Während er darauf wartete, dass Güttler sich umzog, dachte Lichthaus an die amüsierte Frage des Rechtsmediziners. Er hatte sie erwartet, denn normalerweise hätte er nonstop weitergemacht. Doch die Vernissage war ihm im Augenblick wichtiger. Vor einigen Jahren, noch in Mainz beim LKA, wäre das ganz anders gewesen. Sein Ehrgeiz hatte ihn ohne Rücksicht auf Verluste vorangetrieben. Immer weiter war er nach oben gekommen, bis zu einem Montag im März vor drei Jahren. Polizeipräsident Ensler hatte ihm die Stelle des Abteilungsdirektors im LKA für organisierte Kriminalität angeboten. Er war angekommen.

Nie würde er das Gefühl vergessen, den Triumph, als er den Präsidenten verließ. Er fuhr nach Hause und kaufte Champagner und Blumen, um zu feiern. Sie wohnten damals in einer Altbauwohnung in der Altstadt. Er schloss die Tür auf und fand die Wohnung dunkel vor. Doch Claudia war da, saß im Wohnzimmer vor gepackten Koffern und weinte. Sie würde gehen, sagte sie, zurück zu ihren Eltern und dann mal sehen. Lichthaus fiel aus allen Wolken und rastete völlig aus. Er schrie sie an und flehte, sperrte die Koffer ein und stellte sich vor die Tür. Doch Claudia blieb ruhig, und auch er fing sich wieder.

Dann hatten sie geredet. Die ganze Nacht. Und Claudia war geblieben. Als die Sonne aufging und ins Schlafzimmer fiel, lag sie neben ihm und schlief. Sie war so zart und verletzlich. Er begann zu weinen. Am Morgen meldete er sich krank, und sie fuhren in die Pfalz, um sich weiter auszusprechen. Eigentlich sprach Claudia. Sie zeigte ihm seine Ignoranz auf. Wie er von seinem Ehrgeiz gefangen war, nie zu Hause, und wenn, gab er sich eingenommen von sich und seinem Beruf. Er hatte nicht bemerkt, dass sie nicht mehr malte, hatte ihre künstlerische Leere übersehen und ihren Wunsch nach Kindern hintangestellt, hatte sie einfach beiseite geschoben, so wie ein Möbelstück, das im Weg steht. Ihr bisheriges Zusammenleben würde sie so nicht mehr fortsetzen, sie sehnte sich nach einem echten Miteinander. Er schämte sich und erkannte, dass sich viel ändern musste, wenn er sie nicht verlieren wollte.

Einen Tag später hatte er die Abteilungsdirektorenstelle abgesagt. Der Polizeipräsident fiel aus allen Wolken und redete lange auf ihn ein. Doch Lichthaus lehnte ab. Schon in diesem Gespräch bemerkte er, dass der Schock über Claudias drohenden Weggang ihn verändert hatte. Er hörte zwar die blumigen Ausführungen, doch er spürte deutlich, dass er selbst darin als Mensch mit privaten Interessen und vor allem mit einer Familie nicht vorkam. Als er ging, spürte er deutlich, dass der Präsident ihn abgeschrieben hatte. Kurz darauf bewarb er sich nach Trier. Den Kollegen erklärte er nichts, denn er wusste, dass sie ihn nicht verstehen würden. Die meisten waren ledig oder geschieden. Einige gaben damit an, junge Polizeianwärterinnen zu bumsen, während ihre Frauen zu Hause warteten. In den Wochen bis zu seiner Versetzung vereinsamte er im Amt. Er war ausgestiegen, und die anderen machten weiter. Der Weggang nach Trier war ihm leicht gefallen, und wenn er jetzt zurückblickte, war er zufrieden.

Die Galerie lag in der Bruchhausenstraße. Sie waren spät dran. Viele Gäste waren schon da und warteten im Hof hinter der Galerie darauf, dass man sie hereinbat. Claudia war nicht zu sehen. Er verließ Gtittler und ging nach hinten in die Galerie, wo er seine Frau fand, die nervös ein tadellos hängendes Bild noch auszurichten versuchte. Er trat leise an sie heran und legte den Arm um sie. Sie erschrak und fiel ihm dann um den Hals.

»Musst du nicht am Fall arbeiten?« Ihre Frage war nicht ernst gemeint.

Er küsste sie leicht und flüsterte: »Ob jetzt oder später macht sie auch nicht wieder lebendig.«

»Johannes!«

»Es ist aber so. Ich werde lange genug nach dem Mörder suchen.«

»Kommt ihr weiter?«

»Wir haben Sperma gefunden, das könnte helfen. Um neun treffen wir uns im Präsidium. Leider.«

»Das macht doch nichts.« Claudia war mit einem Mal völlig ruhig. Sie trug ein leichtes Sommerkleid, das klassisch geschnitten war und ihre schlanke Figur betonte. Dazu nur ihren Ehering und eine Halskette, die er ihr zu Henriettes Geburt geschenkt hatte.

»Wo ist die Kleine?«

»Mama und Papa laufen mit ihr durch die Gegend, damit Mademoiselle zu schlafen beliebt.« Sie grinste.

Er drückte sie noch einmal leicht an sich, dann mischten sie sich unter die Gäste. Claudia stürzte sofort auf alte Freunde zu, die extra aus Mainz gekommen waren, während Lichthaus Sophie Erdmann bemerkte, die neugierig umherschauend den Hof betrat. Er ging zu ihr und begrüßte sie.

»Ich bin direkt von der Rechtsmedizin hierher gekommen, sonst hätte ich Sie gleich mitgenommen.«

»Kein Problem.«

»Wollen Sie etwas trinken?« Mit diesen Worten führte er sie zu einem Tisch mit verschiedenen Getränken und griff sich zwei Sektgläser.

»Einer ist erlaubt.« Sie stießen an und tranken.

Aber Lichthaus war schnell wieder bei ihrer Arbeit und begierig auf Neuigkeiten. »Hat sich während meiner Abwesenheit schon was ergeben?«

»Eigentlich nicht. Marx und Steinrausch waren eben noch nicht zurück. Scherer hat etwa zehn infrage kommende Täter herausgefiltert und prüft sie gerade. Bis um neun wird er wohl fertig sein.«

Gerade wollte er etwas erwidern, als Güttler zu ihnen trat. Lichthaus machte die beiden bekannt. Zu einem Gespräch kam es aber nicht mehr, denn Leo Möbius bat die Gäste in die Galerie. Sie gingen hinein und er trat zu Claudia. Gemeinsam lauschten sie den einführenden Worten des Galeristen. Er führte geschickt in den Bilderzyklus ein, zeigte die Technik auf und stellte Hintergründe dar. Anschließend erklärte Claudia die Intention der gezeigten Bilder und beantwortete die eine oder andere Frage, bevor den Gästen Gelegenheit gegeben wurde, sich die Bilder selbst anzuschauen. Lichthaus stand lange bei seinen Schwiegereltern, die sich offensichtlich über sein Kommen freuten. Claudias Vater hatte es als ausgebildeter Jurist bis zum Amtsrat der Stadt Wittlich gebracht, war aber inzwischen pensioniert, worüber ihre Mutter sich besonders freute. Denn sie war zeitlebens Hausfrau geblieben, hatte ihre Aufgaben in der Erziehung der beiden Töchter und der Umsorgung ihres Ehemanns gefunden. Nun freute sie sich über die gemeinsame Zeit. Lichthaus hing an den beiden, die ihm mehr Wärme zukommen ließen, als es seine Mutter je vermocht hatte. Während sie plauderten, war Henriette endlich tief eingeschlafen. Mit den Augen suchte er nebenbei Sophie Erdmann und sah sie mit Güttler umhergehen. Die beiden lachten viel und schienen sich gut zu verstehen. Der Mediziner versprühte einen Charme, den Lichthaus so noch nie an ihm bemerkt hatte.

Gegen acht Uhr dreißig klingelte sein Handy. Es war Scherer. Er ging nach draußen in den jetzt leeren Hof.

»Wir haben einen Verdächtigen. Es ist Christoph Bleier, der Ex-Freund. Steinrausch ist noch einmal die Protokolle über die Nacht zum Sonntag durchgegangen und hat eine Zeugin … einen Moment, bitte … Adelheid Müllner, eine Nachbarin von Heitmann, gefunden, die sich über einen Mann beschwert hat, der in der fraglichen Nacht stundenlang in seinem Auto gesessen und die Lorenz-Kellner-Straße beobachtet hat. Sie hat die Nummer notiert. Und die gehört einer Frau. Aber die ist nur Halterin und nicht Fahrerin des Wagens, wir haben sie inzwischen befragt. Den Wagen fährt ihr Sohn: Christoph Bleier.«

»Was habt ihr veranlasst?« Lichthaus war angespannt.

»Marx und Steinrausch nehmen ihn gerade fest und bringen ihn her. Frau Otten hat sofort eine Hausdurchsuchung angeordnet.«

»Gut, ich bin gleich da.«

Er ging wieder hinein zu Sophie Erdmann. Sie stand noch immer mit Güttler zusammen und unterhielt sich mit ihm über Paragliding, offensichtlich eines ihrer Hobbys. Schade, dass er sie da herausreißen musste. Lichthaus informierte sie und verabschiedete sich von Claudia, dann brachen sie auf ins Präsidium.

»Das ging aber schnell«, kommentierte Sophie Erdmann die neuesten Ereignisse, als er einstieg.

»Hoffentlich war es dieser Bleier«, grummelte er nachdenklich vor sich hin.

»Haben Sie Zweifel?«

»Nur so ein Gefühl. Sie haben die Leiche nicht gesehen. Eva wurde drei Tage gefoltert. Wir sollten ihm ordentlich Druck machen. Dann werden wir ja sehen, ob er eine bestialische Ader in sich trägt.«

*