In seinem Büro lagen bereits die Protokolle der Bereitschaftspolizei. Steinrausch hatte ihm alle infrage kommenden Adressen zusammengestellt und ein aktuelles Foto von Eva, offensichtlich von der Abiturfeier, beigelegt. Sie trug ein aufwändiges Kleid und hielt ihr Zeugnis lachend in die Kamera. Bevor er den Bericht ganz lesen konnte, klopfte es. Scherer betrat das Büro und setzte sich auf den Besucherstuhl.
»Hallo Johannes, ich hätte da vor unserer Sitzung zwei Dinge zu besprechen.« Er wartete auf ein zustimmendes Nicken von Lichthaus, dann fuhr er fort. »Also, ich hatte es vorhin ja schon erwähnt. Der Abgleich der Vermisstenakten aus der Region ergibt zwar kein klares Bild, doch lassen sich Abweichungen vom Bundesdurchschnitt erkennen. Es ist mehr eine Ahnung, aber ich sehe Parallelen zwischen mindestens zwei der Fälle und dem Verschwinden von Eva Schneider. Die älteren Vorgänge habe ich mal außen vor gelassen. In allen drei Fällen handelt es sich um junge Frauen Anfang zwanzig. Die eine heißt Christine Bach, zum Zeitpunkt ihres Verschwindens 24 Jahre alt. Sie hat in Koblenz studiert und war übers Wochenende zu Hause in Großlittgen bei Wittlich. Verschwunden ist sie am 17. März des vergangenen Jahres. Sie ist mittags mit ihrem Hund spazieren gegangen und nicht mehr zurückgekommen. Das Tier hat man tot gefunden.«
»Ja, ich erinnere mich. Die Wittlicher haben mit Hundestaffel und Hubschrauber gesucht.«
»Das andere Mädchen ist ein halbes Jahr vorher als vermisst gemeldet worden. Sie stammt aus Weiskirchen im Saarland. Angelika Zeuner, Krankengymnastin, 20 Jahre alt. Sie ist mit dem Rad zur Arbeit gefahren und nie wieder gesehen worden. Laut Akte haben die Kollegen aus Saarbrücken so ziemlich jeden Stein umgedreht, aber keine konkrete Spur finden können.«
»Also sind drei Mädchen in kurzer Zeit spurlos verschwunden. Du glaubst an einen Zusammenhang? An eine Serie?«
Scherer druckste unschlüssig herum. »So weit will ich nicht gehen. Die Parallelen lassen mich einfach aufhorchen. Das kann aber auch Zufall sein. Ich denke nur, dass wir die Altfälle einbeziehen sollten, wenn Eva nicht mehr auftaucht.«
»Das ist ein guter Gedanke. Wir sollten das im Hinterkopf behalten. Nur, solange wir keine Leichen haben, können wir auch nicht von Mord und schon gar nicht von Serienmord sprechen. Zieh aber trotzdem mal alle Ermittlungsberichte der verschwundenen Frauen zusammen. Man kann ja nie wissen.«
Lichthaus grübelte über Scherers Vermutungen nach. Ein Serienmörder würde sie vor eine große Herausforderung stellen, da die Ermittlungen oft ins Leere führten. Fast immer fehlte die direkte Verbindung zwischen Opfer und Täter.
»Was mich stutzig macht, ist der Abstand zwischen den Taten. Die werden ja länger.« Von einem Serienmord sprach die Theorie, wenn wenigstens drei unabhängige Taten von einer Person begangen wurden und dazwischen eine sogenannte emotionale Abkühlung stattfand. Diese Phasen verkürzten sich meistens mit der Zeit. Das traf auf die von Scherer gezeigten Fälle nicht zu.
»Eventuell gibt es weitere Taten, die wir noch nicht in diesem Zusammenhang gesehen haben?«
»Das ist doch jetzt reine Spekulation.« Lichthaus wehrte ab.
Scherer nickte nachdenklich. »Du hast Recht, der Verdacht ist zu schwach.«
»Ich will das ja gar nicht ausschließen, aber im Moment gehe ich eher von einem Einzelfall aus, wenn überhaupt ein Gewaltverbrechen vorliegt.«
Später las er den Bericht der Bereitschaftspolizei. Er bot eine kleine Überraschung. Eva Schneider war in der Nacht ihres Verschwindens tatsächlich gesehen worden. Die Kollegen hatten die wenigen Anwohner systematisch befragt und hierbei einen Zeugen gefunden. Der Mann namens Richard Ley wohnte in der Simeonstraße und hatte wohl altersbedingt wach gelegen. Von seinem Fenster in der ersten Etage hatte er ein Mädchen in die Glockenstraße abbiegen sehen und sie später als Eva Schneider identifiziert. Lichthaus stutzte. Wie hatte der Alte zweifelsfrei eine Fahrradfahrerin wiedererkennen können, die in der Nacht an seinem Haus vorbeigefahren war? Sie würden ihn nochmals befragen müssen.
Die restliche Zeit verbrachte er mit Verwaltungsarbeit und den vor sich hindümpelnden Altfällen, die kein Ende zu nehmen schienen. Gegen fünf stand er auf und schaute aus dem Fenster in den Hof. Der Ausblick aus seinem alten Büro über die Allee auf die Kaiserthermen und den Palastgarten bis hinüber zum Palais war das Einzige, was er an dem hässlichen Bau vermisste. Unter ihm in der Hitze rollte träge der Feierabendverkehr an St. Maximin vorbei. Die Menschen strebten nach Hause, in die Schwimmbäder, die Gärten oder zum Grillen. Ein Sommerabend wie gemacht für vielerlei Aktivitäten. Er dachte kurz an Claudia und Henriette und wie gern er jetzt bei ihnen gewesen wäre, verbot sich aber solche Gedanken. Eva Schneider war mittlerweile den vierten Tag verschwunden, die Zeit drängte.
Marx war bereits im Besprechungsraum und saß auf seinem angestammten Platz an dem großen Tisch, der Platz für zehn Mitarbeiter bot. Er starrte die leere Wandtafel an. Als er Lichthaus hereinkommen sah, nickte er ihm kurz zu, verließ dann aber wortlos den Raum. Lichthaus zuckte nur genervt mit den Schultern. Während er überlegte, ob sie den Beamer einsetzen würden, traf Sophie Erdmann zusammen mit Steinrausch und Scherer ein. Pünktlich um fünf Uhr begann Lichthaus mit seinem Bericht und fasste die Ergebnisse der Streifenbeamten zusammen. Dann informierte Sophie Erdmann über das Gespräch mit Oliver Heitmann. Sie trug knapp, aber umfassend vor, und Lichthaus konnte an den Blicken der Kollegen erkennen, dass ihre Professionalität sie bei aller Zurückhaltung doch beeindruckte. Auch Marx, der zwischenzeitlich wieder hereingekommen war, konnte eine gewisse Anerkennung nicht verbergen. Der Streit des Vortages schien in den Hintergrund getreten zu sein, um einer unterkühlten Neutralität Platz zu machen. Lichthaus hoffte, diese aufrechterhalten zu können. Nachdem Scherer seine Fakten vorgetragen hatte, ohne auf den Serienmordverdacht einzugehen, begann Steinrausch.
»Karl-Heinz und ich waren heute wie besprochen bei den Schneiders. Wir sind alle Möglichkeiten mit ihnen durchgegangen, aber nichts hat zu einer plausiblen Erklärung geführt. Sie haben letzte Woche bei einer Familienfeier gefilmt und man kann diesen Heitmann mit Eva sehen. Die waren total verliebt. Und dann haben wir ja noch den Zeugen Ley, der sie nachts gesehen haben will. Sie scheint jedenfalls lebend von ihrem Freund weggegangen zu sein. Bekannte und Verwandte haben die Schneiders alle angerufen. Ohne Ergebnis.«
Lichthaus unterbrach ihn. »Konnten Sie einen Terminplaner finden?«
»Nein, den hat sie immer dabei, wohl auch in der Nacht ihres Verschwindens. Außerdem fehlt das Rad.«
»Richtig. Rufen Sie mal im Fundbüro an. Vielleicht wurde es abgegeben. Was ist denn mit ihrem Exfreund, diesem Christoph …?« Er zögerte und blätterte in seinen Unterlagen.
»Bleier«, half Marx ihm aus. »Der hätte ein Motiv, hat aber ebenfalls ein Alibi. Er macht eine Lehre zum Versicherungskaufmann. Ich bin vorhin noch in seiner Agentur vorbeigefahren. Er war auf einer Fortbildung in Saarbrücken. Am Samstagabend war die Abschlussfeier, die er angeblich bis um halb drei nachts besucht hat. Die Zeugen, die er dafür benannt hat, habe ich angerufen. Die waren zwar alle ziemlich betrunken, doch einer war sich absolut sicher, dass Bleier bis zum Schluss mit dabei war.«
Lichthaus schaute in die Runde. »Hm. Was denken Sie also?«
Scherer antwortete als Erster. »Die Fakten und auch die Dauer ihres Verschwindens lassen meines Erachtens nur einen Unfall oder ein Verbrechen als Erklärung zu.«
Steinrausch ergriff das Wort »Das sehe ich auch so. Wir sollten uns an die Öffentlichkeit wenden. Eventuell gibt es noch weitere Augenzeugen.«
Lichthaus nickte. »Daran habe ich auch schon gedacht. Ich werde mit Müller darüber sprechen. Unsere Pressestelle soll das sofort veranlassen. Morgen besuche ich diesen Ley. Thomas, du setzt dich mit Evas Frauenärztin in Verbindung. Vielleicht erfahren wir etwas über eine ungewollte Schwangerschaft. Die ist schon der Anlass für viele Bluttaten gewesen. Sie beide«, er nickte Marx und Steinrausch zu, »kümmern sich bitte nochmals um die Befragung der Anwohner. Dehnen Sie diese bis zur Kochstraße und der Allee samt Grünstreifen aus. Da Eva die Glockenstraße entlang ist, hoffe ich, dass sie dort ein weiterer Zeuge gesehen hat. Außerdem soll die Wasserschutzpolizei die Mosel absuchen. Sie war zwar wahrscheinlich nicht da unten, aber wer weiß.«
»Wir sollten uns auch via Facebook an die Leute wenden. Um die Uhrzeit geistern nachts eher die jungen Leute durch die Stadt. Die erreichen wir so besser als über die Zeitung.«
Alle nickten zustimmend, und Lichthaus fasste die Ergebnisse ihrer Besprechung zusammen. Dann löste er die Sitzung auf, um die weiteren Schritte mit seinem Vorgesetzten zu besprechen. Als er eine Stunde später von Müller kam, der nach ewiger Diskussion einem Aufruf in den Medien zugestimmt hatte, fand er Sophie Erdmann allein an ihrem Schreibtisch vor. Wie abwesend sah sie aus dem Fenster.
»Hallo.«
Sie zuckte zusammen.
»Ich komme wegen des Zeitungsaufrufs.« Sophie Erdmann reichte ihm die Unterlagen, die die Pressestelle benötigen würde.
»Konnten Sie Evas Freundin erreichen?«
»Ja, aber sie war keine große Hilfe. Sie hat Eva vor rund vier Wochen das letzte Mal gesehen, weil sie anschließend in Urlaub war. Von Problemen wusste sie auch nichts zu erzählen, mit Ausnahme natürlich der Krankheit des Vaters. Die Aussagen gehen unisono dahin, dass Eva in letzter Zeit glücklich war. Einen Grund zum Abhauen scheint es nicht zu geben. Ich habe trotzdem veranlasst, dass wir Einblick in ihr Bankkonto und ihren E-Mail-Account bekommen. Falls sie abgetaucht ist, wird sie früher oder später hierauf zugreifen.«
Lichthaus war beeindruckt. »Sehr gute Idee. Hätte ich eigentlich selbst drauf kommen können.«
Sie lächelte über das Lob, doch dahinter schimmerte Frustration.
»Übrigens, haben Sie heute Abend schon was vor?«
Sie schien überrascht zu sein. »Äh, nein. Warum?«
»Dann kommen Sie doch um acht zum Grillen zu uns. Wir wohnen in Eitelsbach.«
»Ich, also ich«, begann sie zögernd, fuhr dann entschlossen fort, »komme sehr gern. Danke.« Sie lächelte ihn an.
»Ich weiß noch, wie es sich anfühlt, in einer neuen Stadt zu sein. Eitelsbach ist klein. Sie werden uns finden. Wir wohnen gegenüber der Kirche.«
Lichthaus ging zurück ins Büro und telefonierte mit Claudia. Sie war im ersten Moment über die kurzfristige Ankündigung des Besuchs wenig begeistert, hatte aber Verständnis dafür, dass er seiner neuen Kollegin den Einstieg erleichtern wollte. Schließlich sprach er noch mit einem Redakteur des Trierischen Volksfreunds, der den Aufruf am kommenden Tag auf der ersten Seite bringen wollte, dann fuhr er nach Hause.
Der alte Golf hatte keine Klimaanlage, so dass die Hitze ihn vollständig einhüllte. Schon in Mainz hatte er sich angewöhnt, die Probleme, die ihn beruflich belasteten, mit Verlassen des Präsidiums mehr oder weniger aus seinem Bewusstsein zu verdrängen. Nur so konnte er entspannen. Der heutige Tag war eher ein »Weniger«-Tag, da ihn die unbefriedigende Suche nach Eva Schneider belastete. Sie hatten rein ermittlungstechnisch alles getan, hatten das private Umfeld durchleuchtet und versucht, potenzielle Zeugen und Motive für ein mögliches Verschwinden auszumachen. Meistens zeigte sich in solchen Fällen relativ schnell ein Muster, wonach der Vermisste gesucht und in der Regel gefunden wurde. Viele flohen vor häuslichen Problemen. Streit mit dem Partner oder den Eltern. Häufig spielten berufliches Versagen, Schulden oder Depressionen eine zentrale Rolle. Auf Eva Schneider traf nichts von alledem zu. Der Zeuge war da eigentlich ein Glücksfall, auch wenn er das Mädchen nur aus seiner Wohnung heraus gesehen hatte. Der Aufruf über die Zeitung und die anderen Medien war ihre letzte Hoffnung. Sollte sich daraus nichts ergeben, waren sie auf Kommissar Zufall angewiesen. Er straffte sich. Die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt.
Vor dem Haus stand Claudias Berlingo. Die Haustür war weit geöffnet, und seine Frau schleppte gerade ein Bild heraus. Zwischen Schulter und Ohr hielt sie das Telefon geklemmt. Sie nickte ihm lächelnd zu und drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
»Also, Leo, so wird das nicht laufen!« Sie klang genervt. »Wir hatten die Ausstellung von zwanzig Bildern besprochen und nicht nur von siebzehn. Bitte?« Sie lauschte einen Augenblick und verdrehte die Augen.
Lichthaus ging ins Haus und zog sich um. Kurze Hose und T-Shirt. Also doch die Galerie von Leo Möbius. Er verstand nicht, warum sich Claudia schon wieder mit diesem Widerling einließ. Er hatte zwar viele interessante Kunden, auch aus Luxemburg, doch schien er seine Künstler systematisch auszunehmen. Claudia würde aufpassen müssen.
Als er nach unten kam, hatte sie das Gespräch bereits beendet. »So ein Idiot«, schrie sie. »Wenn der glaubt, dass ich nach seiner Nase tanze, hat er sich geschnitten.« Sie blieb vor ihm stehen. Ihre Augen funkelten vor Wut.
»Warum lässt du dich immer wieder mit diesem Kerl ein? Der betrügt dich nach Strich und Faden. Du bist zu schade für seinen Laden.«
Er gab ihr einen zärtlichen Kuss, den sie erwiderte. Zärtlich strich sie ihm durchs Haar. Ihr Ärger verrauchte. Er küsste sie wieder, diesmal intensiver, und ließ seine Hände unter ihr T-Shirt wandern.
»Komm. Die Kleine schläft.« Sie zog ihn mit nach oben.
*
Er war in den Raum gekommen, hatte sie losgebunden und sie vom Bett gezogen. Blind war sie von der Matratze gerutscht. Ihr Kreislauf versagte, und sie fiel hilflos auf den Boden, der rau wie roher Beton war. Jetzt griff er ihr murrend in die Haare und riss sie ruckartig auf die Beine. Schreien konnte sie nicht mehr. Sie stöhnte matt und taumelte, schwankte wie betrunken umher und zuckte zusammen, als ein neuer Schmerz in alten Wunden aufflammte. Panik erfasste sie, denn es war anders als sonst. Er warf sie aufs Bett und riss ihr ohne Vorwarnung den Klebestreifen von den Augen.
Sie stöhnte auf. Das grelle Licht bohrte sich wie Pfeile in ihre Augen, und es dauerte, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnte. Etwas wurde direkt neben ihr auf die Matratze geworfen, doch sie reagierte nicht, war wie erstarrt. Endlich wieder sehen, die Farben der verwaschenen Bettwäsche, wundervoll. Sie hätte weinen können. Doch dann traf sie die Erkenntnis mit Wucht. Jetzt würde er sie umbringen. Sie begann nicht zu zittern, und irgendwo in ihrem Innersten kehrte Ruhe ein. Die schreckliche Ungewissheit hatte ein Ende.
»Zieh dich an!« Seine Stimme war nur ein Zischen, als sie ihn jetzt zum ersten Mal nach der ganzen Zeit sprechen hörte. »Wenn du mich anschaust, bist du tot.«
Als sie den Kopf drehte, lagen da zum Greifen nah ihre Kleider. Er lässt mich gehen, schrie die Hoffnung in ihr und kämpfte mit dem Zweifel. Wieso darf ich ihn nicht ansehen? Gleich wird er mich betäuben. Tränen stiegen in ihre Augen. Sie erhob sich langsam. Als sich ihr Kreislauf beruhigt hatte, zog sie sich das T-Shirt über den Kopf und weinte leise vor sich hin. Sie griff nach der Jeans, bemerkte den Fleck darauf. Oliver hatte unachtsam ein Stück Pizza darauf fallen lassen. Sie hatte sich aufgeregt und ihn angemeckert. Wegen eines Flecks. So lächerlich. Sie weinte weiter. Oliver! Der Funke Hoffnung, ihn wiederzusehen, wurde stärker. Sie vergaß für einen Moment sogar, dass dieser Bastard hinter ihr stand. Doch plötzlich drückte er sie brutal nach vorne und drang in sie ein. Der Schmerz kam so unverhofft, dass sie unwillkürlich aufschrie.
Sie ließ es über sich ergehen, spürte wie seine Erregung stieg und wartete auf seinen Höhepunkt. Dann würde es endlich vorbei sein. Sie schaltete ab, so wie sie es in der Zeit hier unten gelernt hatte, als er plötzlich Zugriff, sie am Hals packte und zudrückte. Sie schlug um sich, ziellos, wirkungslos. Das Blut rauschte immer lauter in ihrem Kopf, ihre Augen quollen nach vorne, als sie nach der Luft schnappte, die ihre Lungen nicht mehr erreichen konnte. Plötzlich gab er ihren Hals frei. Panisch sog sie den Sauerstoff ein, beruhigte langsam ihren Atem, doch er drückte erneut zu. Sie grunzte, ihr Körper schien zu platzen, sinnloser Atemreflex. Es ging zu Ende. Für einen Augenblick spürte sie tiefen Frieden, sah wirre Bilder ihres Lebens. Dann war es vorbei. Sie spürte nicht mehr, wie ihre Muskeln erschlafften und hörte auch nicht, wie er ekstatisch stöhnend in ihr kam, denn sie war frei. Frei von Schmerz und Erniedrigung, frei von Angst und Schrecken, aber auch frei von Hoffnung.
Als er sich von ihr löste, rutschte Evas Körper vom Bett und krachte auf den Boden. Ein Schneidezahn brach ab.
Lichthaus lag in der Umarmung seiner Frau und küsste sie sanft. Es war schön gewesen, wieder mit ihr zu schlafen. In solchen Momenten wusste er, dass seine Entscheidung, das LKA zu verlassen, um ihre Ehe zu retten, richtig war. Sie hatten ihre Probleme in Mainz zurückgelassen und sich hier den Freiraum geschaffen, den ihre Beziehung brauchte. Wenn er heute zurückblickte, war das wohl die beste Entscheidung seines Lebens gewesen. Sie waren miteinander im Gleichgewicht, ohne Missgunst und Misstrauen.
Sie lächelte ihn sanft an und zog ihn zu einem weiteren Kuss zu sich heran. Er schickte seine Hände erneut auf die Reise, doch Claudia hielt sie fest.
»Lieber nicht.« Sie biss ihm leicht ins Ohrläppchen. »Denk an den Besuch.«
»Mist.« Widerstrebend stand er auf, ergriff dabei ihre Hand und zog sie mit sich unter die Dusche. Erfrischt gingen sie nach unten. Lichthaus verteilte die Grillkohle und machte Feuer. Als er draußen den Tisch deckte, stand plötzlich Otto am Gartentor.
»Na, wie läuft es, Herr Kommissar?«, fragte der lächelnd, wobei sein Gesicht unzählig viele Runzeln zeigte.
«Na, wie wohl? Die Arbeit hat mich nach drei Wochen Urlaub wieder eingeholt. Flucht unmöglich. Komm rein!« Lichthaus und der Alte gingen in den Garten und setzten sich an den Grill. Otto wollte anfangs wieder gehen, als er sah, dass Besuch erwartet wurde, doch Lichthaus hielt ihn auf. Die Frau des Winzers war vor einigen Jahren gestorben, so dass er sich abends oft langweilte. Er freute sich über jede Abwechslung.
Bald setzte sich auch Claudia zu ihnen. Sie hatten alle bereits ein Glas von Ottos Wein getrunken, als Sophie Erdmann pünktlich um acht Uhr erschien. Claudia öffnete ihr die Tür und begleitete sie in den Garten.
»Also, Johannes, du hast mir ja noch nie von deiner hübschen Kollegin erzählt.« Otto grinste Sophie Erdmann breit an, die etwas befremdet seinen Blick erwiderte.
»Frau Erdmann ist erst seit heute bei uns.«
Die anfänglich etwas steife Stimmung lockerte sich, da Otto zum Essen blieb und sie mit allerlei Anekdoten unterhielt. Sophie Erdmann schien der Abend gut zu tun. Die Chemie zwischen ihr und Claudia stimmte auf Anhieb, und nach dem Essen schauten sie sich das Atelier an. Gegen elf Uhr löste sich die Gesellschaft auf. Lichthaus begleitete Sophie Erdmann nach draußen, während Claudia ihr noch eine Einladung zur Vernissage zusteckte.
»Es war ein sehr schöner Abend. Vielen Dank dafür, dass Sie mich vor meiner einsamen Klause verschont haben.« Sie lächelte. »Ich konnte nicht damit rechnen, hier so freundlich empfangen zu werden.«
»Ich bitte Sie. Es freut mich, wenn es Ihnen gefallen hat.« Er reichte ihr die Hand, aber sie schien zu zögern.
»Herr Lichthaus …«, begann sie langsam. »Ich will, dass Sie wissen, wie die ganze Affäre in Mainz abgelaufen ist.« Er wollte etwas einwenden, doch sie lehnte sich an den Kotflügel, schaute auf den Boden und begann zu erzählen.
»Bogdan, also Bogdan Skoitovich, war Anwalt in Mainz. Ich hatte einen serbischen Kriminellen verhaftet und sollte als Zeugin in der Verhandlung aussagen. Er war Verteidiger und ziemlich unfair. Ich habe ihn dann am gleichen Abend zufällig in einer Kneipe wiedergetroffen. Er kam herüber und entschuldigte sich, ich solle es nicht persönlich nehmen. So sei eben der Job. Er war ungemein liebenswürdig, so ganz anders als am Mittag. Er hat mir gefallen und ich ihm auch. Wir sind ein paar Mal ausgegangen und schließlich zusammengekommen, eigentlich völlig normal. Wir liebten uns, jeder ging seinem Job nach; wie es halt so läuft. Er war aufmerksam und kultiviert, hatte Geld. So ein Typ, wie man ihn sich wünscht. Seine Kanzlei wuchs stetig, da er mehrere Sprachen beherrschte und ein guter Jurist war. Er hat einiges für Ausländer erledigt, gerade jene aus dem ehemaligen Jugoslawien.« Sie grinste Lichthaus schief an. »Ich habe nie mitbekommen, dass da krumme Dinger laufen. Er war so was von diskret.«
»Glauben Sie, er hat Kontakt zu Ihnen aufgenommen, um an Informationen heranzukommen?«, warf Lichthaus ein, doch sie schüttelte den Kopf.
»Ach, nein. Die Presse hat das falsch dargestellt. Er hat mich nie um etwas gebeten. Nur, eines Tages kamen die Kollegen von der Drogenfahndung und warnten mich. Bogdan sei eine große Nummer in der Szene. Ich habe ihnen nicht geglaubt und Bogdan verteidigt. Abends bin ich zu ihm hin und wollte die Wahrheit wissen. Er hat gelogen wie gedruckt, alles abgestritten, und ich war so dumm, ihm zu vertrauen.« Sie sah Lichthaus mit feuchten Augen an.
Er nickte leicht, um ihr zu signalisieren, dass er verstand.
»Dann kam die große Razzia und alles ist aufgeflogen. Er war die rechte Hand des großen Paten. Mittendrin in all diesem Dreck und Elend, der ganzen Gewalt. Er kannte alle Verbindungen, wusste von Auftragsmorden, ja, er hat sogar deren Bezahlung organisiert. Für mich ist eine Welt zusammengebrochen. Unser Intimleben wurde ans Licht gezerrt, die Kollegen verhörten mich wie eine Kriminelle, und das Schlimmste war, dass Bogdan mir vorwarf, ihn nicht gewarnt zu haben, die Drogenfahnder mich aber genau deswegen anklagten.«
Sophie Erdmann beugte sich vor, die Arme eng um den Oberkörper geschlungen. Ihre Stimme klang hohl. Die Erinnerung drohte, sie mitzureißen. »Er trennte sich sofort von mir, warf meine Kleider auf die Treppe und bezeichnete mich als undankbare Schlampe. Mein Gott, wie habe ich mich in ihm getäuscht. Alles brach auseinander. Die Kollegen ächteten mich, es kam zur Suspendierung und zur Anklage wegen Beihilfe, die Gott sei Dank fallengelassen wurde. Na ja«, sie seufzte und richtete sich auf. »Vielleicht komme ich hier ein wenig zur Ruhe.«
Lichthaus sah sie an. »Das war sicherlich nicht leicht für Sie. Es sollte uns aber gelingen, Ihnen hier einen guten Start zu verschaffen. Erzählen Sie die Geschichte den Kollegen, wenn sich der passende Moment ergibt. Ich denke, das macht es leichter.«
Sie nickte. »Ich glaube, Scherer wird es verstehen. Steinrausch wohl auch.« Sie reichte ihm die Hand. »Bis morgen. Und vielen Dank.« Es klang müde, aber auch ein wenig zufrieden.
Als sie losgefahren war, ging Lichthaus ins Haus und räumte auf. Er konnte Sophie Erdmanns Resignation nachvollziehen, es war schwer, Privates mit dem Polizeiberuf in Einklang zu bringen. Vor einigen Jahren hatten er und Claudia eine enorme Krise durchgemacht. Damals hatte er den Dienst über alles gestellt, auch über ihre Beziehung. Er hatte die Warnzeichen übersehen, bis es fast zu spät gewesen war.
Jetzt beeilte er sich, wollte zu seiner Frau und der Kleinen. Als er ins Schlafzimmer kam, lag Henriette bereits in der Wiege. Claudia las noch. Er legte sich zu ihr, schreckte dann aber hoch. Hatten die Kollegen von der Streife auch überprüft, ob es auf Evas mutmaßlichem Heimweg Überwachungskameras gab? Wenn es welche gab, müssten sie morgen sofort die Aufnahmen auswerten.
Er machte sich eine Notiz und schlief nun ruhig ein, während Claudia ihm beim Lesen mit einer Hand über die Haare strich.
*