Ihr Sterben dauerte nun schon vierundzwanzig Stunden und würde bald zu Ende sein. Sie befand sich an der Schwelle zum Tod, und der kurze Moment, in dem Schmerzen bedeutungslos werden, sich die Kaskaden im Hirn ein letztes Mal ergießen, war gekommen. Jetzt fühlte sie sich leicht und frei, schwerelos in der Achterbahn ihres Lebens. Er vergewaltigte und erwürgte sie zugleich, aber das Martyrium war fast vorbei. Anfangs hatte sie sich noch gewehrt, ihn mit verbundenen Augen sogar angespuckt, doch als er ihr daraufhin die Schneidezähne ausschlug, begann ihr Widerstand zu bröckeln und löste sich in einer Hölle aus Schmerzen und Demütigungen vollständig auf.
Alles zog in Sekundenbruchteilen an ihr vorbei. Mama, Papa, die Großeltern, Klassenkameraden und alle, die eine kleine oder auch große Rolle in ihrem Leben gespielt hatten. Hunderte von Ereignissen. Und immer wieder Sandrine. Ihre Liebe. Zu kurz war die Zeit gewesen, die ihnen das Schicksal vergönnt hatte, zu kurz die Zeit, in der sie ganz zu sich selbst gestanden hatte. Sandrine hatte es ihr beigebracht.
Er lockerte ein wenig den Griff um ihren Hals, und etwas Sauerstoff schwappte in ihre Lungen, bevor er nochmals zudrückte.
Der Schmerz kam zurück, doch schon bald driftete sie wieder hin zu dieser Schwelle.
Sie erlebte noch einmal den Tag, an dem Sandrine in die Boutique gekommen war. Groß mit langen Beinen, schmalen Hüften und satten Brüsten, einem Madonnengesicht mit grünen Augen. Ihr kastanienbraunes Haar war zu einem Zopf geflochten. Andy, der Besitzer der Boutique, war wie ein Blitz auf sie zugeschossen, die gestählten Muskeln aufgepumpt wie ein Hirsch in der Brunftzeit, doch Sandrine hatte durch ihn durchgeschaut und nur Augen für sie gehabt. Dessous hatte sie anprobiert, hatte sie um Rat gefragt und sie immer wieder fixiert, einmal leicht berührt. Dann war sie gegangen und hatte sie aufgewühlt zurückgelassen, unsicher in ihren Empfindungen und traurig wie nach einer verpassten Chance.
An diesem Abend hatte sie wild mit ihrem Freund geschlafen, sich gewehrt gegen den Sog der Gefühle und sich auch beruhigt. Doch nur wenige Tage später sprach Sandrine sie nach der Arbeit an, locker, so wie sie die Übersetzungen simultan vom Französischen ins Deutsche machte, drüben bei der EU. Sie nahm ihre Einladung zum Essen an, ganz selbstverständlich. Es wurde ein toller Abend. Auf dem Weg zurück legte ihr Sandrine die Arme um die Schultern und küsste sie mit einer Leidenschaft, die sie bis dahin nicht gekannt hatte. Sie glaubte, den Kuss zu schmecken.
Ihr Herz tat den letzten Schlag und ihre Muskeln erschlafften. Das Gesicht der Freundin war das Letzte, was sie im beginnenden Vergessen wahrnahm.
Der Tod war da.
*
Am nächsten Morgen war Lichthaus erst gegen neun im Präsidium. Er hatte mit Claudia noch ausgiebig gefrühstückt und sich schweren Herzens von ihr und Henriette verabschiedet. Claudia weinte, als er schließlich abfuhr, und ihre Tränen brannten noch immer in seinen Gedanken, als er den Gang entlangkam und Marx schon auf ihn wartete.
»Wir haben ein vermisstes Mädchen. Karla Springer.«
»Etwas für uns?« Sein Ton war unfreundlich.
Marx schaute ihn gereizt an. »Sonst wäre ich nicht hier.« Er folgte Lichthaus in sein Büro.
Lichthaus schob die Unterlagen der Überwachung in Manderscheid auf die Seite und notierte sich die Einzelheiten, die Marx berichtete, bis sie zum Sportcenter in der Metternichstraße kamen, wo Karla Springer zuletzt gesehen worden war.
»Was? Da sind Steinrausch und ich an dem Abend doch vorbeigefahren.« Er schüttelte ungläubig den Kopf.
»Gleich wird Sandrine Moulin hergebracht. Sie hat ihre Freundin als vermisst gemeldet. Und eine Streife ist los. Sie befragen diese Bodyfritzen und suchen da in der Nähe nach dem Auto.«
»Gut, geben Sie mir Bescheid, wenn es was Neues gibt.«
Als er allein war, machte er sich an die Arbeit. Wenk würde kommen, um mit ihm die Überwachung des Mittelalterfestes vorzubereiten. Sie würden die Turnierwiese und das unmittelbare Umfeld des Kampfplatzes mit vier Teams abdecken, die aus Scherer und Marx, Sophie Erdmann und Steinrausch sowie vier Kollegen des Fahndungsteams gebildet werden würden. Ein weiteres Team würde am Eingang postiert sein, um überall schnell eingreifen zu können. Er selbst wollte mit einem Techniker und einem Ersatzmann im Wohnwagen warten und alles steuern. Es blieb ihm hierzu nur der Funkkontakt, da die Installation von Kameras zu problematisch war. Eigentlich zu wenig. Wenk könnte im Hintergrund zwei Streifen in Bereitschaft halten. Für den Nachmittag waren die Vorbereitungen in Manderscheid vorgesehen, da die Schausteller bereits am nächsten Tag mit dem Aufbau der Buden beginnen würden.
Es klopfte und Scherer steckte die Nase herein. »Frau Moulin ist da. Ich glaube, die ist lesbisch«, er grinste. »Ein Totalverlust für die Männerwelt.«
Lichthaus folgte ihm irritiert, wusste aber sofort, was er gemeint hatte, als er Sandrine Moulin sah. Schön wie ein Model, leger gekleidet in Jeans und Bluse, saß sie angespannt da und strich die offenen dicken Haare nervös aus dem sorgenvollen Gesicht. In der ungewohnten Umgebung fühlte sie sich offensichtlich unwohl.
Er fragte wenig und ließ sie erzählen. Obwohl sie Ausländerin war, wusste sie die Worte zu setzen; präzise auf das Wesentliche reduziert. Karla Springer war wie gewöhnlich am Dienstag nach der Arbeit zum Sport gegangen, hatte sich aber später nicht mehr gemeldet. Nach einer Weile des Wartens und Suchens, war sie nun gekommen, um eine Vermisstenanzeige zu machen. Als sie dann auf ihre Beziehung zu sprechen kam, wurde es still im Raum. Stumm hörten die Beamten zu, wie sie ihre Freundin mit einer Liebe umschrieb, wie Lichthaus es zuvor noch nicht erlebt hatte. In sich gekehrt saß sie da, mit den Fingern auf dem Tisch malend, und sprach über Besonderheiten und Alltäglichkeiten, Karlas Lachen und ihre Zuverlässigkeit, Zukunftspläne und die Angst, da sie verschwunden war. Lichthaus fragte sich, ob er in der Lage wäre, seine Gefühle für Claudia so intensiv und zugleich unaufdringlich zu beschreiben, und musste die Frage verneinen.
Sie gab Lichthaus ein Foto und schaute ihn groß an. Angst und Stärke zugleich stand in den schönen Augen geschrieben, und er entschloss sich, auf ihre Stärke zu bauen. Er erzählte von Eva Schneider und ihrer Fahndung nach dem Täter, erklärte ihr, warum sie zu dritt einen Vermisstenfall bearbeiteten und auch von seiner Sorge, dass Karla Springer ein weiteres Opfer sein könnte. Sofort füllten sich die großen Augen mit Tränen, liefen aber nicht über, als sie nickte und aufstand. Lichthaus hätte sie gerne getröstet, aber das war nicht sein Job. Er hatte einen Mörder zu fangen.
*