Er kam zu sich, als Claudia ihn grob schüttelte. »Johannes, du musst aufstehen, es ist schon gleich sieben.«
Lichthaus grunzte nach bleischwerem Schlaf und brachte nur ein Nicken zustande. Es dauerte lange, bis er sich aus dem Bett quälte und ins Bad taumelte. Diesmal weckte ihn selbst die Dusche kaum auf. Er beeilte sich, so gut es ging, und saß eine Viertelstunde später schlecht rasiert im Auto und ließ sich von Sophie Erdmann in Richtung Bingen kutschieren.
Das Wetter hatte sich verschlechtert. Dunkle Wolken hingen am Himmel und kündigten einen regnerischen Tag an. Es hatte sich stark abgekühlt, und Lichthaus genoss nach der Hitze der vergangenen Wochen die Frische. Claudia hatte ihm belegte Brötchen eingepackt und Kaffee in eine Thermoskanne gefüllt. Während er aß, berichtete er von den Ereignissen der Nacht. Sie stellte viele Fragen, und er hatte den Eindruck, dass sie gern vor Ort gewesen wäre, seine Entscheidung, nicht alle Kollegen einzubeziehen, aber akzeptierte. Kurz darauf schlief er ein. Normalerweise genoss er die Fahrt nach Mainz, obwohl die Strecke über Landstraßen führte. Diesen Nachteil glich die Natur aus. Der Hunsrück zeigte sich von seiner schönsten Seite. Zwischen Thalfang, direkt am Erbeskopf, und Morbach durchfuhr man tiefe, reich bewaldete Täler im Wechsel mit Höhenzügen, von denen man eine herrliche Aussicht über das Moseltal hinweg bis weit in die Eifel hinein hatte. Lichthaus kannte die Gegend zu jeder Jahreszeit, da sie einige Monate hier oben gegen einen Rauschgiftring im Rockermilieu ermittelt hatten. Einmal, frühmorgens bei strengem Frost, war die Sonne über der verschneiten Landschaft aufgegangen und leuchtete die erstarrte Natur aus. Er hielt mit seinem Auto einfach an und genoss diesen Anblick. Die Luft war klar und eiskalt. Bis zum schwarzen Mann in der Eifel hatte er schauen können.
Die Fahrt dauerte gut eine Stunde, und er wachte erst auf, als Sophie Erdmann auf der Autobahn hinter Rheinböllen heftig bremste.
»Idiot!« Sie schaute ihn aus den Augenwinkeln an. »Wenn ich nicht gebremst hätte, wäre der uns voll in die Seite gerauscht.«
Sie gab Vollgas, überschritt damit die Geschwindigkeitsbegrenzung, die auf diesem Autobahnabschnitt galt, und raste an dem wieder nach rechts ziehenden Wagen vorbei. Der Fahrer, ein Mann von gut jenseits der siebzig, schaute Lichthaus, der völlig benommen aus dem Fenster sah, im Vorbeifahren freundlich an.
»Der hat das nicht einmal bemerkt.« Er schüttelte den Kopf und döste noch einige Minuten vor sich hin, dann konzentrierte er sich auf das bevorstehende Gespräch.
»Bei Stefanie Ludwig geht es mir heute weniger um die groben Fakten, die haben wir ja schon alle, sondern um Eigenheiten des Täters. Ich will einen Fallanalytiker dransetzen und brauche detaillierte Informationen zur Verhaltensweise des Mannes. In der Akte steht zum Beispiel, dass er die Frauen gedemütigt hat. Aber wie?«
Sophie Erdmann nickte. »Und Sie glauben, dass Stefanie Ludwig mir als Frau mehr erzählen wird als Ihnen?« Sie blies die Backen auf und dachte nach.
»Wir sollten sehr behutsam vorgehen und ihr Zeit lassen. Bei unserem Telefonat wirkte sie sofort angespannt. Ich will nicht, dass sie gleich dicht macht.«
Sie fuhren weiter nach Bingen und bogen im Dreieck Nahetal ab. Die Familie Ludwig wohnte bei Gaulsheim in einer Neubausiedlung. Sie brauchten einige Zeit, um sich zurechtzufinden, denn das Navigationssystem des BMW konnte die Adresse nicht lokalisieren. Das Haus, eigentlich eine Doppelhaushälfte, stand, wie in Neubaugebieten üblich, auf einem kleinen Grundstück an einer noch unbefestigten Straße. Abgesehen von dem noch nicht vollständig angelegten Garten, zeigten sich von außen liebevoll arrangierte Details. Die Handschrift einer Frau. Blumen auf den Fensterbänken und lichte Gardinen. Unter dem Windfang vor der Eingangstür wartete ein Kinderwagen auf seinen Einsatz, daneben lag Spielzeug.
»Eine Trutzburg«, raunte Sophie Erdmann, als sie auf das Haus zugingen. Nun fiel auch Lichthaus auf, dass alle Fenster mit speziellen Schlössern gesichert waren und auch die Haustür mit schweren Beschlägen versehen war. Die Angst lässt sie nie mehr los, schoss es ihm durch den Kopf, als die Tür aufging und eine junge Frau, offensichtlich Stefanie Ludwig, ihnen mit skeptischem Blick entgegensah. Er erkannte sie von den Fotos wieder, obwohl ihr Gesicht damals noch die Zeichen der Misshandlungen gezeigt hatte. Schnell stellten sie sich vor und zeigten ihre Dienstausweise. Sie ist unsicher, dachte Lichthaus, als er sah, wie Stefanie Ludwigs Blick unstet umherwanderte. Ihr volles braunes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trug dezentes Makeup, was ihre großen Augen unterstrich, die sie jetzt eher ablehnend musterten. Die Kleidung war unauffällig. Jeans und ärmellose Bluse, dazu flache Schuhe, so als ob sie sich unter einer Tarnkappe unsichtbar machen wollte.
Das Haus war liebevoll eingerichtet. In der Küche, deren Tür angelehnt war, hörten sie das Kind plappern. Ein Mann, vermutlich Christian Ludwig, sprach und spielte mit ihm.
Lichthaus und Sophie Erdmann setzten sich an den Tisch und nahmen gern den angebotenen Kaffee. Dann erläuterten sie in sachlichem Ton die Gründe ihres Kommens.
»Frau Ludwig, wie ich bereits am Telefon gesagt habe, suchen wir nach genauen Informationen über den Täter, auch Kleinigkeiten sind wichtig. Sein Verhalten, sein Aussehen, sofern Sie sich erinnern können, und so weiter. Wir verstehen, dass die Erinnerung an das Geschehene schrecklich für Sie sein muss, aber wir wollen den Kerl so schnell wie möglich fassen. Wir brauchen Ihre Hilfe!«
Er hatte sich Mühe gegeben, sie nicht unnötig aufzuregen und ihr die Dringlichkeit dieses Gesprächs vorzuführen. Stefanie Ludwig entspannte sich auch leicht. Sie hörte auf, ihre Finger zu kneten, und wandte ihm ihre volle Aufmerksamkeit zu.
»Gut, fangen wir an. Hatten Sie irgendwann an besagtem Abend den Eindruck, beobachtet zu werden?«
»Nein«, sie schüttelte den Kopf, »überhaupt nicht. Fast der ganze Nachhauseweg führte durch Straßen mit wenig Verkehr und kaum Fußgängern. Da wäre mir der Mann aufgefallen. Ich habe mich sicher gefühlt. Sie wissen schon, man kennt jeden Baum und jedes Haus, schließlich bin ich dort über Monate langgegangen, was sollte mir also passieren? Außerdem gab es entlang des Weges sogar einige Überwachungskameras. Eine hing nur ein paar Meter von dem Eingang zur Schreinerei entfernt, in den er mich …«, ein leichtes Zögern, dann überwand sie die innere Blockade, »… hineingezogen hat.«
»Kameras?« Lichthaus blätterte in den Akten. »Davon steht hier nichts.«
»Zwei Häuser neben der Einfahrt, in die …«, sie stockte unmerklich, »in die ich reingezogen wurde, ist ein Tor mit Überwachungskamera. Den Namen der Firma weiß ich nicht mehr. Irgendwas mit Logistik.«
»Ist das damals überprüft worden?«
Stefanie Ludwig zuckte mit den Schultern.
»Er hat Sie also überwältigt und in die Einfahrt gezogen. Sie haben ausgesagt, dass Sie ihn, bevor er Sie betäubte, kurz gesehen haben. Die alten Aussagen sind schon recht umfassend, doch vielleicht fällt Ihnen noch etwas ein. Sein Geruch, eine Besonderheit, irgendetwas?«
»Nun«, begann sie zögerlich, »er war groß, wohl über einsneunzig, und kräftig. Er hat mich heftig von hinten an sich gepresst, so dass ich ihn nicht gesehen hätte, wäre da nicht eine Fensterscheibe auf der anderen Seite gewesen. Eigentlich habe ich nur Kinnpartie und Nase erkannt. Der Rest lag im Schatten. Mehr habe ich nicht mitbekommen, er hat mir ja dann die Augen verklebt. Ich … Seine Haut, die war so komisch.« Sie brach ab. »Muss das denn wirklich sein? Das steht doch in Ihren Akten.«
»Wenn es eine Alternative gäbe, würde ich Ihnen das Ganze hier gerne ersparen, aber Sie sind die Einzige.« Als Stephanie Cordes zögernd nickte, fragte Lichthaus weiter. »Inwiefern war seine Haut auffällig?«
»Sie war ganz glatt. Nicht so wie rasiert, eher wie Kinderhaut.« Stefanie Ludwigs Blick schweifte ab, sie schaute den Vögeln im Garten zu und dachte nach. Die Tür zur Küche wurde mit Schwung geöffnet, und dann stand ihr Mann in der Tür. Er trug einen Anzug, bereit für die Arbeit. Mit dem Kind auf dem Arm nahm er neben seiner Frau Platz und legte ihr schützend den freien Arm um die Schulter. Seine Augen blitzten aufgebracht.
»Warum können Sie meine Frau nicht in Ruhe lassen? Seit Sie gestern angerufen haben, ist alles wieder da. Merken Sie denn nicht, wie sehr Sie sie quälen?«
»Wir haben einen Täter zu fassen, der nun auch mordet. Es tut uns wirklich leid, doch es muss sein.« Lichthaus sah Christian Ludwig mit ernster Miene an.
»Ach, was!« Er winkte ab. »Ihr …«
»Christian!«, unterbrach Stefanie Ludwig ihren Mann. Ihre Stimme war völlig ruhig. »Bitte warte draußen. Ich will helfen.« Unwillig stand er auf und ging das Kind an sich drückend hinaus.
»Er hat mich später berührt, als er … als er mich gebissen hat. Da war seine Gesichtshaut so glatt. Mehr als perfekt rasiert.«
»Was war mit Kinn und Nase?«
»Unauffällig. Nicht zu groß, nicht zu klein.«
»Wie hat er sich verhalten, als Sie wieder zu sich gekommen sind? Sie und auch die anderen Opfer haben ausgesagt, er habe sie gedemütigt. Können Sie das präzisieren?«
»Nun, als ich wach wurde, hat er …«, sie brach ab und schaute Hilfe suchend zu Sophie Erdmann.
Lichthaus verstand und erhob sich. Wie erwartet kamen sie jetzt zu einem Punkt, der es ihm als Mann unmöglich machte zu bleiben.
»Ich werde draußen warten.« Er nickte seiner Kollegin zu, ging durch die Diele und sah, dass die Haustür offen stand.
Draußen regnete es leicht. Im Windfang stand Christian Ludwig und rauchte. Das Kind war nicht zu sehen.
Lichthaus hatte seine Tasse mitgenommen und trank langsam an seinem Kaffee. Ludwig sah müde aus. »Entschuldigung, wegen eben«, presste er hervor. »Sie hat das alles immer noch nicht verwunden. Das Schwein hat aus meiner Frau ein Wrack gemacht. Was glauben Sie, wie oft Steffi im Schlaf hochfährt und schreit? Ich darf sie dann nicht berühren, muss warten, bis sie wieder zu sich kommt. Wir gehen nie weg. Jede Menschenansammlung ist ihr ein Horror.« Er warf die Kippe im hohen Bogen in Richtung Straße. Sie landete im Vorgarten, doch es schien ihm egal zu sein.
»Jetzt, mit dem Kind, geht es ihr endlich ein bisschen besser, und nun tauchen Sie hier auf.«
»War sie in Behandlung?«
»War? Sie ist immer noch beim Psychotherapeuten. Einmal die Woche. Das dauert eben, hat dieser Seelenklempner gesagt.«
»Waren Sie damals, als es passiert ist, schon verheiratet?«
»Nein, aber wir lebten zusammen in Wiesbaden. Ich war in Frankfurt als Unternehmensberater tätig und viel unterwegs. Deutschland, USA und so weiter. Steffi war bei einem Arzt als Helferin beschäftigt. Sie ist morgens aus dem Haus. Gut gelaunt, selbstbewusst. Und abends im Krankenhaus war davon nichts mehr übrig, sie war nur noch ein Schatten; körperlich und seelisch zerstört. Sie kann mir bis heute nicht erzählen, was der Kerl gemacht hat. Ich weiß es nur von Ihren Kollegen. Ich bin dann zu einer Bank gewechselt, denn sie will nachts nicht mehr allein sein. Die Fenster und Türen werden an jedem Abend verrammelt und x-mal geprüft.«
»Haben Sie mitbekommen, dass sie damals beobachtet wurde?«
»Nein. Sie wird eben angegafft, weil sie hübsch ist. Es ist mir auch egal, ich will nur, dass sie ihren Frieden findet. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich wünsche mir nichts mehr, als den Kerl endlich hinter Gittern zu sehen, nur, ich habe kaum noch Kraft genug, um noch mal von vorne anzufangen.« Ludwig starrte ziellos in den Regen und wechselte dann abrupt das Thema. »Holen Sie sich doch noch einen Kaffee!«
Lichthaus nickte und ging hinein. Als er in die Küche kam, hörte er Stefanie Ludwig leise reden, wobei sie wiederholt abbrach und anfing zu schluchzen. Er nahm sich einen Kaffee und ging zurück. Die beiden Männer unterhielten sich noch eine Weile über das Haus und ihre Erfahrungen auf dem Gebiet des Bauens. Ludwig stieg gern auf das belanglose Thema ein. Das Gespräch zeigte Lichthaus wieder einmal, dass der Ärger, den er und Claudia während des Umbaus erlebt hatten, mehr die Regel denn die Ausnahme war. Endlich kam Sophie Erdmann heraus. Sie deutete ihm an, dass es besser wäre, wenn er nicht hineinginge. Daher verabschiedeten sie sich sofort und gingen zum Wagen. Als Lichthaus in das Auto steigen wollte, hielt ihn Christian Ludwig zurück.
»Wenn ihr ihn habt, lasst nicht zu, dass er sich umbringt, das wäre zu einfach.« Lichthaus schaute ihm in die Augen und sah Verzweiflung und wilden Hass darin. Er nickte.
»Ich rufe Sie an. Sagen Sie das Ihrer Frau, und dass ich nicht aufgeben werde.« Dann stieg er ein.
Eigentlich hatten sie noch zu den Kollegen nach Wiesbaden fahren wollen, doch sie mussten zurück. Der Tote der Nacht hatte den Druck weiter erhöht.
Sophie Erdmann sah mitgenommen aus. Die Befragung war hart an der Grenze des Erträglichen gewesen. Mit leicht zusammengekniffenen Augen starrte sie dumpf auf die Straße, während der Wagen mit hoher Geschwindigkeit losjagte. Er ließ ihr Zeit, sich zu beruhigen. Als sie dann auf der Autobahn in Höhe Dorsheim waren und zügig hinauf in den Hunsrück fuhren, begann sie zu sprechen.
»Wir müssen das Schwein unbedingt fassen! Was der mit den armen Frauen anstellt, ist barbarisch.«
Sie schaute zu ihm hinüber. »Wir nehmen an den Opfern immer nur die äußeren Verletzungen wahr und blenden alles andere aus. Bei den Zeugenaussagen stehen sie irgendwie unter Schock und lassen uns nicht an sich heran. Wenn man aber später mit ihnen spricht und begreift, wie kaputt die da drinnen sind, merkt man erst, dass in diesen paar Stunden ein ganzes Leben zerstört wurde. Unser Täter ist das größte Schwein, das ich mir vorstellen kann. Was die Frauen über Stunden oder Eva Schneider über Tage mitgemacht haben, ist unvorstellbar.«Ihre Stimme war mit jedem Satz lauter geworden.
Lichthaus blickte sie prüfend von der Seite an. »Haben Sie was Neues erfahren?«
»Nun«, sie wurde wieder ruhiger, »eigentlich nicht. Es ging ihm wohl eher darum, seine Opfer zu unterwerfen, als um die körperliche Befriedigung. Das ist bei solchen Taten ja häufig der Fall. Die Einzelheiten sind jedes Mal grausam. Neu ist mir, dass er so geschwollen gesprochen hat, fast wie im Mittelalter. Er sprach sie mit Weib an, nannte sie Dirne. Als sie um Gnade gebettelt hat muss er Schweig stille, des Satans elende Brut! gebrüllt haben.« Sie zuckte mit den Schultern. »Der ist völlig durchgeknallt. Aber deswegen auch extrem gefährlich. Ansonsten hat Frau Ludwig eigentlich das geschildert, was schon in den Akten steht. Ich lasse Ihnen eine Kopie des Mitschnitts anfertigen. Im Augenblick habe ich genug.«
Lichthaus hatte das Gefühl, umsonst nach Bingen gefahren zu sein, und eine tiefe Resignation machte sich in ihm breit. Im Fall Eva Schneider traten sie auf der Stelle. Und dann war da noch die Brandleiche.
»Kümmern Sie sich bitte um den Film aus der Überwachungskamera in Wiesbaden. Wenn der noch da ist, können wir vielleicht was erkennen.«
»Das ist sechs Jahre her!«, wandte sie ein, doch er hob die Augenbrauen.
»Wieso? Die Technik macht vieles möglich.« Wenig später merkte er, dass er allmählich wieder einschlief. Gegen zwölf erreichten sie in strömendem Regen Trier.
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