Von Falkbergs Haus lag oben in Tarforst, kaum fünf Gehminuten von der Uni entfernt. Er lächelte breit, als er Lichthaus die Tür öffnete.
»Schön, dass Sie da sind. Sie sollten nicht die Flucht vor sich selbst ergreifen.«
Er führte ihn durch das geschmackvoll eingerichtete Reihenhaus, das die untrüglichen Spuren einer Frau trug.
»Wollen Sie einen Kaffee? Den mache ich mit der Maschine meiner Frau. Vollautomatisch ohne Risiko.«
Lichthaus lachte spontan auf und nickte. Seine Stimmung hellte sich mehr und mehr auf. Am Morgen hatte ihn Sophie Erdmann über den Flop in Mainz informiert, und er freute sich über Müllers Misserfolg, wenngleich er natürlich traurig war, dass die Spur nun kalt war.
Mit zwei Bechern voll dampfenden Kaffees setzten sie sich ins Wohnzimmer, und Lichthaus berichtete alles Wissenswerte der letzten beiden Tage. Von Falkberg hörte mit professioneller Aufmerksamkeit zu und begann dann mit seiner Analyse.
»Er fordert Sie heraus. Die Haare im Mund sollen die Polizei verhöhnen. Er signalisiert, dass er keine Angst vor Ihnen hat, dass er nur gekommen ist, weil er wollte. Trotz der Falle.«
»Wie konnte er wissen, dass wir da sein werden?«
»Er ist äußerst vorsichtig und überlässt nichts dem Zufall. Eventuell hat er das Gelände beobachtet, als Sie die Vorbereitungen getroffen haben. Jedenfalls ist er sehr gerissen. Aber auch arrogant. Das gibt Ihnen wieder Chancen. Wie hat Ihnen die Lektüre der Parzivalgeschichte gefallen?«
Lichthaus zuckte die Achseln. »Na ja, interessant schon, aber ich sehe nicht, wie mir das weiterhelfen könnte.«
»Doch, doch. Lassen Sie mal den ganzen Ritterklimbim weg. Was bleibt übrig?« Er schaute Lichthaus kurz an, ohne eine Antwort abzuwarten, und fuhr in typischer Dozentenmanier fort. »Parzival macht sich auf den Weg und sucht die Bestimmung seines Lebens, seine Berufung. Den Gral. Für Parzival ist der Weg zu sich selbst schwer. Seine Entwicklung vom Knaben zum Mann wird stark von seinem ritterlichen Vater dominiert. Gewalt und Kampf prägen diese Zeit, was in seltsamem Gegensatz zur Erziehung durch die Mutter steht. Die Kämpfe stehen stellvertretend für seine inneren Konflikte. Erst als er diese überwunden hat, tauscht er die rote gegen die silberne Rüstung ein. Sein Findungsprozess geht von da ab den richtigen Weg.«
Von Falkberg trank an seiner Tasse und fuhr fort. »Unser Mann trägt noch die rote Rüstung. Ich will gar nicht behaupten, dass er bewusst die gleiche Rolle spielt wie Parzival, aber Sie sagten ja, er habe Gral, Gral geschrien. Er ist auf der Suche nach seinem Selbst und arbeitet auch die Geschichte seiner Familie auf. Nur wird er nie die Rüstung wechseln. Ich denke, die Parzivalsage hat bereits in seiner Vergangenheit, wahrscheinlich in seiner Kindheit, eine große Bedeutung für ihn gehabt haben. Er scheint sich an ihr zu orientieren.«
»Und wo sehen Sie nun einen Ansatzpunkt für unsere Ermittlungen?«
»Einerseits sollten Sie nach Gruppen suchen, die die Parzivalsage zu einem Kult erhoben haben. Ich bezweifle allerdings, dass es öffentliche Vereinigungen sind. Suchen Sie auch weiter bei diesen Rittergruppen. Zum anderen sollten Sie Altfälle sichten, in denen ähnliche Riten stattgefunden haben. Das kann schon lange zurückliegen.«
»Nun, ich bin aber nicht mehr im Dienst.«
»Dann fragen Sie Ihre Mitarbeiter.« Von Falkberg schaute ihn offen an. »Oder machen Sie sich selbst auf die Suche. Ins Archiv werden Sie doch wohl noch kommen?«
*
Das Handy klingelte gegen sechs Uhr am Abend, als sich Lichthaus im Archiv mehr und mehr der Verzweiflung näherte. Er saß seit dem Mittag hier unten und suchte einen Fall, der Parallelen zum Roten Ritter aufwies. Von Falkbergs Theorie erwies sich als das, was sie war. Eine Theorie, die im Praxistest an den Gegebenheiten scheiterte. Er hatte sich anfangs von zu Hause aus in den Zentralcomputer eingeloggt, aber schnell aufgegeben, da die alten Daten noch nicht digitalisiert waren. Seitdem durchforstete er die Microfichekataloge und Karteien. Der Archivar hatte offensichtlich keine Kenntnis von seiner Suspendierung und ließ ihn frei gewähren, doch mit jeder Stunde, mit jeder Akte, die er durchblätterte, wuchs sein Zweifel. Stundenlang hatte er Gewaltverbrechen durchleuchtet, die auch nur im Entferntesten mit dem Mittelalter oder Jahrmärkten zu tun hatten. Er hatte von ausgetretenen Zähnen oder Messerstichen in den Bauchraum gelesen, doch nirgends tat sich eine Parallele auf, die einer Nachforschung wert gewesen wäre. Eine Sackgasse. Er würde anders ansetzen müssen.
Er nahm das Gespräch an. Es war Sophie Erdmann.
»Wir haben eine Tote.«
»Karla Springer?«
»Könnte passen. Ist noch nicht lange tot. Ein Spaziergänger hat die Leiche gefunden. Mitten auf dem Feldweg. Gestern lag sie noch nicht da, denn der Mann geht mit seinem Hund immer denselben Weg. Die Spurensicherung ist unterwegs. Ich fahre gleich mit Müller und Schweiger raus. Der ist jetzt im Team. Ich habe mich deswegen mit Müller gestritten.«
»Wieso?«
»Der passt irgendwie nicht. Ich wollte ihn nicht im engsten Team haben. Außerdem ist er zu mir total unfreundlich. Redet nichts, und als ich ihn gestern nach den Ergebnissen der Pajero-Fahndung gefragt habe, meinte er nur, seit wann er an mich berichten müsse, und ist gegangen.«
»Was hat Müller gesagt?«
»Der Idiot hat ihn hereingerufen und direkt auf den Vorfall angesprochen. Schweiger hat sich ganz entspannt rausgeredet. Er habe mich wohl missverstanden und ich ihn sicher auch. Müller war zufrieden, aber Schweiger ist stinksauer. Seinen Blick hättest du mal sehen sollen.«
Lichthaus dachte einen Augenblick an Schweigers Anruf. Sollte der Kollege jetzt schon für Unfrieden im Team sorgen, würde er ihn nicht aufnehmen. Er hatte nicht vor, das Problem Marx gegen das Problem Schweiger zu tauschen. Komischerweise war für ihn Sophie Erdmann nach all dem gemeinsam Erlebten bereits fester Bestandteil seiner Kommission, obwohl sie erst eine knappe Woche bei ihnen war.
»Ignorier ihn, bis der Fall abgeschlossen ist, dann werden wir eine Lösung finden. Wo ist die Tote? Ich komme hin.«
»Na gut.« Sie atmete schwer, um ihren Unwillen zu zeigen. »Zwischen Osburg und Thomm. Ganz in der Nähe des letzten Fundorts. Aber diesmal gleich neben der Straße. Du kannst es nicht verfehlen. Müller wird nicht begeistert sein, wenn du da auftauchst. Er ist mies drauf. Erst der Frust von gestern Nacht und jetzt die nächste Leiche.«
»Er ist ein intrigantes Arschloch. Geschieht ihm recht, wenn er von dieser Frau in Mainz Druck bekommt.«
»Na, du musst es ja wissen. Ich bin aber ganz froh, wenn du dir auch ein Bild machst.«
Lichthaus packte die nutzlosen Akten zusammen, um sich auf den Weg zu machen. Noch eine Tote und keine Ahnung, wie er dem Täter näher kommen konnte. Am vergangenen Samstag hätte alles gepasst. Jetzt aber drehten sie sich wieder im Kreis. Die Zeitungen waren schon jetzt voll von den Verbrechen. Wenn der erneute Leichenfund bekannt würde, ging es erst richtig los. Auch überregional. Wenn er von Falkberg richtig verstanden hatte, würde das den Täter weiter anstacheln. Wie könnten sie ihn schnell schnappen, um einen weiteren Mord zu verhindern? Der zündende Gedanke, sein Strohhalm, kam ihm auf der Autobahn, als er das Krankenhaus in Ehrang sah. Heike Andries, die Krankenschwester. Sie kannte die Szene und vielleicht auch jemanden, der bereits vor dreißig Jahren dabei war. Sie war sofort am Telefon und hörte ihm konzentriert zu.
»Timbor, also Wolfgang Federer, erzählt immer, dass er auf Ritterevents war, als wir anderen alle noch in die Hosen geschissen haben. Entschuldigung, aber so sagt er es nun mal. Den rufe ich mal an.«
Vor Osburg bog er auf die K 82 in Richtung Thomm ab. Die Sonne hatte die Wolken vertrieben und strahlte in der klaren Luft. Sophie Erdmann hatte Recht gehabt. Der Fundort war kaum zu übersehen. Rechts von der Straße, inmitten der Felder, hatte sich der übliche Korso aufgebaut. Streifenwagen, der Bus der Spurensicherung und die Zivilfahrzeuge der Kripo. Der Weg trennte eine abgemähte Wiese von einem Maisfeld, dessen Pflanzen schon gut mannshoch waren. Rundherum nur landwirtschaftliche Flächen, Häuser konnte man von hier aus nur in weiter Entfernung erkennen. Lichthaus parkte neben der Fahrbahn und ging quer über die Wiese zu den Kollegen, die in weißen Overalls hinter den Flatterbändern arbeiteten.
Winkelmann kommandierte seine Leute herum, und Güttler beugte sich gerade zur Toten hinab, die mitten auf dem lose befestigten Feldweg lag. Sophie Erdmann und Steinrausch standen daneben, während Schweiger etwas abseits einen Mann befragte, der seinen Mischlingshund an der Leine hielt.
Als Lichthaus an ihm vorbeiging, sah er erstaunt auf und lächelte. Von Müller war nichts zu sehen. Er begrüßte kurz die Kollegen und schaute dann dem Pathologen über die Schulter, der die Tote untersuchte. Sie war vollständig bekleidet, doch unter dem T-Shirt, das Güttler nach oben geschoben hatte, ließen sich Foltermale erkennen. Wieder eine Karte des Leidens. Die Augen der Frau waren geschlossen, das Gesicht blau angelaufen und mit Erde verklebt. Die Spuren am Hals ließen darauf schließen, dass auch sie erwürgt worden war. Zwischen den blutverkrusteten und aufgeschwollenen Lippen sah man, dass die oberen Schneidezähne fehlten. Der Täter hatte ihr die Haare abrasiert, so dass sie an eine KZ-Gefangene erinnerte.
»Was hast du?«
»Bei euch bald einen Ganztagesjob.« Güttler grinste matt. »Machst du einen Ausflug?« Das Grinsen wurde breiter, doch Lichthaus ignorierte die Bemerkung. »Die Frau ist definitiv schon länger tot. Ich schätze zwei bis drei Tage. An der Kleidung kann man Larven sehen, die etwa so lange zum Schlüpfen brauchen. Was mich erstaunt, ist die Erde, die an ihr klebt. Selbst in den Mund ist ein wenig hineingerieselt, nachdem sich die Totenstarre gelöst hat. Ich denke, er hat sie irgendwo vergraben und jetzt erst hierher gebracht. Sie lag mit gefalteten Händen da, wie die andere da oben bei Farschweiler. Und auch sie ist brutal misshandelt worden. Hämatome überall. Verbrennungen, also die ganze Palette wie bei Eva Schneider. Sie wurde ebenfalls von hinten erwürgt. Die gute Nachricht: Wir haben wieder Bissspuren. Ich kann dir einen Zahnvergleich machen, dann wissen wir schnell, ob es derselbe Mann war. DNA kommt dann auch rasch, wenn die im Labor spuren.«
»Wegen der Autopsieergebnisse rufe ich dich an.« Er sprach leise, und Güttler verstand. Kaum merklich nickte er und drehte die Tote auf die Seite, um sie weiter zu untersuchen.
Lichthaus schaute Sophie Erdmann an, die sofort zu berichten begann, obwohl er sie gar nicht gefragt hatte. »Winkelmann hat Reifenspuren gefunden, die er vergleichen wird. Die Stelle, wo er sie vergraben hatte, wird schwer zu finden sein.« Sie machte eine Pause. »Was glaubst du, wieso er sie uns präsentiert? Provokation?«
»Ja. Von Falkberg hält ihn für einen Egozentriker, der total von sich überzeugt ist. Wahrscheinlich hat ihn die Aktion am Samstag geärgert, und er will uns zeigen, dass wir ihm gar nichts können. Er verhöhnt uns. Wenn wir nur die Automarke weiter einengen könnten. Ich denke …«
»Herr Lichthaus, ich wüsste nicht, was Sie hier zu suchen haben.« Müller war unbemerkt herangetreten.
Er stand, völlig fehl am Platz, im Anzug auf dem Stoppelfeld und starrte ihn aus seinem blassen Gesicht wuterfüllt an. »Verlassen Sie auf der Stelle den Tatort. Sie sind suspendiert, wenn ich Sie daran erinnern darf.« In seinem Blick glomm unverhohlene Abneigung.
Lichthaus zuckte die Schultern und ging, ohne seine Wut zu zeigen. Erst als er fast außer Hörweite war, verließ ihn die Beherrschung. »Ich bin ja schon weg, aber vielleicht finden Sie ja einen Bischof, der als Täter infrage kommt.« Er hatte nur halblaut gesprochen, doch konnte er hören, wie Müller scharf die Luft einsog. Er hatte ohnehin genug gesehen und würde den Rest später erfahren.
Als er auf die B 52 auffuhr, kam ihm die Presse entgegen. Trierischer Volksfreund und kurz darauf der Südwestfunk. Müller bekam seine Presse, ob er wollte oder nicht.
*