Hauptkommissar Rüdiger Hansen stand von seinem Schreibtisch auf, warf achtlos seine Unterlagen in den Postkorb und stellte ihn in den Schrank. Er hatte es eilig, war nur noch auf einen Sprung ins Büro gekommen, um aufzuräumen und die Übergabe der Akten an Becker, seinen Stellvertreter, zu organisieren. Sabine machte währenddessen die letzten Besorgungen, dann würde es losgehen. Urlaub mit Verspätung. Eigentlich hatten sie bereits am Sonntag mit dem Wohnwagen losfahren wollen, doch der Mordfall war dazwischengekommen, bei dem seine Leute in die Befragungen der Anwohner einbezogen worden waren. Er hatte Funk angerufen, um den Fall auf Becker abzuwälzen, doch der hatte nur kurz angebunden ein Nein in den Hörer geschnarrt. Blöder Idiot! Jetzt saßen Chris und Evi schon unten an der Adria und hatten sich den besseren der beiden reservierten Plätze ausgesucht. Sicherlich den mit den Palmen. Das Telefon klingelte, und er überlegte kurz, ob er noch drangehen sollte.

»Hansen!« Seine Stimme hatte einen muffigen Unterton.

»Guten Morgen, Herr Hauptkommissar, hier ist Sebastian Elenz. Ich hoffe, ich störe nicht.«

»Nein, nein.« Er gab seiner Stimme einen neutralen Ton und verdrehte die Augen. »Was gibt es, ich habe nur wenig Zeit.« Noch so ein Idiot! Er fuhr sich mit der Hand über das ausnahmsweise unrasierte Gesicht und stellte sich vor, wie Elenz sich wand, um ja kein falsches Wort zu sagen. Leider. Hansen mochte dieses nassforsche Kerlchen nicht, das ihn vor Funk angemacht hatte, und er ließ keine Gelegenheit aus, um es ihm zu zeigen.

»Ich wollte fragen, ob Sie meinen Bericht bekommen haben.«

»Ja, natürlich. Wieso?« Er angelte sich den Postkorb und wühlte leise darin herum, bis er die braune Rundlaufmappe in Händen hielt. Elenz hatte nur »Hansen« darauf geschrieben. Keinen Dienstrang, nichts. Der Mann war völlig respektlos, und Hansen entschied, dass er hier in Saarburg versauern solle, solange er es durchsetzen konnte. »Wollen Sie mich kontrollieren, oder was?«

»Nein«, Elenz lachte nervös auf. »Ich dachte eben, es wäre interessant, meinen Bericht den Kollegen von der Mordkommission weiterzuleiten.«

Hansen wusste nicht, wovon der Kerl sprach, und hatte auch keine Lust, sich weiter damit herumzuärgern.

»Ich denke drüber nach.« Er legte grußlos auf und zog den Bericht ganz heraus, als das Telefon wieder läutete.

»Ja, was ist noch?«

»Warum maulst du mich denn so an?« Sabine war verärgert. »Ich bin es ja wohl, die einen Grund zum Maulen hätte. Ich sitze hier schon seit zwanzig Minuten im Auto rum. Ich will raus aus dem Regen und rein in die Sonne. Wann kommst du endlich?«

»Jetzt!« Kurz entschlossen steckte er den Bericht in den Umschlag zurück, warf ihn auf den Postkorb und schloss den Schrank. Dann ging es ab in den Urlaub.

*

Das vorläufige Fahndungsprofil würde Lichthaus zu Hause entwerfen, denn hier hatte er mehr Ruhe. Er gab Marie Guillaume telefonisch Bescheid, dass er erst am Nachmittag im Anschluss an den Termin in Luxemburg ins Präsidium kommen würde, um mit Steinrausch zu den Schwertkämpfern zu fahren. Neuigkeiten gebe es keine, sagte sie mit Bedauern in der Stimme und versprach, alle Unterlagen im Fall Schneider zu kopieren und von Falkberg zukommen zu lassen. Er legte auf und machte Frühstück.

Während er in aller Ruhe Tee aufsetzte, Eier kochte und den Tisch deckte, formulierte er in Gedanken die Einzelheiten des Profils. Bis das eigentliche Gutachten von Falkbergs vorlag, wollte er ein neueres Verfahren ausprobieren, das Spezialisten zur Fahndung nach Sexualstraftätern entwickelt hatten. Aus einer Untersuchung von gefassten sexuell motivierten Serientätern hatten sie typische Merkmale zusammengestellt. Er suchte die Indikatoren heraus, die für ihren Fall infrage kamen, und ergänzte sie mit den wenigen ihnen bereits bekannten Tätereigenschaften, die das Team auf der gestrigen Sitzung zusammengetragen hatte. Mit dieser Liste würden sie alle Pajerofahrer abgleichen müssen.

Als er fertig war, sah er, mit welch dürftigen Punkten er eine aufwendige Fahndung in Gang setzen würde, doch ihm blieb keine Wahl.

Er goss den Tee ab und verbrannte sich die Finger, fluchte leise und kühlte die Hand. Die Schwäche seines Vorgehens war ihm klar und beunruhigte ihn, denn er stützte sich nur auf die Beobachtung des Mannes, der einen Pajero mit Hänger gesehen haben wollte. Sollte der sich in Bezug auf das Modell getäuscht haben oder einen völlig Unschuldigen beobachtet haben, liefen sie klassisch ins Leere. Entschlossen schob er diese Gedanken beiseite.

Er saß eben bei der zweiten Tasse Tee und las erstmals seit Tagen die Zeitung, als Claudia in die Küche kam. Sie war völlig verschlafen und würde wie üblich einige Minuten brauchen, um richtig wach zu werden. Er schenkte ihr Tee ein und gab ihr die Zeitung. Die Presse machte wegen des Toten vom Wochenende enormen Wind. Das hatte es in Trier noch nie gegeben. Die Fotos vom Tatort waren zu sehen, und es wurden wilde Spekulationen angestellt, doch zu seiner Erleichterung tauchten keine sensiblen Informationen auf. Er legte die Zeitung beiseite.

Claudia würde ihn am späten Vormittag zu Staatsanwalt Schröder bringen, um anschließend zu ihren Eltern nach Wittlich zu fahren. Nach dem Frühstück tippte er einen kurzen Bericht und mailte ihn Müller, der die Rasterfahndung starten sollte. Es ging weiter.

*

Um halb zwölf saßen Claudia und Lichthaus im Auto und fuhren in die Stadt. Am Irminenfreihof stieg er aus. Der Regen war stärker geworden, und er duckte sich unter einem Sturzbach weg, der sich aus einer defekten Dachrinne auf den Bürgersteig ergoss. In diesem Moment fuhr ein Auto dicht neben ihm durch eine der großen Pfützen. Er wollte lautstark fluchen, aber das Auto stoppte und er sah, dass es Schröder war, der ihm die Tür zum Einsteigen aufhielt.

Als er einstieg, nickte Schröder nur und gab Gas, noch bevor er sich angeschnallt hatte. Er war jünger als Lichthaus, hatte aber schon einige Jahre bei der Staatsanwaltschaft hinter sich. Die blassblonden Haare wichen langsam zurück und gaben Schröder etwas Ober lehrerhaftes. Lichthaus zog es vor, mit Cornelia Otten zusammenzuarbeiten, da sie ihnen weniger reinredete und auch mal ein Auge zudrückte, wenn die Kollegen bei ihren Ermittlungen die Grenzen des Erlaubten überschritten. Schröder war hier wesentlich kleinlicher.

»Da wollen wir mal sehen, was Kohler so alles vorbereitet hat.« Schröder lächelte.

Lichthaus schaute weiter geradeaus. Schröders brennender Ehrgeiz stieß ihn ab. Wenn sie mit Kollegen aus den Nachbarländern zusammenarbeiteten, war es besonders schlimm. Offensichtlich strebte er nach Höherem. Von dem heutigen Termin versprach er sich eine reine Statistenrolle der Marke »Kommissar Lichthaus war auch anwesend« und quälte sich damit, der Show des Staatsanwalts beiwohnen zu müssen.

»Was machen Ihre neuen Fälle? Sie haben ja ordentlich Presse im Moment.«

»Es geht so. Wir kommen langsam voran.«

»Haben Sie schon einen Verdächtigen?«

»Nein. Wir sind ja erst am Anfang, und Frau Otten hat eine Nachrichtensperre verhängt«, log er.

Auf der Autobahn regnete es wieder stärker, und er war froh nicht fahren zu müssen. Schröder plauderte über allerlei Banalitäten, bis sie nach einer Dreiviertelstunde Luxemburg erreichten.

Jean-Marie Kohler erwartete sie bereits am Eingang und führte sie in den Presseraum. Was dann kam, war wie vorhergesehen ein Schaulaufen Schröders, der Kohler nach der Begrüßung brüsk unterbrach und langatmig den Anteil der deutschen Polizei an den Erfolgen und hierbei vor allem seinen persönlichen Beitrag darstellte. Auch die Männer vom LKA und aus Brüssel trumpften auf, einzig Lichthaus blieb stumm und ließ das Spektakel an sich vorbeiziehen. Endlich war die Pressekonferenz vorbei, und er ging erleichtert mit seinem Luxemburger Kollegen in die Kantine.

»Müssen Sie mit dem da«, Kohler nickte mit dem Kopf abschätzig in Schröders Richtung, »auch in anderen Fällen zusammenarbeiten?«

Lichthaus grinste. »Gott sei Dank nur selten.«

Gegenüber ihrem Tisch befand sich ein Schwarzes Brett mit einigen Fahndungsplakaten. Er stutzte. Zwei junge Frauen, das konnte er dem französischen Text entnehmen, wurden vermisst. »Sagen Sie mal, Jean-Marie, haben Sie noch mehr verschwundene Mädchen hier in Luxemburg?«

Kohler kratzte sich am Kopf. »Ja, einige sogar.«

»Wir jagen einen Täter und glauben nicht, dass er an der Grenze haltmacht. Intern befürchten wir, dass es sich um einen Serienmörder handeln könnte, halten uns mit unseren Vermutungen aber noch bedeckt.«

Während des Essens erläuterte er seinem luxemburgischen Kollegen den Fall. Mit wachsendem Interesse hörte Kohler zu und nahm Lichthaus nach dem Essen mit in sein Büro, wo er sofort die Vermisstenfälle aller Frauen zwischen fünfzehn und vierzig anforderte. Die Liste, die eine attraktive Beamtin wenige Minuten später brachte, umfasste vier Namen, die jüngste Frau war neunzehn, die älteste dreißig Jahre alt. Zwei wurden in Luxemburg Stadt, die anderen in Grevenmacher und Wormeldange, nahe der deutschen Grenze, vermisst.

Kohler drehte seinen Kuli zwischen den Fingern und dachte nach. »Ich lasse die Akten ziehen und gebe sie Ihnen einfach mit. Darf ich zwar nicht, ist mir aber auch egal.« Er grinste.

Lichthaus’ Gedanken rasten. Die Fälle könnten das Zeitfenster zwischen den Taten in Wiesbaden und Eva Schneiders Ermordung schließen. Reine Spekulation, doch ein Blick in Kohlers Gesicht zeigte ihm, dass dieser wohl ähnliche Überlegungen anstellte.

»Es würde schon gut passen.« Der Luxemburger zögerte. »Wir sollten jedoch sehr vorsichtig sein«, Kohler wiegte den Kopf hin und her, »sonst machen wir die Pferde scheu – und uns lächerlich.«

»Schon klar. Ich werde Ihre Akten bei mir behalten und niemandem Einsicht gewähren, sie nur inoffiziell bei unseren Ermittlungen einbeziehen. Wenn sich nichts ergibt, bringe ich sie wieder zurück – und das war’s dann.«

»D’accord. So machen wir es. Und in der Zwischenzeit lasse ich mal Vergewaltigungsfälle und Belästigungsanzeigen durch unsere Datenbank laufen.«

Um sechs traf er im Präsidium in Trier ein. Marie Guillaume war schon weg, hatte aber im Postfach einige Nachrichten hinterlegt, die er mit ins Büro nahm. Die erste war von Sophie Erdmann, die zu ihrer neuen Wohnung gefahren war, um die Maler einzuweisen, telefonisch jedoch erreichbar blieb. Sie hatte einen kurzen Bericht beigelegt: Die Suche nach Beschwerden über Belästigungen oder Ausspähen sei bislang ergebnislos verlaufen. Der einzige konkrete Fall habe sich als Niete erwiesen. Zu überlegen sei, ob nun der Umkreis ausgedehnt werden solle. Eine kurze Notiz von Müller ließ ihn wissen, dass die Rasterfahndung angelaufen sei. Von den anderen gab es keine Rückmeldungen, so dass er sie in ihren Büros vermutete. Als er die Papiere weglegen wollte, fiel ein kleiner, weißer Zettel auf den Boden. Marie Guillaume schrieb, dass sie einen Anruf von der Pforte erhalten habe. Ein Stadtstreicher habe nach ihm gefragt, aber nicht auf seine Rückkehr warten wollen. Er würde morgen wiederkommen.

Lichthaus runzelte die Stirn, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Dann rief er Güttler an.

»Hallo Johannes«, begrüßte ihn der im freundlichen Ton. »Den Osteuropäer kannst du dir abschminken.«

»Wieso das denn?«

»Die Herzklappe stammt aus einer Serie, die Anfang der Achtzigerjahre in Österreich hergestellt wurde. Ich habe die Firma angerufen. Die haben damals ausschließlich in den deutschsprachigen Raum geliefert.«

»Gibt es Seriennummern oder so etwas?«

»Ja, ich gebe die Infos an Spleeth weiter, der kann die Klinik herausfinden. Dort kann er die Patienten checken.«

»Nein, der ist da nicht zuständig. Das macht am besten Steinrausch. Schick ihm eine kurze Notiz und die Nummer.«

Lichthaus bedankte sich und legte zufrieden auf. Wenigstens hier gab es Fortschritte, wenn auch kleine. Er ging zu Marx, der in seinem Büro vor einem Berg Akten saß und auf der Computertastatur tippte. Als Lichthaus eintrat, schaute er gleichgültig auf – ohne zu grüßen. Lichthaus tat es ihm gleich.

»Der Tote stammt vielleicht doch aus Deutschland.«

Er berichtete von dem Gespräch mit Güttler. »Steinrausch soll anhand der Nummer die Klinik herausfinden. Sie können dann ja anhand der Seriennummern den Namen des Patienten heraussuchen, und wir werden endlich wissen, wer unser Toter ist.«

Statt sich über die gute Nachricht zu freuen, war Marx sichtlich verärgert, dass nicht er sie erhalten hatte, obwohl er die Untersuchung leitete. Er nickte nur und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

Zurück in seinem Büro meldete sich Lichthaus kurz bei Claudia, die aber wegen des Besuchs der Freunde in Eile war und keine Zeit für ihn hatte. Missmutig blätterte er die Akten aus Luxemburg durch, doch sie enthielten kaum Hinweise, die sie weiterführen würden. Außer der beklemmenden Angst der Angehörigen kam nichts zum Vorschein. Die Frauen waren allesamt spurlos in der Nähe ihrer Wohnungen verschwunden, und von keiner hatte es seitdem ein Lebenszeichen gegeben. Die Routineüberprüfungen hatten nichts erbracht, waren im Sande verlaufen. Es erschien ihm unmöglich, einen Zusammenhang mit dem Mord an Eva Schneider herzustellen. Er warf die Akten auf den Tisch und rief Kohler an, der zusagte, weitere Informationen zusammenzutragen.

Am liebsten wäre er jetzt ein wenig an die Luft gegangen, doch bald würde Steinrausch kommen, um mit ihm zu den Schwertkämpfern nach Klüsserath zu fahren. Er spielte einen Augenblick mit dem Gedanken, die Befragung abzusagen, doch er riss sich zusammen. Nein, das würde er noch durchstehen.

*