Auf dem Weg zu Schneiders riss Sophie Erdmann Lichthaus aus seinen Gedanken. »Haben Sie das schon oft gemacht?«
»Was?«
»Den Angehörigen die Todesnachricht gebracht?«
»Ja, aber nicht so wie heute, da ich die Familie auch privat ein wenig kenne. Das fällt schwer.«
Sophie Erdmann fuhr fort. »Ich war erst einmal bei einem Junkie dabei und da war klar, dass die Verwandten froh waren. Sie zeigten das ganz offen. Wenn nichts mehr hilft, dann ist der Tod das Beste, sagte der Vater.«
Lichthaus schüttelte den Kopf. »Marianne Schneider wird zerbrechen, und keiner kann ihr helfen. Sie muss ja auch weiter für ihren Mann da sein. Wie der das wohl aufnehmen wird?«
Sie gingen zu Fuß, denn das Haus der Schneiders lag keine fünf Minuten entfernt. Die Rollläden waren heruntergelassen, um die Sonne abzuhalten, das wirkte aber, als wollten sich die Bewohner verschanzen.
Vor der Haustür zögerte Lichthaus einen Augenblick und drückte dann seufzend die Klingel. Sie lauschten dem Läuten, das weiter entfernt im Haus erklang. Einen Moment tat sich nichts. Sie sind nicht da, schoss es ihm erleichtert durch den Kopf, doch Sekunden später sah er Marianne Schneider auf sich zukommen, ihre Silhouette von den Buntglasfenstern der Eingangstür verzerrt. Sie öffnete zögernd die Tür und schaute ihm direkt ins Gesicht. Ihre Augen flackerten, und er sah, wie die Erkenntnis in ihr einschlug, wie eine tiefe Resignation den letzten Rest der Hoffnung verdrängte.
»Ihr habt sie gefunden.« Sie fragte nicht, sie stellte fest. Leise und hohl war ihre Stimme. »Sie ist tot, nicht wahr?«
Lichthaus konnte nicht sprechen, und es entstand eine traurige Pause.
»Ja, es tut uns sehr leid, sie ist tot.« Sophie Erdmann durchbrach die Stille. Er war ihr dankbar dafür. »Dürfen wir reinkommen?«
Marianne Schneider trat von der Tür zurück und führte sie mit ausdruckslosem Gesicht in das große Wohnzimmer, wo alle unschlüssig stehen blieben.
Lichthaus räusperte sich. »Wir haben sie heute Morgen im Wald bei Farschweiler gefunden. Es ist Eva, es besteht wohl kein Zweifel.« Er schaute sie an und war sich nicht sicher, ob seine Worte angekommen waren. Schnell wechselte er einen Blick mit Sophie Erdmann.
»Wollen Sie sich nicht setzen, Frau Schneider?« Sie fasste Marianne Schneider, die reglos wie eine Statue dastand und in eine Ecke starrte, an den Schultern und drückte sie sanft in einen Sessel. »Sollen wir Ihnen einen Arzt rufen?«
Unvermittelt verlor Marianne Schneider die Beherrschung. »Wozu brauche ich einen Arzt? Ich brauche keinen von diesen Quacksalbern. Ich brauche auch keinen Pfaffen, ich brauche niemanden.« Sie sprang wutentbrannt auf und fing an zu schluchzen. Ihre Stimme bekam einen gequälten, klagenden Ton. »Erst ist mein Mann unrettbar krank. Dieser Verfall! Das hat mich alle Kraft gekostet. Und jetzt Eva. Mein Kind.« Ihr versagte die Stimme, und sie weinte hemmungslos. Als sie schließlich wieder ansetzte, klang sie dumpf.
»Der Pastor war gestern hier. Die Wege des Herrn sind unergründlich. Prüfung und Läuterung.« Sie schrie. »Alles Scheiße! Gottverdammte Scheiße. Was habe ich getan, dass der ach so gute Gott mich so bestraft. Was, Herr Lichthaus?«
»Nichts. Manches passiert einfach so, ohne Plan. Ich kann Sie gut verstehen.«
Sie warf den Kopf zurück und lachte verzweifelt brüllend heraus. »Sie können gar nichts verstehen. Nichts, überhaupt nichts.« Sie schaute ihn erbost an.
Lichthaus’ Magen krampfte sich zusammen, und er musste sich beherrschen, um nicht zurückzuweichen. Bei Marianne Schneider schienen alle Dämme gebrochen zu sein. Es brach schier aus ihr heraus: Die Verzweiflung über die Krankheit ihres Mannes, die Angst um ihre einzige Tochter, der Schmerz über ihren Verlust.
Sie flüsterte fast, als sie weitersprach und die Tränen über ihr Gesicht liefen. »Sie gehen doch gleich hier raus und denken gerade noch: Die arme Frau. Und dann zu Hause warten Ihre Familie, Freunde zum Essen oder sonst was. Ein schöner Sommerabend. Ich war früher wie Sie. Alles war in Ordnung. Keine Geldprobleme, keine Probleme mit Eva oder in der Ehe; alles toll. Aber wir laufen auf einem schmalen Grat. Ein Arztbesuch, ein Zucken am Lenkrad oder irgendein perverses Schwein, und schon rutschen Sie ab und fallen.«
Sie wandte sich ab und blickte ziellos umher. Durch die Rollläden fiel schräg das Sonnenlicht rein. Lichthaus hörte den Verkehr unnatürlich laut vorbeirauschen. Das Gefühl, da draußen ist das Leben und hier drinnen der Tod, überkam ihn, und er wollte weg, da jetzt ohnehin kein Gespräch mehr möglich sein würde. Er wechselte einen flüchtigen Blick mit Sophie Erdmann.
»Frau Schneider, wir müssen noch mal …«
»Sie ist tot, das sagten Sie doch. Was wollen Sie also noch von mir?« Sie wirkte resigniert. »Gehen Sie jetzt. Ich muss zu meinem Mann.«
»Ich rufe Sie an.« Wortlos verließen sie den Raum.
Als sie in den Flur kamen, schaute Lichthaus durch einen Türspalt in den Nebenraum und sah dort Heinrich Schneider. Er saß in seinem Rollstuhl und hatte alles mit angehört. Nach vorne gelehnt, den Mund halb offen wie in einem stummen Schrei, liefen ihm die Tränen über die fahle Haut. Auch Marianne Schneider nahm ihren Mann wahr und drängte die Polizisten zum Ausgang. Grußlos fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss, die Sonne schlug ihnen ins Gesicht.
Er seufzte. »Wir können ihr nur helfen, wenn wir den Täter fassen. Also los!«
Sophie Erdmann nickte entschlossen.
*
Lichthaus fand Güttler im Obduktionssaal. Der Raum lag im Souterrain des Brüderkrankenhauses und war so weit herunterklimatisiert, dass er sofort seine Jacke anzog. Durch die Milchglasfenster drang schummriges Licht herein. Hier unten war ein Sektionsraum eingerichtet worden, den Güttler bei Bedarf nutzte. Eigentlich nur ein Provisorium, doch immer noch besser, als die Toten jeweils nach Homburg in die Rechtsmedizin fahren zu müssen. Güttler stand am Waschbecken und wusch sich nach getaner Arbeit die Hände. Die Obduktion war abgeschlossen, Eva Schneiders Leichnam war bereits mit einem Tuch abgedeckt. Langsam trat Lichthaus an den Tisch und zog es zurück. Der Anblick traf ihn wieder einmal wie eine Keule. Von der strahlenden Attraktivität des Mädchens war nichts übrig geblieben. Güttler hatte den typischen Y-Schnitt angebracht, um die Obduktion der Organe vornehmen zu können. Zum Schluss hatte er den Körper wieder zugenäht – sehr akkurat mit extrem kleinen Stichen. Auch einem Leichnam gebühre Respekt, hatte er einmal gesagt, und sei es nur in Form einer ordentlichen Naht.
Im krassen Gegensatz zu Güttlers pietätvollem Umgang mit Evas Leiche stand die offensichtliche Schändung ihres Körpers zu Lebzeiten. Eine Topographie des Leidens. Hämatome überall, Abschürfungen an den Handgelenken, die gebrochene Hand und unzählige Brandblasen waren zu sehen. Außerdem oberflächliche Schnitte, die wie kryptische Muster vom Bauch bis zur Scham verliefen. Die Haare waren verfilzt und das Gesicht verschwollen. An den Brüsten gab es rot unterlaufene Stellen, wie von Quetschungen, und einige Bisswunden. Zeugnisse von Schmerzen, die er nicht ermessen konnte. Sein Blick blieb an den dunklen Rändern am Hals der Toten hängen. Er schaute Güttler fragend an.
»Was ist hiermit?«
»Erwürgt. Ist auch die Todesursache. Der Täter scheint sich damit auszukennen. Er hat sie von hinten stranguliert und dabei den Kehlkopf eingedrückt. Den Würgemalen zufolge hat er mehrmals neu angesetzt. Dann geschieht es langsamer, um die Qual zu erhöhen.«
»Dieses Schwein! – Fass mal bitte zusammen.«
»Es gibt interessante Neuigkeiten. Komm, wir gehen in mein Büro, da liegt auch der Bericht.«
Das machte Lichthaus neugierig. Güttler war kein Typ, der zur Euphorie neigte. Er schien also etwas Aufschlussreiches gefunden zu haben.
Das kleine Büro des Rechtsmediziners lag unmittelbar neben dem Obduktionssaal und war mit Schreibtisch und Schrank eigentlich bereits vollgestellt: Aber auf dem begrenzten Raum zwischen Wand und Tür hatte er noch Platz für einen riesigen Kühlschrank und eine Kaffeemaschine gefunden.
Lichthaus nahm auf einem Hocker Platz und trank langsam den angebotenen Kaffee, während der Drucker den Bericht ausspuckte.
»Also, die Neuigkeit. Wir haben Sperma gefunden.«
Lichthaus ballte die Faust. »Ja!« Sie hatten eine Spur.
»Er hat sie brutal vergewaltigt. Vaginal, anal und auch oral. Hierbei hat er offensichtlich keine Vorsicht walten lassen, denn es war kein Problem, Spermien zu isolieren. Die DNA-Analyse läuft schon.« Er lächelte zufrieden und schwieg.
»Konntet ihr noch was feststellen?«
Güttler stellte seinen Kaffee ab und griff nach dem Bericht. »Gut, die Vergewaltigungen scheinen wie gesagt brutal abgelaufen zu sein. Die Scheide wurde massiv verletzt. Wir konnten am Körper vierundsechzig Hämatome zählen. Über diese typischen Verletzungen hinaus wurde sie mehrfach schwer geschlagen, aber das hast du ja gesehen. Außerdem wurde sie mit Fremdgegenständen penetriert.« Er schaute angewidert zu Lichthaus auf. »Dieses Monster!«
Dann rührte er nachdenklich in seiner Tasse. »Schwarz wie der Tod. Entschuldige.«
»Du sagtest, sie ist in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch gestorben. Er hat sie also etwa drei Tage gefangen gehalten. Was noch?«
»Die letzten Verwundungen, die ihr lebend beigefügt wurden, stammen von«, er zögerte kurz, »reiner Folter. Ja, eigentlich muss man von Folter sprechen. Ihr wurden systematisch Schmerzen zugefügt. Vor allem durch die Brandverletzungen.« Lichthaus merkte Güttler an, dass es in ihm gärte. »Der Magen war so gut wie leer, wir haben nur kleine Reste von Brot und Nudeln gefunden. Das Mädchen war total dehydriert. Außerdem ist sie post mortem noch schwer gefallen. Sie hat eine Druckstelle auf der Stirn, die nicht mehr eingeblutet hat. Der abgebrochene Schneidezahn stammt wohl auch von dem Sturz. Wenn ich mir die Spuren an Handgelenken und Fesseln ansehe und ihren Rücken betrachte, war sie wahrscheinlich die meiste Zeit liegend gefesselt. Ich denke mit einer Nylonschnur, denn wir haben keine Faserreste finden können. Nur grünen Kunststoff.« Er blätterte um, las aber nicht weiter vor. »Das war wohl das Wichtigste. Ach ja, er hat ihr die Augen abgeklebt. Die Details liefern wir euch noch.« Güttler schaute Lichthaus abwartend an.
»Was denkst du, Stefan?«
»Ich bin kein Kriminalpsychologe, doch ich glaube, der Kerl hat viel Spaß daran gehabt. Und er weiß offensichtlich genau, dass er das alles unmöglich durchziehen kann, ohne DNA-Material zu hinterlassen. Deswegen hat er sich gar nicht erst die Mühe gemacht, die Spuren zu verwischen.«
»Oder er meinte sicher zu sein, dass wir die Tote nicht finden würden.«
»Habt ihr aber. Du musst dieses Schwein fassen, unbedingt.«
»Das ist mein Job. Mach mir bitte ein Bild des Zahnabdrucks und lege ihn dem Bericht bei.« Güttler nickte und schaute auf die Uhr. Es war kurz vor halb sieben.
»Gehst du noch ins Präsidium?«
»Nein, direkt zur Galerie. Es ist schon spät.«
Güttler grinste. »Dann kann ich ja gleich mitkommen. Was ist mit dem Fall, Herr Kommissar?«
»Der kann mich mal. Bis um neun. Da treffen wir uns im Präsidium für eine lange Nacht.«
*