Ein Mechaniker erklärte ihnen fachmännisch, was sie ohnehin schon wussten. Der Golf war hinüber. Er bot an, den Wagen auszuschlachten und den Erlös der Teile auf ein neues Fahrzeug anzurechnen. Lichthaus nickte nur, ließ sich aber nicht zur Besichtigung anderer Gebrauchtfahrzeuge bewegen. Er wollte nur nach Hause. Nach mehreren Versuchen, ihn umzustimmen, gab der Mann auf und sie konnten endlich losfahren.
Die Sonne hatte es nach dem kurzen Gastspiel am Nachmittag nun wieder vorgezogen, hinter Wolken zu verschwinden, es war unangenehm schwül geworden. Das verbesserte Lichthaus’ Laune nicht. Als er durch seine Haustür trat, fühlte er sich seit langem wieder einmal wie der Wanderer zwischen den Welten, ein Gefühl, das ihn immer dann beschlich, wenn er komplizierte, extrem von Gewalt und Rohheit geprägte Fälle aufklären musste. Seine Arbeit – ein Kosmos, in dem Mord und Totschlag regierten, bevölkert von Kriminellen und Sadisten, dunkel und unerfreulich. Und auf der anderen Seite sein Zuhause, voller Liebe und Geborgenheit. Er hatte diesen Gegensatz in der Vergangenheit schon so deutlich erlebt, dass er glaubte, die Sonne und alle Farben zu Hause intensiver wahrnehmen zu können als im Büro. Der Übergang fand immer an der Schwelle zum Präsidium oder der Haustür statt und beeinflusste sein Denken und Handeln. In der Gruppe der Kollegen war er oft unnachgiebig, geradezu hart. Zu Hause hingegen war er weich und kompromissbereit. Er wich des Öfteren einer manchmal wohl notwendigen Auseinandersetzung mit Claudia aus, um den Frieden, den er so dringend brauchte, nicht zu gefährden.
Auch heute funktionierte der Übergang. Während sie die Einkäufe auspackten und das Abendessen vorbereiteten, einigten sie sich darauf, erst nach Claudias Rückkehr aus dem Urlaub einen neuen Wagen zu suchen. Teuer durfte er nicht sein, denn Hauskauf und Umbau hatte sie finanziell ordentlich belastet. Lichthaus entspannte sich. Ritualisierte Handlungen wie Tischdecken oder Rasenmähen waren dabei sehr hilfreich, wenn er ohne ständiges Nachdenken vor sich hinarbeiten konnte.
Später legte er sich mit Henriette auf den kühlen Steinboden im Wohnzimmer und spielte mit ihr. Obwohl sie mit fünf Wochen noch nicht völlig scharf sehen konnte, reagierte sie stark auf Farben und Bewegung. Er hatte sich Scherers bunte Rassel genommen und wedelte zu ihrem größten Vergnügen vor ihrem Gesicht hin und her. Es war faszinierend zu sehen, wie sehr sie das Spiel aufregte. Beinchen und Arme gingen wild hin und her, und sie grunzte heftig atmend vor sich hin. Als sie genug hatte und anfing zu weinen, nahm er sie auf den Arm und wanderte ins Atelier.
Claudia hatte die Zeit genutzt und ihre Malutensilien für die Reise zusammengesucht: eine klappbare Staffelei, mehrere Rollen Leinwand und einen Kasten mit Farben und Pinseln. Lichthaus setzte sich auf das Sofa und sah zu, wie sie alles in einen Koffer packte, und ließ sich von ihrem Tag erzählen. Möbius hatte ein Bild so gut wie verkauft und Interessenten für zwei weitere an der Hand. Da Claudia bereits einen guten Namen hatte, waren die Preise ganz ordentlich. Außerdem war jeder Verkauf für sie aufs Neue die Bestätigung ihrer Arbeit.
Am kommenden Tag würde sie zu ihren Eltern fahren, um einige Sachen für die Reise abzugeben. Für die Woche am Meer hatte sie sich von Freunden einen kleinen Korb ausgeliehen, in dem Henriette schlafen sollte, da der Stubenwagen zu sperrig zum Mitnehmen war. Für morgen Abend hatten sich Nils und Petra, ein kinderloses Paar, angemeldet, um Henriette erstmals zu sehen. Lichthaus machte ihr wenig Hoffnung, dass er abends pünktlich zu Hause sein würde, wenn ihre Gäste kämen.
Nach einem gemütlichen Abendessen badeten sie gemeinsam ihre Tochter, doch schon als Claudia das Baby anzog, schlief er auf dem kleinen Sofa im Kinderzimmer ein. Erst um zehn Uhr kam er wieder zu sich. Sie hatte ihn zugedeckt und saß nun im Wohnzimmer und schaute fern. Die Müdigkeit hing nach dem kurzen Schlaf wie Blei in seinen Gliedern. Er setzte sich zu ihr und begann lahm ein Gespräch, nickte jedoch immer wieder ein, bis sie ihn lächelnd aufforderte, doch endlich schlafen zu gehen. Dankbar wünschte er ihr eine gute Nacht und legte sich ins Bett. Seine vom Stress verkrampften Muskeln entspannten sich, und die Ruhe durchfloss ihn, wie eine Beruhigungsinfusion. Er schlief traumlos, hörte nicht, als Henriette schrie, merkte nicht, dass Claudia sie am frühen Morgen stillte und wickelte, und hörte auch nicht den Regen, der auf das Dach prasselte. Sein ausgelaugter Körper nahm sich, was er brauchte.
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Er saß in der Küche und rauchte nervös eine Zigarette. Der Raum war funktionell mit einer alten Einbauküche eingerichtet, sonst kahl, ohne Bilder an den Wänden. Nur der Kalender einer Apotheke hing neben der Tür, zeigte noch das Julibild, einen Strand voll mit munter planschenden Badegästen. Das einzig Fröhliche in diesem Raum. Ein Fremder würde das Haus als unpersönlich, ohne Individualität empfinden, aber es kam nie jemand her. Nie. Die Eckbank war ungepolstert und der Holzlack darauf ebenso stumpf wie der auf dem Tisch. Die weißen Wände vergilbten langsam im Zigarettenqualm. Doch das interessierte ihn nicht.
Unwillig drückte er den Stummel aus, stand auf und lief ziellos umher. Dann setzte er sich wieder und griff zur nächsten Zigarette. Die innere Spannung war unerträglich. Er musste los. Gleich heute, wenn nur noch wenige Menschen auf der Straße sein würden. Noch so lange warten! Der Sonntag war erfolglos geblieben, obwohl er es genauestens vorbereitet hatte. Wie hatte er sich den Abend schon ausgemalt. Er hätte dem Weib gezeigt, wer das Sagen hat. Er hätte ihr beigebracht, dass man ihn nicht so von oben herab, fast schon angewidert ansehen dürfe. Und dann dieser Misserfolg! Wie in Panik war er vor dem heranstürmenden Jungen weggerast.
Er schlug auf den Tisch. Jetzt kam das Weib ungeschoren davon, denn er war gesehen worden. Verdammt! Er hatte den Druck kaum ausgehalten, wollte sich wahllos ein Luder von der Straße pflücken, doch das ging so nicht, die kannte er ja dann nicht vom Anschauen. Herausgeschrien hatte er seinen Frust, bis ihm die Stimme versagte. Aber nun war es bald wieder so weit. Er würde das Weib aus Saarburg schnell vergessen haben, wenn sein neues Opfer im Keller einzog. Bald. Er sprang auf, musste runter in den Keller, um zu üben. Das würde ihn ablenken. Bis nachher. Wenig später drang das regelmäßige Klirren herauf, das auch schon Eva Schneider in ihrem Martyrium begleitet hatte.
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Erst um acht Uhr dreißig kam Lichthaus wieder zu sich. Es war angenehm kühl und ruhig im Zimmer. Claudia lag tief schlafend neben ihm und hatte einen Arm um seine Brust geschlungen, die Decke wie so oft über den Kopf gezogen. Er würde heute zu spät ins Büro kommen, doch das interessierte ihn nicht im Geringsten, denn er spürte, dass die Kraft wiedergekehrt war, die er brauchte, um die Ermittlungen voranzutreiben. Der Akku war wieder voll, und er brannte darauf weiterzumachen. Sanft schob er Claudias Arm beiseite und stand auf. Sie hatte den Wecker nicht gestellt, und er wusste, dass sie es mit Absicht gelassen hatte. Schon in Mainz hatte sie die Meinung vertreten, dass er zu wenig verdiente, um sich so kaputt zu machen. Eigentlich hatte sie Recht. Leise ging er hinüber zu Henriettes Bettchen und sah, dass auch sie friedlich schlief. Draußen regnete es leicht, und das Thermometer zeigte nur siebzehn Grad. Erste Vorboten des nahenden Herbstes.
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