim Sterben zugesehen hatte, deutete auf eine gezielte Hinrichtung hin. Aber das war reine Spekulation. Sie würden die Vermisstenstatistiken im Auge behalten müssen und eventuell das BKA und Europol einschalten.
Kurz vor einer Ampel geschah es dann. Die Sonne brach zwischen den lockeren Wolken hervor und wurde von der aufspritzenden Gischt der Fahrzeuge tausendfach gebrochen. Geblendet und gedankenverloren rollte Lichthaus mit müden Augen auf die stehende Autoschlange zu. Zwar sah er noch die roten Rückleuchten am Wagen seines Vordermanns, doch als er reagierte und das Bremspedal voll durchtrat, wusste er schon, dass es nicht mehr reichen würde: Er rutschte auf das Heck eines Passats zu und registrierte noch den Sylt-Aufkleber auf dem Kofferraum, als er in letzter Sekunde das Lenkrad nach rechts riss.
Über einen flachen Graben holperte sein Wagen auf eine angrenzende Wiese. Einen Moment glaubte er noch an sein Glück, doch dann knallte es und der Golf schob sich auf einen großen Stein. Die Tatortmappe flog in den Fußraum und zerfiel in einzelne Blätter, dann war es still. Einen Augenblick blieb er benommen hinter dem Lenkrad sitzen.
Der Aufprall war nur leicht gewesen, da das Fahrzeug schon sehr verlangsamt hatte, doch der Schaden war dennoch beträchtlich. Die Fahrertür ließ sich nur mit Mühe öffnen, also schien der Rahmen verzogen zu sein. Als er ausstieg, sah er zudem, dass das linke Rad in den Radkasten gedrückt worden war und im rechten Winkel abstand. Von der Straße aus beobachteten ihn die Menschen aus den stehenden Autos, doch wie so oft in solchen Fällen bot niemand Hilfe an. Blöde Gaffer! Der Golf hatte eine lange Furche in die vom Regen aufgeweichte Wiese gezogen. Lichthaus’ Schuhe waren dreckverschmiert. Unschlüssig brütete er vor sich hin, als plötzlich eine unbeherrschbare Wut durch seine Lethargie brach. Er trat mit voller Wucht mehrmals gegen den Kotflügel und schrie laut vor sich hin. Er fluchte auf den Job, den Täter, die Toten, den wenigen Schlaf und alles, was ihm sonst noch einfiel. Erst als sein Fuß heftig schmerzte, bekam er sich langsam wieder in den Griff. Schwer atmend öffnete er die Beifahrertür und sammelte die Tatortmappe zusammen. Dann rief er im Präsidium an. Er erreichte Marie Guillaume, die versprach, ihm einen Wagen zu schicken. Anschließend informierte er Claudia, die schockiert sofort kommen wollte und ebenfalls auf seinen Job fluchte. Er beschwichtigte sie, dass es ihm gut gehe und sie mit Henriette zu Hause bleiben könne. Er sah ein, dass er sich heute etwas Schlaf gönnen musste, damit nicht noch mehr passierte. Claudia versprach, ihn gleich nach der Besprechung im Präsidium abzuholen.
Der Streifenwagen traf zehn Minuten später ein. Der Abschleppwagen war zwar noch nicht da, doch Lichthaus kannte den Unternehmer. Der würde den Wagen auch ohne ihn abholen und mitnehmen.
Die Streifenbeamten grinsten belustigt, als sie ihn durch den Schlamm stapfen sahen, doch sein Gesichtsausdruck ließ sie den Mund halten.
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