Früh am nächsten Morgen saßen alle bis auf Cornelia Otten, die zu ihrer Tochter gefahren war, auf ihren Plätzen. Die meisten Kollegen machten einen ausgeruhten, aber angespannten Eindruck. Er überließ es Steinrausch, den gestrigen Tag zusammenzufassen, dann begann er.

»Spleeth hat mir seinen Bericht hereingegeben. Er hat noch eine Spektralanalyse der Glassteine und eine genaue Materialanalyse von Messing und Lötzinn durchgeführt. Sein Ergebnis ist, dass beide Knöpfe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus der gleichen Produktion stammen.« Er schaute in die Runde. »Dieser, nennen wir ihn mal Rote Ritter, ist entweder unser Täter oder er kennt die Quelle, aus der unser Knopf stammt. Wir müssen an den Mann ran.«

»Wovon wollen wir ausgehen? Täter oder Zeuge?«, Scherer blickte ihn fragend an, doch Sophie Erdmann sprach zuerst.

»Das ist schwer. Auf der einen Seite hören sich die Aussagen über den Roten Ritter so an, als sei er nicht ganz richtig im Kopf. Redet in mittelalterlichem Deutsch und will sein Gesicht nicht zeigen. Auf der anderen Seite wirkt er sehr zielstrebig, trägt eine super Ausrüstung und bereitet sich offensichtlich intensiv auf die Kämpfe vor, die er immerhin alle gewinnt.«

»Seine Größe und der durchtrainierte Körper könnten passen.« Müller dachte kurz nach. »Was sagt denn unser Fallanalytiker zu den neuen Fakten?«

»Nichts, denn er kennt sie erst seit zehn Minuten. Ich fahre später zu ihm, dann ist das Profil wohl fertig. Ich werde diese Frage mit ihm diskutieren. Frau Erdmann nehme ich mit.«

»Gut. Kann man die Knöpfe kaufen?«

Lichthaus sah, dass die anderen bei Müllers Frage stutzten, diesen Aspekt hatten sie übersehen. »Ich war gestern Abend noch ewig im Internet und habe Hunderte von handgearbeiteten Knöpfen gesehen, unsere hier waren nicht dabei. Es ist nicht auszuschließen, dass sie irgendwo angeboten werden, aber wenn, dann wohl nur in exklusiv kleiner Zahl.«

»Was sich auch mit den Auskünften des Experten deckt, den Spleeth angerufen hat«, ergänzte Steinrausch.

»Wir sollten die Frage noch genauer prüfen«, Lichthaus schaute Steinrausch an, der sich nickend eine Notiz machte. »Ansonsten tendiere ich für meinen Teil erst einmal dazu, den Roten Ritter für den Täter zu halten. Wichtig ist meines Erachtens, dass wir so schnell wie möglich einen Einsatz für Samstagabend planen. Herr Marx, Sie waren ja mal auf dem Burgenfest in Manderscheid.«

»Nun«, begann Marx müde. Er hatte kaninchenrote Augen und sah völlig ungepflegt aus. Er schien den freien Abend ausgiebig genossen zu haben. In Lichthaus kamen die alten Aversionen hoch, doch er unterdrückte sie. »Es gibt dort zwei Burgen. Die Feiern finden an der Niederburg statt, fast eine Ruine, die auf einem niedrigen Hügel direkt an der Lieser steht. An ihrem Fuß werden Würstchenbuden, Bierstände und Toiletten aufgestellt. Hier finden auch kleine Vorführungen statt, die wahre Menschenansammlungen verursachen. Gaukler und Zauberer und so was eben. Überwachungstechnisch die Hölle. An den Abenden sind da Tausende von Besuchern. Sie glauben nicht, was da los ist. Ich war zwar nur am Mittag da, aber trotz schlechten Wetters war ein Gedränge wie beim Oktoberfest. Eine Überwachung geht hier wohl nur von einer erhöhten Stelle aus. Das müsste man vor Ort klären.«

»Gibt es dort eine Aussichtsplattform?«

»Ja, auf dem einzigen Turm, der noch begehbar ist. Von da aus ist allerdings nur ein kleiner Bereich einzusehen. Aber es wird ja noch besser. Unterhalb des Hügels, auf dem die Burg steht, liegt in einer Flussschleife eine große Auwiese. Hier finden die Ritterspiele und Musikveranstaltungen statt. Man muss aber über das Wasser, um dort hinzukommen. Von der Burg aus gibt es nur einen steilen schmalen Weg hinunter, an dessen Ende man über eine Holzbrücke auf das Festgelände gelangt. Abends soll das Gedränge so dicht sein, dass man minutenlang warten muss, um hinüberzukommen. Eine vernünftige Überwachung braucht haufenweise Beamte. Ich schätze gut vierzig Mann, wenn wir gut aufgestellt sein wollen.«

»Ausgeschlossen. Nur wegen eines Knopfs. Er kommt doch zum Schwertkampf, da müssen wir eigentlich nur diesen Bereich abdecken. Was soll also der Aufwand?«, warf Müller ein.

Typisch Müller, ärgerte sich Lichthaus, er will mal wieder alles möglichst klein aufziehen. »Das ist gefährlich«, konterte er.

»Wenn er etwas mitbekommt und vorher abdreht, können wir ihn nicht mehr greifen. Außerdem ist er bewaffnet und viele Leute stehen da herum.«

»Na, wir wissen doch nicht einmal, ob er der Täter ist. Da ist eine Vollüberwachung übertrieben. Stellen Sie sich mal vor, wir nehmen da mit lautem Tamtam einen völlig Unbeteiligten fest.«

»Und wenn er es ist?« Lichthaus Ton wurde rauer. Er sah nicht ein, warum eine vielleicht einmalige Chance vertan werden sollte, nur weil man nicht einen Misserfolg riskieren wollte.

»Dann kriegen wir ihn auch bei den Schwertkämpfern zu fassen. Sie müssen das nur richtig organisieren.« Müller ließ den Chef raushängen.

»Mit zehn Teams müssten wir die Wiese abdecken können«, mischte Marx sich ein. »Er kann ja nur über die Brücke kommen.«

Lichthaus verdrehte die Augen und gab für den Augenblick nach. »Warten wir ab, was ein Ortstermin ergibt. Ich fahre heute Nachmittag mit Frau Erdmann und Herrn Scherer nach Manderscheid. Herr Steinrausch versucht noch einmal, mögliche Bezugsquellen für den Knopf zu ermitteln. Ziehen Sie jemanden von der Soko hinzu und lassen Sie bitte die Fotos des Roten Ritters abholen.«

»Was ist mit der Rasterfahndung?«, wollte Scherer wissen. »Die Ergebnisse liegen noch nicht vor.«

»Es gibt aktuell kein Ergebnis. Die läuft weiter«, entschied Lichthaus und auch Müller nickte zustimmend. »Bevor wir losfahren, gehen wir noch auf Eva Schneiders Beerdigung. Ich möchte, dass die Teilnehmer fotografiert werden. Wer weiß, möglicherweise ist unser Täter ja neugierig.«

 

Um zehn Uhr holte er Sophie Erdmann ab, um sich mit ihr zusammen auf den Weg zu von Falkberg zu machen, als Marx die beiden auf dem Gang abfing.

»Das hier sollten Sie nicht verpassen«, sagte er und schon drehte er sich um, Richtung Beobachtungsraum neben dem Vernehmungszimmer. Auf einem der Stühle saß zitternd offenbar ein Obdachloser. Der Penner, erinnerte sich Lichthaus.

»Er war gestern schon hier und hat nach mir gefragt.«

»Heinz Ostholz, neunundvierzig Jahre. Sieht aber aus wie siebzig. Seit elf Jahren auf der Straße. Er will was zu der Brandleiche aussagen, da haben Sie mich gerufen.«

»Was sagt er?«

»Noch nichts, ich wollte mich mit Ihnen abstimmen.«

Lichthaus schaute Marx erstaunt an. Heute kein Alleingang also. »Na, dann gehen wir mal rein.«

Sie gingen hinüber in das Vernehmungszimmer und prallten zurück. Der Raum war erfüllt von einem intensiven Gestankmix aus Alkohol, Urin und Dreck. Der Mann drehte sich um. Sein Haar war strähnig und verfilzt, Wollhose und T-Shirt starrten vor Schmutz. Um sich herum hatte er einige Plastiktüten verteilt. Er blinzelte die Beamten kurzsichtig an und zeigte ihnen sein lückenhaftes, halb verfaultes Gebiss.

»Habt ihr was zu saufen hier, he?«, brummte er und schaute sie aus glasigen Augen an. Lichthaus verließ augenblicklich den Raum.

»Das halte ich nicht aus«, er grinste Marx zu, der ihm hinausgefolgt war. »Besorgen Sie dem in der Kantine ein Bier. Wir nehmen ihn mit raus und befragen ihn vor der Tür.«

Kurze Zeit später saß Heinz Ostholz auf einer Bank im Park des gegenüberliegenden Altenheims und trank in einem Schluck die Flasche halb leer. Die Beamten standen in sicherem Abstand um ihn herum und warteten. Es war angenehm warm, obwohl der Himmel bedeckt war.

»Der Verbrannte«, Ostholz nahm noch einen Zug aus der Pulle und nuschelte weiter, »das ist der Bruno.«

»Wie bitte?«, Lichthaus schaute die Kollegen groß an.

»Na, der Bruno«, Ostholz leerte die Flasche und rülpste laut. »Bruno Bender. Ein Kumpel von mir. Der Kerl hat den umgebracht, wegen dem Ding mit dem Mädchen.«

»Was für ein Ding?« Lichthaus verstand nicht, worauf er hinauswollte. »Mann, jetzt erzählen Sie uns doch mal alles von Anfang an.«

»Komm mir nicht blöd, sonst sag ich nichts mehr.«

»Sie haben die Wahl zwischen Ausnüchterungszelle und noch einem Bier.« Lichthaus hielt ihm eine weitere Flasche hin.

Sofort schlug Ostholz’ Laune um, er lachte und schaute ihn mit einem Mal wach an. »Ahh, jetzt verstehen wir uns.« Er schnappte sich das Bier, als habe er Angst, dass man es sich anders überlegen könnte. »Bruno hat gesehen, wie so ein Kerl sich ein Mädchen gegriffen hat. Hinten in der Straße, äh … ach … wo die Bank mit den Schweinen ist.«

Die Beamten zuckten zusammen. »Theodor-Heuss-Allee?«

»Sag ich doch. Der Bruno hat sich da immer hingelegt, also im Sommer. Ich nich’, da ist doch die ganze Hundescheiße. Das Mädchen ist über ihn gestolpert, und dann hat er gesehen, wie der Typ sich die geschnappt hat.«

»Und weiter?«

»Abgehauen, was sonst«, er trank wieder und bekam Schluckauf. »Hat aber irre Angst gehabt, ist da nicht mehr zum Schlafen hin. Der kennt mich, hat er gesagt. Am Montag hat er das dann von der Toten gehört, im Radio, da hatte er richtig die Hosen voll. Wollte so schnell wie möglich weg.«

»Wieso glauben Sie, dass der Tote dieser Bruno Bender ist?« Lichthaus war angespannt.

»Weil der seitdem verschwunden ist. Der Arsch schuldet mir noch zwei Euro.«

»Vielleicht ist er nur abgehauen, wie vorgehabt?«, meinte Sophie Erdmann.

»Nee, nee Mädchen, der hat seinen Hund noch hier, den Clipper, ohne den geht der nich weg. Der is jetzt bei Gabi. Die hat noch so ’n Vieh. Drecksköter, wollt keinen haben.«

»Okay, warten Sie bitte mal einen Augenblick.« Lichthaus machte mit dem Kopf eine Bewegung zur Seite und dirigierte damit seine Mitarbeiter einige Meter weiter weg.

»Das Zahnbild könnte zu einem Obdachlosen passen«, begann Marx. »Auch, dass ihn niemand vermisst. Was meinen Sie?«

»Das würde den ganzen Fall neu bewerten.« Lichthaus betrachtete den Alten, der jetzt stumpf vor sich hindösend dasaß. »Wir müssen erst einmal die Identität des Toten verifizieren. Ob es da Zusammenhänge mit dem Mord an Eva Schneider gibt, sehen wir dann. Klären Sie bitte ab, ob Bender auf der Liste mit den Herzklappen steht.« Er ging wieder zurück, hielt aber Abstand. »Haben Sie persönliche Gegenstände von Bruno?«

»Was?«, schreckte der Kerl hoch, riss sich dann aber zusammen. »Sein Schlafsack liegt noch bei St. Matthias. Da hat er unter der Brücke gelegen. Ich auch.«

Lichthaus wandte sich an Marx. »Schicken Sie eine Streife hin. Und Sie fahren mit«, forderte er Ostholz auf, »und geben den Kollegen alles, was Bruno gehörte.«

Der Mann grinste. »Staatstaxi. Bringen die mich auch wieder her?« Doch keiner reagierte.

»Die Kollegen werden sich freuen«, murmelte Sophie Erdmann und alle grinsten. Lichthaus zuckte die Achseln und wandte sich wieder an Marx. »Die Streife soll Benders Habseligkeiten bei Spleeth abliefern, der kann den genetischen Fingerabdruck nehmen.« Dann schaute er auf die Uhr. »Wir müssen los. Halten Sie mich unbedingt auf dem Laufenden.«

Marx nickte, als wäre er wirklich zur Kooperation bereit.

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