Kapitel 57

„Was um Himmels willen …?“, fragte Thorolf, als Ian sich plötzlich auf den Boden warf, als ginge er in Deckung.

„Energielinien!“, war die kryptische Antwort.

Einen Augenblick später sprangen beide auf, als sie Katzengejammer hörten, und liefen zur Schlafzimmertür. Ihre Blicke trafen sich. Zwei Hände klopften an der Tür.

„Catty? Catty, ist alles in Ordnung? Fräulein Lybratte?“

Keine Antwort.

„Catty. Wir kommen jetzt rein. Bedecken Sie sich!“

Sie warteten den Bruchteil einer Sekunde. Dann griffen zwei Hände nach der Klinke. Die beiden behinderten einander fast, weil sie zur gleichen Zeit durch die schmale Türöffnung strebten. Einen Augenblick später standen sie in einem leeren Raum.

„Sie ist fort!,“ rief Thorolf. Seine Stimme klang beunruhigt.

„Sie hat sich nicht angezogen“, bemerkte Ian.

„Vielleicht ist sie da raus?“ Thorolf eilte zum Fenster und sah hinaus in die Nacht.

„Sie wird kaum im Evaskostüm dort hinausgeklettert sein“, meinte Ian und drehte das Gas höher, um besser sehen zu können.

„Außer sie ist wieder zur Katze geworden.“

„Ich glaube nicht.“ Ian war sich sicher, wusste aber nicht, warum.

„Woher willst du das wissen? Ich habe ein Miau gehört. Das muss sie doch gewesen sein.“

„Ich habe es auch gehört. Aber ich habe auch Fey-Magie gespürt. Hast du es nicht bemerkt?“

Thorolf sah ihn ungehalten an.

„Ich? Ich mag ja ein Feyon-Bastard sein, aber ich habe weder die passenden Fähigkeiten noch irgendwelches uraltes Geheimwissen …“

„Fähigkeiten hast du mehr, als du glaubst. Doch darüber wollen wir jetzt nicht diskutieren. Aber Geheimwissen hat nichts damit zu tun. Es ist eine Sache des Instinkts. Ich spürte Fey-Macht …“

„Du meinst, dieses Tier hat sie wieder verwandelt? Diese Spinne …?“

„Weiß ich nicht. Wir brauchen Hilfe.“

„Sie braucht Hilfe!“ Thorolf klang außer sich.

„Natürlich. Aber wir sind kaum in der Lage, ihr zu helfen, solange wir nicht wissen, was geschehen ist, und ich habe nicht das Wissen, um das herauszufinden.“

„Etwas hat sie in eine Katze verwandelt.“

Thorolf kniete nieder und suchte unterm Bett und hinterm Schrank.

„Das wissen wir nicht.“

„Wie auch immer. Ich werde nicht hier warten.“ Thorolf lehnte sich wieder aus dem Fenster und besah sich das Sims und einen möglichen Zugang zum Dach. „Ich gehe ihr nach.“

Ian zog ihn zurück.

„Du kletterst jetzt nicht aus dem Fenster! Treynstern, benutze dein Gehirn!“

„Tue ich. Mit seiner Hilfe könnte ich es bis aufs Dach schaffen.“

„Weil du groß bist und die Regenrinne erreichen kannst. Sie nicht. Du redest hier von einer Katze, die noch vor zwei Tagen zu ängstlich war, um vom Tisch zu springen. Da wird sie jetzt nicht drei Stockwerke nach unten auf die Straße gesprungen sein.“

„Aber was soll denn sonst passiert sein?“

„Weiß ich nicht. Ich muss Hilfe holen. Weißt du, wo dein Vater wohnt?“

„Ich habe ihn nicht gefragt.“

„Ich auch nicht. Dumm. Wir können deine Mutter fragen! Sie weiß es vielleicht.“

„Meine Mutter? Wohl kaum!“

„Natürlich ist es ungebührlich, so spät bei ihren Gastgebern aufzutauchen. Aber dies ist ein Notfall.“

„Du hast doch wohl nicht vor, jetzt den von Orvens einen Besuch abzustatten, um meine Mutter zu fragen, wo ihr abgelegter Liebhaber ist?“

„Würdest du das nicht tun? Nicht einmal für das arme Fräulein Lybratte, das solche Angst hatte?“

„Doch. Natürlich. Verdammt. Ich gehe selbst. Ich weiß nicht genau, wo sie wohnen. Von Orven hat mir seine Karte gegeben, aber ich habe sie nach der Diskussion mit meiner Mutter zerrissen.“

„Schlecht.“

„Stimmt. Aber ich werde das Haus auch so finden. Ich habe eine ungefähre Vorstellung, wo es ist.“

Er rannte los.

„Halt!“, rief Ian.

„Was?“

„Zuerst anziehen!“

Thorolf rannte zurück in sein Zimmer.

Ian zog sich auch fertig an.

Sie trafen sich an der Tür, Mäntel und Hüte in Position.

„Ich kann allein gehen, McMullen.“

„Musst du auch. Es wird dich einige Zeit kosten, alles herauszufinden. Aber ich werde inzwischen einen … Freund … besuchen. Einen Logenbruder. Ich weiß, wo er wohnt, und er ist gut. Er kann uns vielleicht einige Fragen beantworten. Wenn du Graf Arpad findest, dann warne ihn, dass ich einen Adepten des Arkanen bei mir haben werde. Wahrscheinlich würde er ihn lieber nicht treffen.“

Sie schlossen die Tür hinter sich und rannten die Treppe hinunter. Unten hielten sie kurz an.

„Wir müssen sie finden!“ Thorolf schluckte. „Ich weiß nicht, was ich tue, wenn ihr was zustößt!“

Ian nickte und sah zu, wie Thorolf sein Velociped unter der Treppe hervorzerrte.

„Ich weiß. Wir werden sie finden. Sei vorsichtig.“

Sie trennten sich, einer rannte die Straße hinauf, der andere radelte sie hinunter.

Ians Schritte hallten durch die Straßen. Das spärliche Licht der Gaslaternen half kaum, die schwarzen Schatten der Nacht zu vertreiben.

Ian wusste, dass die Wirtshäuser jetzt alle geschlossen hatten. Vielleicht würde er der Wache begegnen und erklären müssen, was er mitten in der Nacht auf der Straße tat.

Bruder Sutton lebte nah bei der Loge. Er hatte Ian das Haus gezeigt, doch Ian hatte beileibe nicht vorgehabt, ihn so bald zu besuchen, und ganz gewiss auch nicht nach Mitternacht. Er versuchte sich zu überlegen, was genau er dem Mann erzählen sollte und was er besser wegließ, um Thorolf und nicht zuletzt sich selbst zu schützen. Er ärgerte sich, dass er Arpad nicht nach dessen Bleibe gefragt hatte. Von sich aus hatte der Vampir sie nicht preisgegeben, und Ian hatte keinen Korb riskieren wollen, wenn er fragte, schon gar nicht, nachdem sie so viel miteinander geteilt hatten. Er hatte lieber nicht wissen wollen, ob Arpad ihm zutraute, ein Geheimnis vor seiner Loge zu bewahren.

Arpad würde eher erfassen können, was geschehen sein mochte. Ian war sich da sicher. Er wusste so viel, spürte noch mehr, schmeckte die Welt wie ein Gourmet, der die Feinheiten genoss, die anderen entgingen. Irgendwie würde er helfen können.

Zudem wollte Ian ihn wiedersehen. Gefahr oder nicht. Der Sí hatte in ihm den Wunsch nach mehr als einer nächtlichen Begegnung geweckt. Das Leben wäre freilich einfacher gewesen, wenn Ian Thorolfs Vater niemals wiedergesehen hätte. Das wusste er. Doch er hoffte inständig, dass dies nicht der Plan des Schicksals war.

Außerdem brauchten sie jetzt sein Wissen.

Sutton zu fragen war nicht ganz ungefährlich. Es würde ihm irgendwann Unannehmlichkeiten mit der Loge einbringen. Doch sie brauchten so schnell wie möglich Hilfe, und man konnte nicht ahnen, wann und ob Thorolf seinen Vater ausfindig machen würde. Die Nacht war schön und trocken. Der Vampir war vermutlich auf der Jagd. Er konnte überall sein. Er hielt vielleicht schon sein Opfer im Arm, um es in den Garten verbotener Lüste zu führen. Seine langen Zähne mochten bereits in die Adern von Männern und Frauen geschlagen sein, deren Körper in seinen Händen zum Leben erwachten und die alle Angst vor Konsequenzen oder Strafe verloren. Dieser momentane Verlust von Schuld war ein wunderbares Geschenk. Paradiesisch auf der einen Seite, Betrug und Verführung auf der anderen. Ians christliche Erziehung legte ihm eine Interpretation nahe, die er ärgerlich aus seinen Gedanken schob. Das hatte er alles hinter sich gelassen. Ein Apfel war nichts als ein Apfel für all jene, die man bereits des Paradieses verwiesen hatte.

Ian hielt einen Augenblick an, ganz außer Atem vor Anstrengung. Mit einer Hand stützte er sich an der Wand eines Hauses ab. Die andere presste er an seinen Hals. Allein die Erinnerung an den Biss hatte ihm für einen Moment die Knie weich werden lassen. Das musste aufhören. Es war schon gut gewesen, Thorolf nach Arpad zu schicken, während er sich nach menschlicher Hilfe umsah. Sehr gut sogar. Er musste sich auf andere Dinge konzentrieren.

Das Mädchen. Er sollte besser an das Mädchen denken. Er schalt sich, dass er nicht früher erkannt hatte, dass die Katze eine junge Frau gewesen war. Nun da er es wusste, erschien es ihm allzu deutlich. Sie war so viel mehr gewesen als nur eine Katze. Ein entzückendes Wesen, schön in ihrer jungfräulichen Perfektion, glatt, aufblühend, verführerisch. Er hatte sie angelogen, als er gesagt hatte, er hätte vergessen, wie sie nackt aussah. Es war nicht eben einfach zu vergessen, und da war noch diese besondere Aura. Er konnte es nicht definieren. Irgendetwas war damit. Doch er hatte der Aura weit weniger Beachtung geschenkt als ihrer schimmernden Haut, ihren schmalen Schenkeln, ihren festen, kleinen Brüsten. Ein Fehler gewiss.

Es machte einen schon sehr außergewöhnlich, wenn man eine Weile eine Katze gewesen war. Er erinnerte sich daran, wie er ihr weiches Fell gestreichelt hatte, wie sie panisch nach ihm gekrallt hatte, als er ihr zu nahe gekommen war. Ein ängstliches, kleines Kätzchen. Selbst als Mädchen hatte sie noch genauso gewirkt.

Er begann wieder zu rennen. Jetzt war es nicht mehr weit. Er versuchte, Ordnung in die Eindrücke und Gedanken zu bekommen, die ihm durch den Kopf fuhren. Er sollte sich lieber genau überlegen, was er Sutton erzählen würde, wenn er ihn erst einmal erreicht hatte, und er musste darauf achtgeben, was er ihm besser nicht erzählte, wenn er überleben wollte.

Er zwang sich, wieder an Catty zu denken.

Es konnte nicht die Riesenspinne gewesen sein, die die Verwandlung durchgeführt hatte. Das Monster hatte absolut keinen logischen Grund dazu. Allerdings mochte dies mit Logik gar nichts zu tun haben. Arkanlogen suchten immer nach Logik, doch das Arkane war keine exakte Wissenschaft, selbst wenn alle gerne so taten als ob. Logik gehörte in die Welt der Physik. Dennoch folgte jedes Lebewesen seiner Motivation, und Ian konnte nicht das geringste Motiv dafür erkennen, dass ein Ungeheuer ein Mädchen bis in eine Sackgasse verfolgte, um es dann auf so besonders einfallsreiche Art und Weise entkommen zu lassen.

Catrin Lybratte. Die Lybrattes hatten Anteil an fast allem, was in letzter Zeit so geschehen war. Thorolf ging dorthin. Von Orven ging dorthin. Der Großmeister interessierte sich für die Treffen aufgrund von Ians Bericht, und nun war auch noch die Tochter aufgetaucht.

Leben war Impuls. Die Handlungen von Menschen waren wie Tropfen, die auf eine glatte Wasseroberfläche fielen. Sie setzten Wellen in Gang, die sich trafen und überschlugen. Meister des Arkanen konnten in den entstehenden Mustern lesen. Ian vermochte nur, die welligen Kreise um die Menschen herum sehen, deren Namen immer wieder zum Vorschein kamen. Lord Edmond und seine Wirkung auf Menschen. Ein rotes Tigerkätzchen, das ein Mädchen gewesen war und an seiner Schulter geweint hatte.

Außerdem Thorolf. Er hatte auch mit allem zu tun, war das Verbindungsstück zwischen Menschen und Ereignissen. Er hatte das Mädchen schon geliebt, bevor er es je getroffen hatte. Er hatte es wieder und wieder gezeichnet. Er hatte es gerettet und verloren, und erneut gerettet und wieder verloren. Das alles musste etwas bedeuten.

Die Eingangstür zu dem Gebäude war verschlossen. Das war zu erwarten gewesen. Niemand bekam um solche Zeit Besuch. Hätte Ian die Lage der Wohnung gekannt, hätte er vielleicht Steinchen ans Fenster werfen können. Doch er wusste nicht, in welchem Stockwerk sein Logenbruder wohnte.

Er besah sich den Griff und drückte ihn nochmals nieder. Die Tür blieb auch beim zweiten Versuch verschlossen. Ian verkniff sich einen Fluch. Es wäre alles so einfach, wenn Magie so funktionieren würde, wie die Menschen sich das gemeinhin vorstellten. Er hätte nur gestikulieren müssen, den richtigen Zauberspruch murmeln, und voilà wäre die Tür offen gewesen.

Doch das Arkane war nicht so simpel. Vielleicht konnte der Großmeister die Tür so öffnen, aber Ian brauchte entweder einen Schlüssel oder musste eingelassen werden.

„Sesam, öffne dich!“, murmelte er und rüttelte noch einmal an der Klinke – ohne Erfolg. „Verdammt, Sesam, dies ist ein Notfall!“

Doch die Gesetze der Physik kümmerten sich nicht um Notfälle.

Ian setzte sich frustriert auf die Schwelle. Da hielten ihn alle für etwas Besonderes und fürchteten sich vor dem, was er sein mochte, und nun saß er hier auf einem kalten Stein mitten in der Nacht und bekam die Tür nicht auf. Er konnte bestenfalls Suttons Namen so lange in die Nacht hinausschreien, bis der Mann sein Fenster öffnen oder die Nachtwache ihn wegen ungebührlichen Benehmens verhaften würde. Bruder Sutton wäre allerdings mit Sicherheit nicht der einzige, den er wecken würde. Ian wollte ein solches Aufsehen vermeiden.

Doch wenn Sutton schlief, konnte man ihn vielleicht erreichen. Schließlich war Ian der Unterschlupf eines Traumwebers gewesen. Der Traumweber hatte um Hilfe gerufen, und sie war gekommen. Er hatte zwei Menschen in Liebe verbunden, von Orven und die Frau, die nun seine Gattin war. Ian hatte Anteil an diesen Handlungen gehabt, sie sozusagen am eigenen Leib verspürt. Tatsächlich hatte er die letzte sogar initiiert.

Er schauderte. Er hatte das Erlebnis so tief wie möglich in seine Seele verbannt. Es setzte ihn von anderen Menschen ab. Er wollte nicht daran denken. Im dunklen Innern eines Berges zu liegen mit einem fremden Bewusstsein, das seinen zerschundenen Körper bewohnte, war zu furchtbar, um gerne daran zurückzudenken. Ian war nun wieder ein Mensch. Dennoch waren ihm Erinnerungen geblieben, die nichtmenschlich waren.

Er verschränkte die Arme und schloss die Augen. Er wusste nicht mehr, wie man die Gedanken anderer Menschen zielgerichtet erreichte. Er versuchte, sich Suttons Gesicht zu vergegenwärtigen.

„Sie meine ich“, murmelte er. „Hören Sie mich!“

Was mochte den Mann wecken? Das Bild eines nackten Mädchens – ehemals Tigerkatze? Zu angenehm und keine Erinnerung, die ein Gentleman weitergeben würde.

Ein Alptraum?

Ian konzentrierte sich auf Thorolfs Bild, von der Spinne. Jedes Detail sandte er in die Nacht hinaus. Schwarze Krallen, riesige Ausmaße, klaffende Mäuler. „Ich suche Sie“, sandte er seine Gedanken. „Wachen Sie auf, ich brauche Sie. Eigens zu Ihnen bin ich gekommen. Ich brauche Sie jetzt, gleich. Spüren Sie die Gefahr! Es ist Gefahr im Anzug. Große Gefahr. Ich brauche Sie. Ich bin gleich hier bei Ihnen und warte darauf, dass Sie mich einlassen.“

Eine Frau schrie. Dann ein Mann. Hinter den Vorhängen mancher Fenster wurde es hell.

Er hatte den Alptraum der ganzen Straße geschickt. Ihm wurde schwindlig, in seinem Kopf surrte es. Bilder flogen durcheinander. Er hielt sich an der Stufe fest, auf der er saß, versuchte sich an der steinernen Realität festzukrallen.

Energielinien schwirrten um Ian, und er duckte sich unter ihnen hinweg, fiel zu Boden, während das Bild der Spinne sich in seinen Gedanken immer wieder verfestigte. Es wuchs, wurde dunkler, blockierte das Licht der Straßenlaternen und das der Sterne am Himmel. Was hatte er getan? Löste man so das Phänomen der Energielinien aus? Indem man zu starke Fey-Magie wirkte?

Das hatte er nicht gewusst. Nun bezahlte er für seine Unwissenheit. Die Dunkelheit erreichte sein Denken, sank durch ihn hindurch, bis nur noch Schwärze übrig war.

„Danke, Sie können jetzt gehen“, hörte er eine Stimme und dann ein paar klimpernde Münzen. Eine Tür wurde geschlossen.

Ian merkte, dass er auf dem Rücken lag. Sein Kopf war auf ein Kissen gebettet. Er öffnete die Augen.

„Nun“, knurrte Sutton wütend, der eben zurückkam. Vermutlich war dies sein Wohnzimmer. „Ich weiß nicht, wie Sie es angestellt haben, aber Sie haben die ganze Stadt mit einem üblen Alptraum versorgt. Ich bin davon aufgewacht.“

Ian sah sich verdutzt um.

„Der Hausmeister half mir, Sie hochzutragen. Sie waren auf der Straße zusammengebrochen.“

„Oh.“

„Ich hatte Angst, die Energielinien hätten Sie diesmal erwischt. Aber nein. Kein Koma. Nur völlige Überanstrengung eines verblödeten Primaners. Was um Himmels willen hatten Sie nur vor? Mir Angst einzujagen? Was genau habe ich verbrochen?“

Die Stimme des Amerikaners klang verdrießlich.

„Ich wollte Sie nur wecken. Es tut mir leid.“

Der ältere Logenbruder öffnete ein Schränkchen, nahm zwei Gläser und eine Karaffe heraus, die eine goldbraune Flüssigkeit enthielt.

„Sie wollten mich wecken? Ihre Kommunikationsversuche sind ebenso eigentümlich wie ekelhaft. Übrigens haben Sie Nasenbluten.“

„Oh.“ Ian zog ein Taschentuch aus seiner Tasche.

„Überanstrengung. Was Sie getan haben, hätte Sie das Leben kosten können. Ich hoffe, Sie haben einen wirklich guten Grund dafür, und ich würde ihn verdammt noch mal gerne hören.“

„Sie sind wütend auf mich. Das tut mir leid.“

Sutton stellte ein gefülltes Glas neben ihm ab und nahm einen Schluck aus dem anderen.

„Also, was sollte das?“

„Es tut mir leid, Bruder Sutton. Es sollte kein Streich sein. Ich brauche dringend Ihre Hilfe. Sie haben doch angeboten, mir zu helfen.“

Der Adept stand reglos, ohne Ian auch nur einen Augenblick aus den Augen zu lassen.

„Ich wusste nicht genau, wo Sie wohnen. Die Haustür war zu ...“

„Sie hätten zur Hintertür gehen und den Hausmeister wecken können. Er hätte Sie zu mir gebracht. Oder erschien ihnen das zu alltäglich?“

Ian fühlte sich sehr dumm.

„Tut mir leid. Daran habe ich nicht gedacht. Ich brauchte Sie, und ich dachte, wenn ich Ihnen einen Traum schicke, dann würde Sie das vielleicht wecken. Ich war mir nicht mal sicher, dass das funktionieren würde. Ich weiß nicht mal genau, wie ich das gemacht habe.“

„Wie Sie das gemacht haben? Ausnehmend effizient. Der Großmeister könnte auf die gleiche Weise kaum mehr Schaden anrichten. Sie haben fast eine Massenpanik ausgelöst. Was hat Sie nur dazu bewogen, eine menschenfressende Riesenspinne in die Gedanken der Schläfer zu schicken? Das Gefühl von immenser, imminenter Gefahr wird die gesamte Bevölkerung tagelang in Panik halten, und wenn sie erst feststellen, dass sie alle das gleiche geträumt haben, wird die Kirche von der Apokalypse faseln und die gottverdammte Bruderschaft des Lichts zu Hilfe holen. Wahrscheinlich dauert es dann nur noch ein paar Minuten, und die ersten glauben fest, dass diese Spinne der Teufel in Person war und die Zahl der Bestie trug.“

„Tut mir leid.“

„Das sollte es auch. Die Loge wird dazu das eine oder andere zu sagen haben.“

„O je. Ich muss es wohl beichten“, seufzte Ian.

„Unnötig. Sie stehen vermutlich alle schon gegürtet und gewappnet in der Bibliothek, um sich einer Schlacht zu stellen.“

„Oh. Lieber Himmel. Das wollte ich nicht …“

„Sie müssen vorsichtiger werden!“

„Ich wusste nicht, dass ich das kann. Ich wusste nicht, dass es so viele Menschen erreichen würde.“

„Sie kennen Ihre eigene Macht nicht. Dabei lernen wir als erstes den Umgang mit unserer Macht und immer genau zu wissen, was wir tun. Alles andere ist verdammt gefährlich. Lieber Himmel! Das wissen Sie doch.“

„Ja. Tut mir leid.“

„Was ist denn nun passiert, dass so dringlich war?“

Ian holte tief Luft. „Das ist ein bisschen kompliziert.“

„Wenn Sie jetzt einen Rückzieher machen, ziehe ich Ihnen das Fell über die Ohren.“

„Nein. Es ist nur so durcheinander. Thorolf, mein Mitbewohner, hat ein Kätzchen angeschleppt …“

„Sie haben die geistige Gesundheit einer ganzen Stadt gefährdet – wegen einer Katze?“

„Sie ist keine Katze. Heute Nacht, als sie auf Thorolfs Kissen geschlafen hat, hat sie sich in ein hübsches junges Mädchen verwandelt.“

Sutton starrte ihn an. Nach ein paar Sekunden nahm er noch einen Schluck Whisky.

„So ein Glück hätte ich auch gern mal!“