Sie kam spät nach Hause. Er grinste. Schließlich hatte er ihr viel Arbeit gemacht. Müde stieg sie aus dem Auto und ging langsam auf den Eingang zu, die Frau Kommissarin, die andere auf ihn schießen ließ. Sie würde sein Schlüssel zum Gral werden. Er wusste es genau. Schön und stolz war das Weib. Sie war das Zentrum, auf das seine Aufgabe zulief. Er spürte es. Sie war das Ziel. Ihre Demütigungen und Schmerzen sollten alles übersteigen, was bisher war. Ein neues Niveau. Die Krone. Verstecken würde er sie nicht. Präsentieren musste er sie. Genauso wie das Weib davor, so wie früher die Hingerichteten. Und alle, die sie sahen, würde eine schreckliche Angst lähmen.

*

Wolfgang Federer schrie auf einen jungen Mann ein, der gelangweilt zur rohen Betondecke hinaufschaute, als Lichthaus auf die Baustelle kam. Die beiden standen knöcheltief in einer grauen Brühe, die den Boden des Rohbaus bedeckte. »Du Idiot, da läuft uns doch die ganze Soße hinter die Isolierung.« Er bemerkte ihn im Eingang. »Ich habe jetzt keine Zeit, warten Sie draußen. Und du machst die Folie dicht.« Er wandte sich dem jungen Mann zu und schien ihn bereits vergessen zu haben.

Lichthaus verließ achselzuckend den Rohbau, setzte sich auf einen Stapel Paletten und wartete. Das Wetter war spätsommerlich schön, und er genoss einen Augenblick die warmen Strahlen auf der Haut. Er hatte in Erfahrung gebracht, dass Federer Estrichleger war und gemeinsam mit einem weiteren Meister einen Betrieb führte, der zehn Angestellte hatte. Zurzeit gossen sie Fließestrich auf einer Großbaustelle in Feyen, am südlichen Ende von Trier. Alle schienen in Hektik zu sein und liefen aufgeregt umher.

Am vergangenen Abend war er früh zu Bett gegangen und hatte endlich mal wieder gut geschlafen. Er war entspannt aufgestanden und eine halbe Stunde Joggen gegangen. Die Bewegung hatte ihm gut getan, doch die innere Unruhe war zurückgekommen. Seine Stellung hing am seidenen Faden. Müller würde alles daransetzen, um ihn loszuwerden. Umso mehr, wenn er sich nicht aus den Ermittlungen heraushielt. Nur genau das konnte er nicht.

Das Gefühl, versagt und Scherers Leben verspielt zu haben, nagte ununterbrochen an ihm. Claudias Versuche, ihm das auszureden, hatten nichts gefruchtet. Sie würde am kommenden Wochenende nach Hause kommen, und er freute sich schon auf sie und vor allem die Kleine.

Die Zeitungen waren voll von dem vermeintlichen Serientäter, der in Trier und Umgebung sein Unwesen trieb. Im Regionalsender hatte er ein Interview mit Müller gesehen, der sich sichtlich unwohl fühlte und die Sackgasse, in der er steckte, mit dem Verweis auf fahndungstaktische Notwendigkeiten kaschierte.

»Sie sind der Polizist, nicht wahr?« Federer war unbemerkt von hinten herangetreten und ließ sich mit einem Seufzer auf den Palettenstapel sinken. Lichthaus nickte und schaute ihn forschend an. Der Mann war mittelgroß, untersetzt und neigte zu einer Glatze. Die Augen waren von unzähligen kleinen Falten umgeben, die zeigten, dass er gerne und oft lachte. Jetzt aber zeigte sich kein Lächeln auf seinem Gesicht, sondern verhaltene Neugier. Er hatte eine Thermoskanne mitgebracht, aus der er sich nun Kaffee in den Becherdeckel goss.

»Haben Sie schon mal mit Idioten zusammengearbeitet?« Schlürfend nahm er einen Schluck.

»Täglich.« Lichthaus grinste, und Federer lachte auf.

»Dann wissen Sie ja, was ich hier durchmache. Termindruck ohne Ende, und die Kerle machen nur Mist. Kleben die Folie nicht richtig ab, und uns läuft der Fließestrich direkt auf die Isolierung. Na, Gott sei dank war keine Fußbodenheizung drunter. Nur Idioten!« Er straffte sich. »Was kann ich für Sie tun, Herr Kommissar? Ragnhild, also Andrea, hat etwas von alten Rittergeschichten erzählt, doch so ganz schlau bin daraus nicht geworden.«

»Es geht um Rittergruppierungen aus den siebziger Jahren. Sie wissen ja, dass am vergangenen Wochenende ein Mann oben in Manderscheid getötet wurde. Unser Analytiker geht davon aus, dass es sich bei dem Mörder um einen Psychopathen handelt, der seit seiner Kindheit in der Szene unterwegs ist. Frau Andries meinte, Sie wären schon lange dabei.«

»Verdächtigen Sie mich?« Federer schaute etwas unsicher drein.

Lichthaus schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, Ihr Profil passt nicht. Sie sind verheiratet und haben Kinder. Ansonsten wären Sie schon auf dem Präsidium. Wir brauchen Namen und Adressen von Personen, die Sie damals kennengelernt haben.«

»Das wird schwer. Mein Alter hat mich damals mit hingeschleppt. Ich komme aus Rapperath, das liegt bei Morbach. Dort oben haben sich Anfang der Siebziger ein paar Kerle zusammengetan und eine der ersten Gruppen gegründet. Eigentlich ein Junggesellenverein. Mein Vater blieb eher am Rande. Er hatte keine Ausrüstung, fuhr aber mit mir zum Zuschauen hin und trank ein Bier. Wir haben den Schwertkämpfen zugesehen und ich war total begeistert, mit vierzehn bin ich selbst eingetreten, andere Kinder gab es aber nicht. Seitdem Ritterspiele und so weiter mehr in Mode sind, nehmen immer mehr Familien teil, doch in den Siebzigern?«, er zuckte mit den Achseln, »nein. Es sei denn …«, er zögerte einen Augenblick. »Da war mal ein Wettkampf mit einer anderen Gruppe. Die waren auch aus der näheren Umgebung, vielleicht sogar aus der Ecke um Trier. Ich war noch nicht dabei, das war also vor 1980. Die hatten wesentlich mehr Mitglieder, und ich erinnere mich an zwei Jungs so um die zehn Jahre alt. Mit dem einen habe ich mich unterhalten, der andere war eher verschlossen.«

»Erinnern Sie sich noch an die Namen?«

Federer lachte auf. »Nach der langen Zeit?« Er trank an seinem Kaffee.

»Wer könnte mehr wissen?«

»Hm, hm, Attila war Chef unserer Gruppe damals. Der wird den Kontakt wohl hergestellt haben. Der ist aber tot. Autounfall vor drei Jahren.«

»Mist!« Lichthaus war enttäuscht.

»Warten Sie mal. Attila war nicht verheiratet, wohnte bei seiner Mutter. Vielleicht hat die noch irgendwelchen Kram.«

»Wie heißt die Frau denn?«

»Ottilie … Sekunde, ja, Borsig aus Hoxel. Der Sohn hieß Holger.«

»Wer könnte sonst …«Er wurde unterbrochen.

»Wolfgang, komm rein, wir brauchen dich.« Ein Mann winkte aus dem Rohbau.

Federer schüttete den Rest Kaffee in den Staub und stand auf.

»Mehr kann ich im Moment nicht sagen. Ich denke aber über alles nach und melde mich bei Ihnen, wenn mir noch etwas einfällt.«

»Danke.« Lichthaus stand auf und reichte ihm die Hand, dann ging er zum Auto. Besser als nichts.

Während des Gesprächs hatte er eine SMS erhalten, in der Steinrausch um Rückruf bat. Er war sofort am Apparat.

»Ich wusste gar nicht, dass Sie, äh, du die Technik beherrschst«, begrüßte Lichthaus ihn lachend.

»Ich habe einen Sohn im Teenie-Alter, da lernt man so was gezwungenermaßen.«

»Was gibt es Neues?«

»Die Zeugenaussagen und die Spurensuche vom Sonntag sind ohne neue Ergebnisse geblieben. Sie haben auch keine Projektile gefunden. Die Autopsie des Mädchens ist da, und wir haben es wie vermutet mit demselben Täter zu tun. Das Zahnschema passt. Vier Morde in drei Wochen. Der läuft Amok.«

»Was sagt Müller?«

»Ich bin ja noch nicht fertig. Spleeth hat Lackspuren an der Gürtelschnalle der Toten sichergestellt. Und alles deutet darauf hin, dass sie unmittelbar vorm Ablegen der Leiche darangekommen sein müssen.«

»Gut. Dann kennen wir jetzt die Farbe?«

»Grün metallic. Nur«, Steinrausch zögerte kurz, »es ist kein Pajero.«

»Verdammt! Konnte er das Fabrikat schon herausfinden?«

»Er arbeitet dran. Müller hängt durch. Er lässt die Rasterfahndung anpassen, ist sonst aber ratlos. Ich hoffe nur, dass wir das Modell finden. Die Presse steht uns auf den Füßen. Laufend Anfragen. Für heute Mittag ist eine weitere Pressekonferenz angesetzt. Die aus dem Ministerium werden auch langsam nervös. Wahrscheinlich kriegen wir noch Leute.«

»Gut, die braucht ihr. Ermittelt ihr weiter in Richtung Mittelalter?«

»Ja, der Vorschlag kam von Sophie. Sie will Aussteller, Schausteller und Darsteller befragen, die auf den Veranstaltungen der letzten Zeit waren. Wir besorgen aktuell die Anmeldelisten. Die werden wegen der Haftpflicht erfasst und verwahrt. Vielleicht hat einer etwas gesehen.«

»Unser Täter wird die Märkte vorerst wohl meiden, aber weitere Zeugen wären nicht schlecht.« Er erzählte auch kurz sein Vorhaben, Ottilie Borsig zu befragen und vereinbarte, sich am Abend mit Sophie Erdmann in Eitelsbach zu treffen.

Nach diesem Gespräch rief er Ottilie Borsig an. Sie war zu Hause, und er könne vorbeikommen, wann immer er wolle. Er brach sofort auf.

*