Die Autobahn war frei an diesem Sonntagnachmittag. Lichthaus fuhr in Kenn zügig auf und dann im Autobahndreieck Moseltal in Richtung Wittlich. Er gab Gas, und der träge Berlingo kam langsam auf Touren.
Er würde zu Claudia nach Holland fahren. Musste einfach. Er war irgendwann mit dröhnendem Kopf aufgewacht. Völlig benommen hatte er minutenlang auf dem Sofa gesessen, raus in den Tag gestarrt und auf den Nachhall des Morgens gewartet. Sonne und Wolken machten einander den Himmel streitig und kontrastierten fast ironisch seine Stimmung. Suspendiert. Mitten in dem wohl schwierigsten Fall seiner Karriere rauskatapultiert, nur weil sie einen Sündenbock brauchten. Die Wut hatte ihn dann vom Sofa hochgetrieben. Er wollte schreien, sich austoben, doch niemand war da, der ihm zuhörte. Nach einer zweiten Dusche und einem Tee erwischte er sich, wie er minutenlang in der Küche stand und ins Leere starrte, den Film der Nacht wieder und wieder abspulend. Das verlassene Haus und die verordnete Untätigkeit wurden zum Vakuum, in dem er ziellos umhertrieb, bis er es nicht mehr aushielt. Er war ins Schlafzimmer gelaufen, hatte ein paar Sachen in eine Tasche gestopft, Rasierzeug dazu und schon war es losgegangen. Nicht einmal Claudia hatte er angerufen.
Auf der Höhe von Spangdahlem hatte er sich ein wenig beruhigt. Der Anblick der bergigen Landschaft mit ihren Wäldern und das ruhige Dröhnen des Motors wirkten entspannend auf ihn, und er konnte endlich wieder einen klaren Gedanken fassen.
Die Ermittlungen würden unter Müllers Führung auf der Stelle treten. Der hatte seit Jahren keinen Fall mehr direkt geleitet und sollte nun ausgerechnet in dieser verfahrenen Situation reüssieren. Ohne Detailkenntnis mit einem Rumpfteam. Lichthaus konnte sich vorstellen, wie Müller vorgehen würde. Lange Rasterfahndungen, lange Befragungen und dann der Hilferuf nach dem LKA. Jetzt setzte wieder eine große Unruhe ein. Seine spontane Fahrt nach Holland kam ihm plötzlich wie eine Flucht vor. Aber er fuhr weiter. Sollten sie doch sehen, wie sie klar kamen. Trotzig gab er noch mehr Gas, als plötzlich sein Handy klingelte. Er bremste den Berlingo runter und nahm ab.
»War das Ihr Täter gestern Abend?«, begann von Falkberg grußlos.
»Woher wissen Sie …?«
»Das habe ich mir so zusammengereimt. Die Nachrichten sprachen von einem niedergestochenen Polizisten auf dem Ritterfest. Da musste ich sofort an Ihren Roten Ritter denken.«
»Der Kollege ist tot, gestorben durch seine Hand.« Lichthaus’ Stimme war tonlos. Er fuhr in eine Nothaltebucht und schaltete den Warnblinker ein.
»Das tut mir leid. Sicherlich ein Schock für Sie.« Er wartete und sprach weiter, als Lichthaus nicht reagierte. »Die Tat wirft neues Licht auf den Fall. Wir sollten uns nochmals zusammensetzen.«
»Ich bin raus. Man hat mich suspendiert.«
»Wieso denn das?«
»Einen Sündenbock braucht man doch. Müller hat die Leitung.«
»Den kenne ich noch von früher, der ist ein ermittlungstechnischer Totalausfall.«
Lichthaus schwieg und schaute einem holländischen Wohnwagengespann nach, das mit Fahrrädern und Surfbrett bepackt an ihm vorbeirauschte. Er beneidete die beiden Insassen. Sie fuhren in Richtung Claudia und Henriette.
»Ich bin raus. Ende.«
»Ach kommen Sie, Sie lassen doch Ihre Leute nicht hängen.«
Lichthaus schwieg.
»Sind Sie noch da?«
»Ja, ja. Ich …«
»Sie sind verunsichert was?« Von Falkberg kehrte den Psychologen raus. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, denken Sie in Ruhe nach und rufen mich heute Abend an. Und informieren Sie sich über Parzival, ich glaube, Ihr Täter ist hierüber zu finden.« Er betonte das »Ihr« überdeutlich und legte auf, ohne auf Reaktionen zu warten.
Lichthaus verließ die Autobahn in Bitburg und zockelte über die Landstraße zurück. Von Falkberg hatte Recht. Er war auf der Flucht gewesen, wollte einfach weg. Doch das ging nicht. Er war noch nie vor Problemen davongelaufen und würde es auch diesmal nicht tun. Sein Aufbruch nach Holland war eine impulsive Entscheidung, nur spätestens morgen wäre er ohnehin zurückgekommen.
Zu Hause telefonierte er lange mit Claudia, die ihn nur zu gut kannte und keinen Versuch unternahm, ihn nach Holland zu lotsen. Sie wusste, dass er allein weitermachen würde, und hatte Angst. Er versprach ihr, keine Risiken einzugehen. Dann machte er sich an die Arbeit. Der Computer fuhr surrend hoch und er ging ins Internet, um nach dem Roten Ritter zu googlen. Was er zu sehen bekam, konnte er kaum fassen. Tausende von Links beschäftigten sich mit diesem Thema. Anfangs klickte er wahllos die einzelnen Quellen an, später suchte er spezifischer nach den historischen Hintergründen und den unterschiedlichen, zum Teil hochwissenschaftlichen Deutungsversuchen, die dieses Epos um den Helden Parzival bislang erfahren hatte.
Erst nach langem Suchen fand er eine Zusammenfassung des sechs Bände umfassenden Werkes von Wolfram von Eschenbach, die den Inhalt des Textes für ihn gut verständlich wiedergab. Nachdem Parzivals Vater, ein König, im Kampf umgekommen war, verkroch sich seine Mutter zusammen mit ihm in einer Hütte tief im Wald, da sie nicht auch noch den Sohn verlieren wollte. Doch eines Tages begegnete er einem Ritter und wollte auch einer werden. Also zog er an den Hof von König Artus, wo er einen Ritter tötete, dessen Rüstung er an sich nahm. Sie war rot. In der Folgezeit kämpfte er erfolgreich in vielen Schlachten, lernte aber nicht, den Wert der Liebe zu erkennen. Nicht der Gegenstand an sich, der heilige Gral, wurde für ihn wichtig, sondern das, was er symbolisierte: Das hohe Gut der Liebe schätzen zu lernen, das war sein Gral.
Lichthaus begann zu verstehen, warum von Falkberg ihm diese Geschichte nahegelegt hatte und druckte sich den für seine Fahndung wohl zentralen Teil aus.
Dann ließ er sich zurückfallen und dachte nach. Es gab einige Parallelen zwischen seinem Fall und der Sage vom Roten Ritter. Beide sahen im Kampf ihre Erfüllung, beide waren auf der Suche nach ihrem Gral. Worin allerdings der Gral des Mörders bestand, konnte er nicht sehen. Wie war es möglich, dass ein brutaler Killer in einer Geschichte, die der Suche nach Liebe gewidmet war, eine Rechtfertigung für seine Gräueltaten fand? Wie konnte er den Mord an Scherer als Schritt zu seiner Gralsburg interpretieren?
Lichthaus schüttelte den Kopf, trat ans Fenster und sah auf die Weinberge. Die Sonne lugte zwischen den Wolken hervor und beleuchtete die Rebstöcke mit goldenem Licht. Es wurde bereits Abend. Der Herbst kam.
Wie hieß es in der Geschichte? Er nahm den Ausdruck und schaute ihn sich nochmals an. Parzival hatte die rote Rüstung gegen eine silberne getauscht, als er zu seinem Glauben zurückgefunden hatte, als ihm seine Sünden vergeben worden waren. Ihr Täter lief jedoch noch rot gekleidet umher. Nun gut, doch wie sollte ihm diese Kenntnis helfen, einen Mörder zu finden?
Er griff zum Telefon, um von Falkberg anzurufen, doch ehe er wählen konnte, klingelte der Apparat in seiner Hand. Lichthaus zögerte. Ein Telefonat mit dem Widerling von Müller könnte er nicht ertragen. Aber die Nummer auf dem Display war ihm unbekannt. Seufzend nahm er das Gespräch an.
»Hallo, Johannes, dein Lieblingspathologe hat Neuigkeiten.«
»Ich bin raus aus dem Fall.«
»Ich weiß, Sophie hat es mir erzählt. Das mit Scherer tut mir leid, ihr standet euch nahe.«
Lichthaus zuckte die Schultern, obwohl sein Gegenüber es nicht sehen konnte. »Er war ein absolut loyaler Kollege. Kein Schwein wie Müller.«
»Das ist bitter.« Güttler traf seine Stimmung genau. »Ich habe Scherer obduziert. Das war auch nicht einfach, doch es hat sich gelohnt. Du konntest nichts mehr für ihn tun. Der Täter hat ihn mit dem ersten Stich tödlich verletzt. Er hat einen zweischneidigen Dolch verwendet. Eine reine Stichwaffe, so etwa sechzehn Zentimeter lang. Sie ist zwischen den Rippen durch in die Schlagader, die zum Herzen führt. Er wäre verblutet. Der zweite Stich traf direkt in die linke Herzkammer. Scherer war schon tot, bevor er zu Boden ging. Ein kurzes Herzflimmern, das war’s.«
Lichthaus war erleichtert. Es war also nicht tragisch, dass er so lange gebraucht hatte, um seinen Kollegen zu finden. Man hätte ihn ohnehin nicht mehr retten können.
»Außerdem«, setzte Güttler nochmals an, »war es definitiv dein Täter.«
»Wieso bist du dir da so sicher?«
»Er hat eine Visitenkarte hinterlassen. Wir haben Haare unter der Zunge gefunden, die dem Mörder zugeordnet werden konnten. Ich denke, er hat ein ganzes Büschel darunter gesteckt, aber die meisten Haare sind bei der Bergung der Leiche wohl verloren gegangen, weil ihm die Zunge herausgefallen war.«
»Waren sie abgeschnitten?«
»Ja, unter dem Mikroskop siehst du genau den Schnitt. Er hat mittelbraune Haare.«
Lichthaus dachte nach. Irgendetwas stimmte nicht.
»Johannes? Bist du noch da?« Güttler wurde unruhig.
»Jaja, entschuldige, aber man könnte fast den Eindruck bekommen, unser Täter wusste von der Überwachung und hat uns nur vorgeführt. Er muss die Haare schon fertig in der Tasche gehabt haben.«
»Haare sind schnell abgeschnitten.«
»Das macht man nicht in so einer Situation.«
»Der Typ ist halt verrückt.«
»Ist Sophie bei dir?« Güttler wurde verlegen.
»Also … äh, sie kommt später noch vorbei. Müller hat alle heranzitiert.«
»Danke. Übrigens, Sophie ist eine unheimlich Nette. Halt dich ran. Bis dann.«
Er legte auf und fragte sich, was Müller wohl antrieb, dann wählte er von Falkbergs Nummer. Sie sprachen nicht lange miteinander, sondern verabredeten ein Treffen für den folgenden Morgen.
Einige Zeit später ging wieder das Telefon. Es war Schweiger.
»Guten Abend. Das mit Scherer tut mir so leid. Wenn ich doch bloß hätte dabei sein können.«
»Danke, aber ich denke, der Täter hätte ihn auch dann abgepasst.« Es überraschte ihn, dass Schweiger anrief, um ihm sein Bedauern auszudrücken. Tröstlich war es trotzdem.
»Wahrscheinlich. Ihre Suspendierung ist völlig daneben. Glaube ich jedenfalls. Also, weshalb ich anrufe. Müller ist mit dem Team nach Mainz. Die haben einen Namen ausgegraben und glauben, also Müller glaubt, dass er den Täter hat.«
»Wer ist es?« Lichthaus war wie elektrisiert.
»Weiß ich nicht. Das hat mir keiner gesagt. Ich wollte nur, dass Sie das wissen.«
»Lassen Sie sich nicht erwischen.« Er freute sich über die Loyalität Schweigers. Er konnte sich gut vorstellen, wie der bullige Mann vor dem Telefon kauerte und sich konspirativ fühlte. »Aber trotzdem vielen Dank.«
»Gerne. Müller kann mich mal.«
Mit diesem Anruf hatte sich Schweiger quasi auf Scherers Stelle beworben. Er sah offensichtlich jetzt seine Chance und verlor keine Zeit. Der Gedanke ihn im Team zu haben, obwohl ihm Lehrgänge fehlten, war nicht unsympathisch. Schweiger war ein guter Kriminalbeamter und außerdem Lichthaus zugetan. Er würde sich für Schweiger verwenden, sofern er selbst in der Mordkommission noch eine Zukunft hatte.
Anschließend machte er einen Spaziergang nach Waldrach, um über den Fall nachzudenken, aber er kam nicht weiter, sondern verbiss sich wieder in die Erinnerung an die letzte Nacht. Er aß und trank in einem Biergarten eine Kleinigkeit, doch hielt er es nicht lange aus. Das Lachen und die Gespräche der anderen Gäste taten weh. Er war hier ein trauriger Außenseiter. Den Rest des Abends verbrachte er vor dem Fernseher. Gedanken betäuben.
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