Die Akten von Viktor Rosner bestärkten Lichthaus in seinem Verdacht. Scherer hatte zwar die wichtigsten Fakten ordentlich zusammengefasst, doch zusätzlich lernte er anhand Rosners Vernehmungsprotokollen einiges über dessen Charakter. Er war ein gut aussehender Mann und wirkte freundlich und harmlos, so dass Frauen sich leicht von ihm ansprechen ließen. Hinter der Fassade sah es anders aus: Rosner hatte offensichtlich keinerlei Unrechtsbewusstsein und auch nicht ansatzweise Mitleid mit seinen Opfern. Aus den protokollierten Aussagen ging hervor, dass er der Meinung war, die Frauen seien selbst schuld an den Geschehnissen. Er habe ja nur das getan, was sie ohnehin gewollt hätten.
Die Fotos und Einlassungen der Opfer sprachen eine andere Sprache. Einer Frau waren von den Schlägen nicht nur beide Augen zugeschwollen, auch ihr Körper wies unzählige Verletzungen auf. Lichthaus war vom Ausmaß der Brutalität angewidert. Hinzu kamen noch die seelischen Wunden. Im Prozess sagte eine junge Frau aus, sie habe ihre jüngst begonnene Ausbildung abgebrochen und befinde sich nach einem Selbstmordversuch in psychologischer Behandlung. Rosners Vorgehensweise und auch die Verletzungen, die auf den Fotos zu sehen waren, wiesen Parallelen zu Eva Schneiders Leiden auf. Das Urteil war damals relativ milde ausgefallen, da Rosners Persönlichkeit laut Gutachter gestört war. Zurzeit lief noch seine Bewährung. Lichthaus war gespannt auf die Befragung.
Dann versuchte er zum wiederholten Mal, Stefanie Ludwig, die vor ihrer Heirat Cordes geheißen hatte, in Bingen anzurufen und hatte endlich Glück.
»Ludwig?« Ihre Stimme war ruhig und unbefangen, keinesfalls unsicher.
»Guten Tag, mein Name ist Johannes Lichthaus. Ich bin Kriminalbeamter der Polizei in Trier.« Sie unterbrach ihn.
»Was wollen Sie von mir?« Sie klang nun abweisend, aber auch ängstlich. Lichthaus beschloss, sehr behutsam vorzugehen.
»Nun, es geht um das Verbrechen, dem Sie zum Opfer gefallen sind.«
»Habt ihr das Schwein?« Sie flüsterte. Lichthaus konnte vor seinem geistigen Auge sehen, wie sie den Hörer umklammerte, ins Telefon hineinkroch, konnte spüren, wie Hoffnung und zugleich auch Panik in ihr hochkamen.
»Nein. Wir …« Sie unterbrach ihn grob.
»Ich habe euch das Ganze doch schon hundertmal erzählt. Lasst mich endlich damit in Ruhe. Ich will nicht mehr!«
Lichthaus zögerte. Aus den Akten wusste er, dass sie verheiratet war und ein Kind hatte. Allem Anschein nach wollte sie nur ein normales Leben führen und vergessen. Er war sich nicht sicher, ob er ihr eine weitere Befragung zumuten konnte, denn ihre Reaktion zeigte, dass Tat und Täter immer noch wie ein Schatten auf ihr lagen und sie stark belasteten. Sein Anruf riss ruhende Wunden wieder auf und warf sie zurück. Er brauchte aber die direkte Aussage der einzigen Person, die Angaben über den Täter machen konnte.
»Er hat ein Mädchen ermordet.« Die brutale Wahrheit zeigte Wirkung.
»Wie bitte?« Sie realisierte, was er gesagt hatte. »Wann?«
»Vergangene Woche, hier in Trier.« Er hatte die Wand der Ablehnung durchstoßen und sprach nun schnell weiter. »Ich brauche Ihre Aussage. Persönlich. Wir haben neue Erkenntnisse und würden sie gerne mit Ihnen besprechen.« Er machte eine kurze Pause. »Ich will das Schwein schnappen, um noch mehr Unheil zu verhindern.«
Sie sprach wie aus weiter Ferne zu ihm. Unsichtbare Tränen quollen durch den Hörer. »Kommen Sie morgen um acht Uhr dreißig. Um zehn Uhr muss ich weg. Mit dem Kleinen zur Krabbelgruppe.«
»Danke, Frau Ludwig. Ich werde eine Kollegin mitbringen.« Ohne ein weiteres Wort legte sie auf.
Lichthaus schaute mitfühlend auf den Hörer. Stefanie Ludwig würde eine schlechte Nacht verbringen.
Seufzend rief er Sophie Erdmann an und informierte sie über den Termin. Dann widmete er sich dem nächsten Fall, den Akten der vermissten Mädchen. Beide spurlos verschwunden. Die Kollegen hatten sich größte Mühe gegeben. Hundestaffeln hatten die gesamte Umgebung durchsucht, doch hatten sie weder Hinweise auf den Verbleib noch Zeugen für eine eventuelle Tat finden können. Die Aussagen der Eltern, die auf Tonband mitgeschnitten und später niedergeschrieben worden waren, spiegelten die ganze Verwirrung ihrer Gefühle wider. Hoffnung und Resignation, Panik und Trauer, doch vor allem eine dauernde, nagende Ungewissheit.
Er verließ sein Büro. Auf dem Gang kam ihm Marx entgegen.
»Wir treffen uns in zwanzig Minuten: Ich würde mir gerne mit Ihnen zusammen diesen Viktor Rosner vornehmen, die Akte bringe ich Ihnen vorher rüber.«
Marx nickte und ging weiter. Steinrausch telefonierte gerade, als Lichthaus eintrat. Er wollte nicht stören, also schaute er im nächsten Büro vorbei. Scherer telefonierte ebenfalls. Wie er dem Gespräch entnahm, wies er den Kollegen aus Hermeskeil ein und koordinierte die Befragung der Anwohner. Sophie Erdmann war nicht da, befand sich wohl schon auf dem Weg zur Bereitschaft. Er setzte sich und wartete, bis Scherer das Telefonat endlich beendete.
»Der wollte aber alles ganz genau haben, was?« Er grinste. »Wie sieht es mit den Beschwerden aus?«
»Schlimm, wir haben schon einen Berg von weit über hundert, die erfasst sind. Was sonst noch unerfasst auf den Wachen liegt, kann niemand genau sagen. Die Sichtung dauert sicherlich mehrere Tage.«
»Das übergeben wir morgen an die Soko. Ich werde gleich Rosner vernehmen und hätte dich gerne hinter dem Spiegel.«
*
Das Vernehmungszimmer sah aus wie viele andere: Keine Fenster, dafür eine verspiegelte Scheibe zum Nachbarraum. In der Mitte stand ein einfacher Tisch mit vier Stühlen, auf dem ein Mikrofon befestigt war. Sonst war der Raum kahl und in freudlosem Grau gestrichen. Marx und Lichthaus saßen nebeneinander, als Viktor Rosner hereingeführt wurde und unwillig stehen blieb. Er funkelte die Beamten wütend an.
»Setzen Sie sich, bitte«, begann Marx in neutralem Ton, doch Rosner polterte unvermittelt los.
»Was soll das Ganze hier? Was wollt ihr von mir? Taucht da oben auf und nehmt mich grundlos fest.« Lichthaus wartete den Ausbruch genervt ab und beobachtete die kleinen Spucketröpfchen, die glitzernd auf den Tisch fielen.
»Nehmen Sie Platz, wir haben ein paar Fragen.« Marx’ Stimme blieb ruhig.
»Ich denke ja gar nicht daran. Ich will meinen Anwalt. Sie haben nicht das Recht …«
»Belehren Sie uns nicht über unsere Rechte.« Lichthaus hob die Stimme. »Wo waren Sie in der Nacht vom sechzehnten zum siebzehnten August?«
»Nicht in Trier.« Rosner setzte sich langsam.
»Wo haben Sie sich aufgehalten?«
»Spielt das eine Rolle?«
»Ja, sonst würde ich nicht danach fragen. Also?«
»Im Rheinland bei Bekannten.«
»Geht das auch etwas genauer?«
»Ich war in Düsseldorf auf einer Party.«
»Aha. Und wo fand diese Party statt?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen.« Rosner sah ihn feindselig an.
»Sie waren also auf einer Party in Düsseldorf und können mir nicht sagen, wo und mit wem Sie da einen gemütlichen Abend verbracht haben?« Lichthaus wurde zynisch.
»Ich habe das Mädchen nicht umgebracht«, gab ihm Rosner mit gepresster Stimme zur Antwort. »Und der Rest kann Ihnen egal sein. Sie verdächtigen mich doch nur, weil Sie keinen anderen finden können. Lassen Sie mich einfach in Ruhe.«
»Der Täter ist ähnlich vorgegangen wie Sie seinerzeit. Sie sind momentan höchst verdächtig. Eine imaginäre Party mit irgendwelchen Leuten in Düsseldorf reicht da als Alibi nicht aus.« Marx hatte übernommen. Sein ruhiger Ton nahm der Befragung die Aggressivität.
»Ohne meinen Anwalt sage ich nichts mehr.«
Marx ignorierte den Einwand. »Noch einmal. Wo war diese Party?«
Rosner schwieg und Marx wiederholte seine Frage, doch auch diesmal bekam er keine Antwort.
Lichthaus stand auf und verließ den Raum. Im Beobachtungsraum traf er auf die Kollegen.
»Liegt seine DNA vor?«
Scherer schüttelte den Kopf. »Nein. Ein Speicheltest wurde damals nicht angeordnet.«
»Gut, dann können wir ihn noch festhalten. Ich will wissen, warum er uns nicht sagt, wo er war.«
Marx hatte inzwischen die Befragungstaktik geändert und drohte mit Aufhebung der Bewährung. Endlich antwortete Rosner.
»Die Party fand in einem Privatclub mit ein paar netten Frauen statt. Die anderen Gäste kannte ich nicht. Es war dunkel, als wir hin sind. Ich kann Ihnen nicht sagen, wo genau das war.«
Plötzlich merkte Sophie Erdmann auf. »Das bringt mich auf eine Idee. Die Kollegen in Düsseldorf suchen nach inoffiziellen Clubs, in denen vermutlich mit ukrainischen Zwangsprostituierten gearbeitet wird. Die Kunden können sich anonym im Internet anmelden.«
»Das ist vielleicht ein Ansatzpunkt.«
Steinrausch kam rein und winkte ab. »Er kann es nicht gewesen sein. Als die Vergewaltigung in Wiesbaden stattfand, saß Rosner schon zwei Monate in U-Haft.«
Lichthaus wandte sich an Scherer. »Verdammt noch mal. Ich dachte, du hättest das recherchiert?« Scherer lief rot an und schaute sich entschuldigend um. Enttäuschung machte sich breit.
»Wir brechen ab!«, beschloss Müller und wollte gerade aus dem Raum gehen, als Lichthaus ihn zurückhielt.
»Nein! Der da drin ist einer, vor dem wir alle unsere Töchter warnen. Wenn er uns nicht sagt, wo er war, dann nur weil er Dreck am Stecken hat. Einmal werde ich ihn noch unter Druck setzen.«
Er schaute sauer zu Scherer hinüber. »Die zeitliche Überschneidung kann uns ja erst morgen auffallen.«
»Machen Sie, was Sie wollen, aber halten Sie mich da raus.« Damit verließ er den Raum.
Im Vernehmungsraum war es still. Stumm blickte Rosner Lichthaus entgegen, der sich wieder neben Marx setzte, und blickte die beiden finster an. Lichthaus erwiderte den Blick.
»Wo in Düsseldorf ist der Club?«
»Das habe ich bereits gesagt. Keine Ahnung. Es war dunkel, und ich kenne mich da nicht aus. Darf ich rauchen?« Er griff in seine Tasche.
»Nein. Das Ganze hier stinkt mir schon genug. Was war das für eine Party?«
Rosner tat ahnungslos. »Es wurde getrunken, gelacht, getanzt. Ganz normal also. Was wollen Sie von mir?«
»Ich stelle hier die Fragen. Warum benennen Sie keine Zeugen oder den Namen des Clubs?«
»Die wären mir ziemlich böse, wenn ich sie mit der Polizei in Kontakt brächte.«
»Warum? Sind das Zuhälter oder was?«
Die Frage verfehlte ihre Wirkung nicht. Rosners kalte Augen begannen unmerklich zu flackern. Doch er fing sich sofort.
»Wie kommen Sie denn auf so was?«
»Schon vergessen? Ich stelle die Fragen. Also?«
»Ich weiß nicht, was die Jungs machen. Wir haben uns an dem Abend erst kennengelernt.«
»Ganz durch Zufall.« Lichthaus lächelte süffisant. »Also Zuhälter.«
»Ich sagte Ihnen doch …«
»Sie machen uns hier was vor, Rosner. Sie sind noch auf Bewährung, da gehen Sie schneller in den Bau zurück, als Sie furzen können. Wissen Sie, was ich denke? Sie haben das Mädchen ermordet und werfen jetzt Nebelkerzen, um von sich abzulenken. Ich war gerade bei der Staatsanwaltschaft und habe die Aufhebung Ihrer Strafaussetzung beantragt.«
Rosner fuhr hoch. »Aber ich habe das Weib nicht umgebracht.«
»Na, wo waren Sie in Düsseldorf? Ich sage Ihnen nur eines: Wenn Sie hier nicht aussagen, buchten wir Sie ein.« Er merkte, dass die Stille, die nun einsetzte, nicht leer war. Jetzt musste er nur noch warten, bis Rosner …
»Es war ein illegaler Sexclub. Liveact und so weiter.« Rosner starrte wütend vor sich auf die Tischplatte.
»Das reicht nicht, um Sie zu entlasten.«
»Mann! Das ist wie die Mafia. Wenn ich rede, wird es gefährlich.«
»Sie können es sich ja aussuchen. Aussage oder Bau.«
Rosner schwieg. Sie warteten noch einen Augenblick, dann entschied Lichthaus.
»Sie bleiben über Nacht hier. Wir haben DNA-Spuren des Täters gefunden. Es steht Ihnen frei, morgen einen Test durchzuführen zu lassen, um sich zu entlasten. Herr Marx, bitte veranlassen Sie die Unterbringung in die Untersuchungshaft.«
Er stand auf und ging in den angrenzenden Raum, auf die andere Seite des Spiegels. Dort traf er wieder auf Scherer. »Schalt morgen die Sitte ein, die können hier weitermachen.«
Scherer nickte erleichtert. Es war mittlerweile neun Uhr und draußen bereits dunkel. Die Abende werden schon wieder kürzer, fiel Lichthaus auf. Sophie Erdmann sah erschöpft aus.
»Ich brauche die Unterlagen aus Wiesbaden, besonders die Akte Cordes bzw. Ludwig. Hat sich sonst etwas ergeben?« Müde schüttelten die beiden den Kopf.
Ohne das Licht einzuschalten, stellte er sich wie so oft ans Fenster seines Büros und dachte nach. Sie waren dem Täter im Laufe des Tages ein gutes Stück näher gekommen, hatten aber keinen Durchbruch erzielt. Die Spuren waren eindeutig und würden den Mörder überführen, doch bislang wiesen sie ihnen noch nicht die Richtung. Was jetzt kam, war Knochenarbeit. Es waren alle ähnlich gelagerten Fälle, Morde und Vergewaltigungen sowie die Täter im Bundesgebiet zu überprüfen. Er würde sich um einen guten Fallanalytiker kümmern müssen. Seine Gedanken schweiften ab, und er dachte an Claudias Urlaubspläne. Eine ganze Woche ohne die beiden. Die Vorstellung von einem leeren Haus tat ihm weh. Lichthaus seufzte. Andererseits musste er sich eingestehen, dass ihm in der kommenden Woche nicht viel Zeit für die beiden bleiben würde.
Es klopfte, Sophie Erdmann brachte die Akten aus Wiesbaden. Er packte den kleinen Stapel in seine Tasche, dann fuhr er nach Hause.
*