Als Lichthaus mit schmutziger Hose und lehmverschmierten Schuhen das große Besprechungszimmer erreichte, war es schon zwanzig nach vier. Sein Team und die neuen Kollegen saßen bereits auf ihren Plätzen und warteten. Als sie sich nach dem Unfall erkundigten, wimmelte er sie ungeduldig ab. Die Anspannung, die ihn in den letzten Tagen angetrieben hatte, war verflogen. Der Unfall und sein Wutausbruch hatten wie ein Katalysator gewirkt. Er sah den Fall nun in deutlichen Konturen und musste sich nüchtern eingestehen: Eigentlich hatten sie nichts. Keine griffigen Fakten, und selbst wenn von Falkberg ein passables Profil würde erstellen können, fehlte ihnen ein Rahmen, in dem sie es anwenden könnten. Doch er ließ sich nichts anmerken und begrüßte die Anwesenden. Er brachte alle auf den jüngsten Stand der Ermittlungen. Die Neuen hörten besonders aufmerksam zu. Es waren sechs Männer und Frauen, zumeist noch sehr jung und, wie er fürchtete, unerfahrene Fahnder. Bis auf Ulrich Schweiger, einen Kommissar aus der Sitte, kannte er niemanden.
Schweiger war ein bulliger großer Mann mit Vollglatze. Im Allgemeinen ein sehr verschlossener Typ, doch zwischen ihm und Lichthaus hatte sich während zweier gemeinsamer Fälle eine gewisse Sympathie eingestellt. Die Zusammenarbeit war einwandfrei verlaufen. Lichthaus war daher froh, ihn als Leiter des Fahndungsteams zu haben, auch wenn manch einer aus der Sitte beklagt hatte, dass Schweiger nicht teamfähig sei. Lichthaus und seine Mitarbeiter würden wie bisher weiter ermitteln, zeitintensive Fahndungsarbeit aber an diese Gruppe weitergeben, die personell beliebig aufgestockt werden konnte.
Nachdem er der Fahndungsgruppe ihre Aufgaben zugewiesen hatte, wandte er sich den aktuellen Ereignissen zu.
»Wir sollten mit dem Toten der vergangenen Nacht beginnen.«
Marx begann sofort mit seinem Bericht, ging dabei auf die bisherigen Ereignisse und den Obduktionsbericht ein und erwähnte, dass er noch einmal den Zeugen Zimmermann befragt habe. Der habe keine weiteren Angaben machen können und lediglich wiederholt, dass die Gestalt neben dem brennenden Opfer ein Mann gewesen sei. Mehr hatte Marx nicht aus ihm herausbekommen.
Die Diskussion über den Fall verlief kurz. Man beschloss, Marx und Scherer zwei weitere Kollegen an die Seite zu stellen, die die Vermisstenkartei auswerten sollten. Erst wenn die Ergebnisse der DNA vorlägen, würden sie weitere Schritte einleiten.
Anschließend erzählte Lichthaus von seinem Besuch bei dem Kriminalpsychologen von Falkberg. Als er geendet hatte, schaute er in nachdenkliche Gesichter.
»Wenn Eva Schneider nicht das erste Opfer war, muss es doch noch andere Vermisste geben«, begann Sophie Erdmann. »Gehen wir davon aus, dass er nur in der Region aktiv ist, haben wir ein Zeitfenster von mehreren Jahren, in denen wir keine Hinweise auf Verbrechen hätten.«
»Sicher ist, dass es kaum Parallelen zwischen dem Fall Eva Schneider und sonstigen Vermissten- oder Todesfällen gibt, von denen wir wissen. Auch keine anderen Vergewaltigungen. Ich habe die Charakteristika in ViCLAS eingegeben, ohne einen vernünftigen Treffer erzielen zu können. Wenn ich aber die Kriterien anders gewichte, bleiben Hunderte von Fällen im Raster hängen. Das hilft ja auch nicht.«
»Wir kommen so nicht weiter. Jetzt, wo wir die Unterstützung von weiteren Kollegen haben, starten wir eine Rasterfahndung auf Basis unserer Erkenntnisse.« Lichthaus schenkte sich einen Kaffee ein. Unfall und Müdigkeit waren vergessen, und er war hoch konzentriert. »Was wissen wir? Der Täter ist ein Mann, mittelalt, groß, er fährt einen Geländewagen mit Hänger, Zeugen sagen einen Pajero …«
»Ich habe das geprüft, in der Region gibt es 293 Pajeros und insgesamt rund 2.500 geländegängige Fahrzeuge, die so ähnlich sind«, sagte Steinrausch.
»Mein Gott.« Lichthaus schaute kurz Schweiger an. »Da haben Sie ja was vor. Außerdem hat er in Mainz oder Wiesbaden mehrere Frauen vergewaltigt.« Er zögerte einen Moment und wandte sich nun Scherer zu. »Der Fall in Paderborn. Wie sieht es damit aus?«
»Wir haben immer noch keine Antwort.« Scherer schien genervt zu sein. »Ich habe keine Ahnung woran das liegt, aber ich kümmere mich darum.«
»Frag auch nach Kleidungsstücken der Frau, vielleicht haben sie was in ihrer Asservatenkammer.« Lichthaus wandte sich wieder an die anderen. »Wir sollten uns noch einmal der Frage nach dem Versteck zuwenden. Wo hat er Eva Schneider festgehalten? In einem Haus? Oder besitzt er eine geeignete Wohnung?«
»Was ist denn mit alten Stollen? Es gab Fälle, in denen die Opfer dort festgehalten wurden«, merkte Müller an.
Marx schüttelte den Kopf. »Ihre Kleidung war aber doch voller Hausstaub!«
»Die Erfahrung zeigt«, Lichthaus hielt ein Merkblatt in die Höhe, »dass Sexualtäter meistens ledig und bereits strafrechtlich auffällig geworden sind. Wobei diese Fälle schon lange zurückliegen können. Wenn er um die vierzig ist, sollten wir zwanzig, besser noch fünfundzwanzig Jahre weit zurückgehen.«
»Die alten Fälle sind aber nicht in ViCLAS eingestellt.«
»Dann werden wir eben die Archive durchforsten.« Die Kollegen sahen ihn unbehaglich an, doch er ignorierte es. »Außerdem wohnen Sexualstraftäter in der Regel nicht weiter als dreißig Kilometer vom Tatort entfernt, wobei sich der Abstand zu ihrem Wohnort von Tat zu Tat verringert.«
»Sie denken an die Kreishypothese?« Sophie Erdmann zeigte wieder einmal, dass sie eine sehr gute Polizistin war. Eigentlich war ihr Fehltritt in Mainz ein Segen für die hiesige Mordkommission.
»Genau, bloß haben wir keinen Tatort, sondern nur einen Fundort. Das ist ein Problem.« Er dachte einen Augenblick nach. »Trotzdem sollten wir hierdurch die Region festlegen, in der wir nach ledigen Pajero-Fahrern suchen, die in unsere Altersklasse passen. Das Verfahren ist dann zwar nicht lehrbuchmäßig, aber besser als nichts.«
Die Kollegen nickten beifällig. »Wenn wir dann Ergebnisse haben, können wir die Zielgruppe ja weiter eingrenzen. Ich werde ein vorläufiges Fahndungsprofil entwerfen.«
»Ansonsten haben wir ja noch den Knopf«, warf Steinrausch ein.
»Was für einen Knopf, Herr Steinrausch?« Müller war verwirrt. Steinrausch erklärte es ihm.
»Das ist sehr vage.« Müller schaute zweifelnd in die Runde.
»Aber der einzige direkte Bezug zum Täter, außer der Toten natürlich. Die Idee ist, dass wir in einer bestimmten Region Personen befragen, die mit der, sagen wir mal, Mittelalter-Szene zu tun haben«, fuhr Steinrausch fort. »Wir haben hier mehrere solcher Vereine. In Klüsserath zum Beispiel, der heißt Vinland. Die sind mehrmals auf mittelalterlichen Märkten aufgetreten und machen da Schauschwertkämpfe. Außerdem gibt es fahrende Händler und Gaukler. Vielleicht erinnert sich jemand an diesen doch sehr auffälligen Knopf? Möglicherweise erfahren wir dann, wer solche Knöpfe verkauft oder an seiner Verkleidung trägt?«
»Ich halte das für unwahrscheinlich. Was ist denn das für ein Wikingerverein?«, wollte Müller wissen.
»Laut Vereinsregister wurde der Verein vor dreiundzwanzig Jahren gegründet. Neben allerlei Vereinsgemache bieten die Mitglieder im Internet die Teilnahme an Schaukämpfen an, sind im Grunde aber eigentlich Laien. Schaut man sich ihre Terminliste an, waren sie bei allen Mittelaltermärkten und ähnlichen Veranstaltungen in den vergangenen Jahren vor Ort.«
Lichthaus schüttelte den Kopf. Er war im vergangenen Jahr im luxemburgischen Vianden in ein Spektakel geraten. Claudia und er hatten sich die schön restaurierte Burg über dem Grenzfluss Our anschauen wollen, als unvermittelt ein Zeitsprung stattfand. Schmiede schwangen den Hammer, Bettler hauten sie mit hochtrabenden Sprüchen an und Pseudoritter, wie offenbar auch die von Vinland, veranstalteten ein Turnier. Er fand es lächerlich, wenn sich erwachsene Menschen heutzutage in Lederwams, Reifröcke oder Ritterrüstungen zwängten, um Mittelalter zu spielen. Am schlimmsten war, dass die Teilnehmer ihre Sache todernst nahmen. Regeln wurden aufgestellt, und irgendeiner spielte den großen Zampano. Das erinnerte ihn an seine Zeit bei den Pfadfindern im Westerwald: Mit dreizehn war er kurz Mitglied gewesen und hatte diesen Vereinskleingeist hassen gelernt.
Zu ihrem Ärger war die Burg an diesem Sonntag nicht geöffnet, und auf der Flucht vor schrägem Minnesang und dem ganzen Kostümspektakel war ihnen zu allem Überfluss im Gedränge der Fotoapparat gestohlen worden. Wenn er seitdem die Ankündigung mittelalterlicher Veranstaltungen las, wusste er sehr genau, wo er nicht hinfahren würde.
Steinrausch nahm seine Unterlagen zur Hand. »Im Internet gibt es Hunderte von Angeboten. Die Leute von Vinland mimen eine Wikingergruppe. Man kann da beitreten und ist ein Jahr lang unfrei, erst danach wird man als volles Mitglied aufgenommen. Ist alles geregelt. Die machen Feste mit Wettbewerben im Baumstamm- oder Axtwerfen und Bogenschießen. Minnesang gibt es auch.« Steinrausch grinste schief.
Lichthaus schaute zu Scherer rüber, der feixte: »Da können wir doch auch mal mitmachen. Ich werde Thor.« Die anderen grinsten.
»Keine Torheit. Ruhe, bitte!« Müller blickte streng in die Runde, doch seine Mundwinkel zuckten amüsiert.
»Nun«, fuhr Steinrausch fort, »die Vinland Gruppe veranstaltet jeden Dienstagabend mit anderen Vereinen namens Trebeta, Farmadur und Gripandilag ein Freikampftraining auf einer Wiese in Klüsserath. Außerdem scheint der harte Kern der Szene gar nicht so groß zu sein. Ich denke, da sollten wir mal hin und sie befragen.«
»Ich bin Ihrer Meinung«, entschied Lichthaus. Das war immerhin ein Anfang, der ihm vielversprechender schien, als blindlings irgendwelche Leute nach dem Knopf zu fragen, auch wenn es der Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen glich. »Die Wahrscheinlichkeit ist sicherlich nicht hoch, aber wir können im Augenblick wirklich nicht ermessen, wo wir ansetzen sollen. Da müssen wir auch die kleinste Chance nutzen. Ich werde morgen Mittag mit Staatsanwalt Schröder in Luxemburg auf einer Konferenz zur internationalen Zusammenarbeit sein.« Er wandte sich an Steinrausch, »Anschließend fahren wir zu dieser Gruppe. Klären Sie bitte ab, ob morgen auch Training ist.«
Er schaute in die Runde. »Was haben wir sonst noch?«
Die Kollegen blätterten in ihren Unterlagen. Kopfschütteln. Nur Sophie Erdmann meldete sich zu Wort. »Die Filme der Überwachungskamera aus Mainz sind damals gesichert worden. Der Beamte erinnerte sich, dass die Auswertung des Tattages kein Ergebnis gebracht hat.«
»Werden uns die Filme zugeschickt?«
»Nein.«
»Vielleicht ist etwas übersehen worden. Fordern Sie eine Kopie an. Sonst noch etwas?«
Da keiner antwortete, lösten sie die Sitzung auf. Im Hinausgehen trat Müller an Lichthaus heran. »Was ist denn nun mit Ihnen und Ihrem Wagen?«
»Das Auto sieht ziemlich übel aus. Aber ich bin so weit okay. Für ein Schleudertrauma war ich wohl schon zu langsam.« Er lächelte müde.
»Sie können weitermachen?«
»Ja klar. Haben Sie noch einen Augenblick?«
»Natürlich. Kommen Sie, wir gehen in mein Büro.«
Danke für die Anteilnahme, schoss es Lichthaus durch den Kopf, ehe er Müller folgte und in einem erstaunlich kurzen Gespräch die Genehmigung bekam, von Falkberg den Auftrag zu erteilen, ein Täterprofil zu erstellen.
Zurück in seinem Büro rief er Claudia an, die ihn eine halbe Stunde später abholen würde. In der Zwischenzeit las er von Falkbergs Artikel. Er und Kollegen hatten Mitte der Neunzigerjahre erstmals versucht, für Deutschland eine Typologie der Serienmörder zu entwerfen. Die Studie war äußerst aufschlussreich. Für Lichthaus überraschend war die Tatsache, dass die immerhin 82 hier überführten Serienmörder für 453 vollendete oder versuchte Morde verantwortlich waren. Eine solche Vielzahl von Taten hätte er nicht für möglich gehalten. Er konnte sich gut vorstellen, dass die Dunkelziffer wegen der besonders schwierigen Ermittlungsarbeit weitaus höher lag. Für die USA gingen Schätzungen von 200 bis 400 unerkannten Serienmördern aus. Bedrückend fand er auch, dass die Experten nur mit einer Aufklärungsquote von 56 Prozent rechneten. Bei anderen Straftaten lag die immerhin bei über 90 Prozent.
Sexualtäter hatten fast immer eine Vorliebe für bestimmte Methoden, ihre Opfer zu quälen und zu töten. Jürgen Bartsch beispielsweise hatte Anfang der Sechzigerjahre auf einer Kirmes in Essen einen Elfjährigen angesprochen und dann in einem Luftschutzbunker misshandelt, vergewaltigt und erschlagen. Erst nach drei weiteren, sehr ähnlichen Morden konnte er gefasst werden, da es seinem nächsten Opfer gelang, sich zu befreien und die Polizei zu informieren. Wie die meisten Sexualstraftäter hatte auch Bartsch die Taten in immer kürzeren Abständen begangen. Die stimulierende Wirkung, die der Täter während seines Handelns verspürte, wurde mit jeder weiteren Tat schwächer, so die Experten. Er stumpfte ab. Um einen neuen Kick zu bekommen, musste ein Mörder also in immer kürzeren Intervallen töten und ging dabei häufig immer brutaler vor. Weniger überraschend war für Lichthaus, dass der Kern der Abartigkeit schon in der Kindheit gelegt wurde. In vielen der untersuchten Fälle waren die Täter in einem zerrütteten und lieblosen Elternhaus aufgewachsen. Sie hatten wenig Kontakte zu anderen Menschen, auch nicht zu gleichaltrigen, und diese Art der sozialen Verpuppung behielten sie auch als Erwachsene bei. Viele lebten allein und wirkten nach außen hin angepasst. Ihre Sexualität war stark gestört und oft dominiert von einer Vorliebe für sadistische Praktiken. Lichthaus schauderte es.
Er hatte gerade die Lektüre beendet, als Claudia etwas später als erwartet hereinkam. Lichthaus packte die Unterlagen zusammen und nahm die Babyschale, in der die Kleine schlief. Er brauchte bis zum Parkplatz, um seinen Kopf von den Ereignissen des Tages zu befreien, und lief einsilbig neben Claudia her, die ihn unaufhörlich über den Unfall ausfragte. Sie hatte sich mit dem Autohaus in Verbindung gesetzt, das den Golf mittlerweile abgeholt hatte. Zu seinem Leidwesen hatte sie abgemacht, dass sie noch heute in die Werkstatt kommen würden. Er sparte sich einen sinnlosen Protest. Als sie auf den Hof kamen, stand sein VW auf dem Abschleppwagen und bot einen jämmerlichen Anblick. Obwohl Lichthaus nur Laie war, was Autos und ihre Reparatur betraf, sah er auf Anhieb, dass nichts mehr zu machen war. Müde stieg er aus und ging wortlos um das Wrack herum. Er fühlte sich völlig hohl, als Claudia zu ihm trat und den Arm um ihn legte.
»Komm Hannes, wir werden schon einen Neuen finden.«
»Das ist doch alles Scheiße. Seit Tagen sitze ich auf einer Rutsche, und es geht nur nach unten. Erst der Ärger mit Marx, dann Eva Schneider und die Brandleiche. Kaum etwas kommt voran, und für euch habe ich seit dem Urlaub kaum mehr Zeit. Du fährst allein nach Holland, und jetzt auch noch das hier.«
»Vielleicht bist du ja unten angekommen und es geht wieder aufwärts«, versuchte Claudia ihm Mut zu machen. Sie konnte nicht wissen, dass er noch lange nicht am Tiefpunkt angekommen war.
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