Kapitel 22
„Liebster, ein oder zwei Wochen bei meiner Tante auf dem Lande werden ihr guttun. Wirklich. Das musst du mir glauben.“ Frau Lybrattes schöne grüne Augen hielten den ärgerlichen Blick ihres Mannes fest. „Sie war in letzter Zeit so übernervös. Immer diese Alpträume. Sie war auch recht traurig darüber, dass ich ihre Einführung in die Gesellschaft verschoben habe. Das arme Kind ist so konfus zurzeit. Bitte vertrau hier auf mein weibliches Urteil. Sie wird aus ihren Ferien weniger blass und weniger aufmüpfig zurückkommen. Du wirst sehen.“
Herr Lybratte saß in seinem Lehnstuhl und trank Kaffee.
„Mein geliebte Lucilla, ich will keineswegs deine Urteilsfähigkeit in Frage stellen. Ich bin sicher, du weißt es am besten. Ich finde nur, du hättest mich konsultieren sollen, bevor du sie fortgeschickt hast. Immerhin ist sie ja meine Tochter. Ich fürchte, ich habe sie allzu sehr vernachlässigt in den letzten Tagen. Ich weiß noch nicht einmal, warum ich nicht …“
Lucilla unterbrach seine Vorwürfe mit einem Kuss und zog ihn in die Arme.
„Liebster, du bist ein ausgezeichneter Vater, also mach dir keine Vorwürfe. In ihrem Alter braucht sie eine Mutter viel nötiger als einen Vater. Sorge dich nicht um ihren kleinen Urlaub. Meine Tante ist eine ganz reizende Person.“
„Kenne ich sie?“
„Sie war verreist, als wir geheiratet haben. Lieber Himmel, wie spät es ist! Musst du nicht längst an der Universität sein? Ich sage Johann, er soll anspannen. Hast du nicht eine Konferenz heute?“
Er blickte erstaunt drein.
„Ich wüsste nicht … vielleicht doch. Du hast wohl recht. Ich sollte mich wirklich beeilen.“
„Ja, Liebster. Wir können noch einmal reden, wenn du wiederkommst. Allerdings haben wir heute wieder Gäste.“
Sie küssten sich noch einmal intensiv, dann sah der reifere Herr auf seine goldene Taschenuhr und stürmte aus der Tür. Seine Gattin blieb mit einem gefrorenen Lächeln auf den Lippen im Frühstückszimmer stehen.
Einen Augenblick später betrat die Gouvernante den Raum.
Ärgerliche grüne Augen durchbohrten sie.
„Nun, meine liebe … Miss Colpin. Da hast du uns ja schön ins Unheil geritten.“
Ein zweischneidiges Lächeln war die Antwort.
„Es tut mir leid. Ich konnte sie nicht finden. Sie ist mir weggelaufen.“
„Natürlich. Das weiß ich auch. Auch ich habe sie nicht aufspüren können. Du warst für sie verantwortlich. Wir können nicht ewig das Märchen vom Erholungsurlaub bei der Tante auf dem Lande aufrechterhalten. Irgendwann werde ich sie wieder vorweisen müssen – schlimmstenfalls mitsamt nichtexistenter Tante. Also müssen wir sie finden. Rasch. Wir brauchen sie.“
Die Gouvernante ließ sich im Lehnstuhl nieder, während die Dame des Hauses zum Fenster glitt und der Abfahrt ihres Gemahles zusah.
„Er hat sich Sorgen gemacht. Sorgen darf er sich nicht machen. Es beeinträchtigt seine Brillanz, seine Fähigkeit, konstruktiv zu denken. Doch letztlich ist sie es, die ihn mir als Gatten so unersetzlich macht. Wie du sehr genau weißt.“
Miss Colpin nickte.
„Es tut mir leid. Sehr sogar. Ich habe versucht, sie aufzuhalten, als sie in die Nacht verschwunden ist. Ich möchte allerdings bemerken, dass deine eigenen Maßnahmen gegen ihr Verlassen des Hauses auch nicht gegriffen haben. Kann es sein, dass auch du einen Fehler gemacht hast?“
Seide rauschte, und schon stand Lucilla vor ihr, fixierte sie mit einem starren, bösen Blick.
„Ich?“ Die Dame klang wütend. „Deine neuen ... Erziehungsmethoden, meine Liebe, waren gänzlich ungeeignet, und ich bin mir nicht sicher, ob ich dich nicht für deine unglaubliche Unverschämtheit prügeln sollte. Es war dein Fehler.“
Miss Colpin blickte einen Augenblick lang verunsichert drein.
„Aber bitte, liebste gnädige Frau Lybratte. Ich gebe zu, es ist inopportun, dass wir sie gerade jetzt irgendwie verlegt haben. Aber wir werden sie wiederfinden. Sie kann sich nicht ewig verstecken. Ihr arkanes Talent strahlt so weit; es macht sie einfach zu finden, und sie weiß noch nicht einmal, dass sie es besitzt. Ohne Ausbildung kann sie bestenfalls ungesteuerte Zufallstreffer landen.“
„Was hast du dir nur dabei gedacht …“
„Ach, du weißt ganz genau, dass es mich schwer ankommt, immer die brave, süße, allzu wohlerzogene Gouvernante zu spielen. Jedenfalls über eine längere Zeit hinweg. Ich brauchte wirklich eine kleine Pause.“
„Ja. Du hast dir ein Päuschen gegönnt, und sie sich einen Ausbruch. Schon war sie weg und unterwegs in ein Paar Männerarme, mitten in der Nacht, um mit dem Kavalier zu enteilen. Ein so sorgsam erzogenes Mädchen! Wer hätte das gedacht? Sag mir nicht, dass sie nicht wusste, dass sie das ruinieren würde.“
„Sie hat den Ort ihres … moralischen Niederganges … ja nie erreicht.“ Miss Colpin lächelte säuerlich.
„Aber nur, weil ich dir immer noch befehlen kann und du gehorchen musst, meine Liebe. Das hättest du bedenken sollen. Ich wollte, dass sie hier im Haus bleibt, nicht, dass sie sich dem ersten schönen Mannsbild in die Arme wirft, das irgendwelche Versprechungen macht. Sie wäre so schnell entjungfert worden, dass sie kaum gewusst hätte, wie ihr geschah.“
Ein amüsiertes Lächeln huschte über Miss Colpins Gesicht.
„Du musst zugeben, ihre Entjungferung hätte – vielleicht – manches vereinfacht. Ihre wilde arkane Energie wäre damit möglicherweise zurückgegangen.“
Lucilla legte ihre Hände auf die Schultern der Gouvernante und presste sie tiefer in den Sessel.
„Wenn ich gewollt hätte, dass sie ihre Jungfernschaft zusammen mit ihrer Magie verliert, hätte ich sie in die Gesellschaft eingeführt und an den erstbesten Idioten verheiratet, dem die Größe ihrer Mitgift nicht die Sprache verschlagen hätte. Dann wäre sie jetzt anständig defloriert und würde uns nicht mehr stören. Doch ich habe genau das mühevoll verhindert. Ein Mädchen mit einem solchen Talent findet man nicht alle Tage – und dann noch im richtigen Alter und unberührt. Das hättest du bedenken müssen. Sie war ein wichtiger Baustein. Eine Ingrediens für den Erfolg.“
Frau Lybratte nahm die Hände von der Angestellten, wandte sich ab und ging wieder zum Fenster. Einen Augenblick lang schwiegen beide Frauen.
„Verzeih mir!“, sagte Miss Colpin. „Es tut mir sehr leid. Kon-trolle über eine so lange Zeit zu bewahren ist schwierig. Ich war ja nicht immer eine strenge Gouvernante, und die anfängliche Freude am Neuen ist nun auch verflogen. Die ewig trockene Erzieherin zu mimen ist nichts, das einem Befriedigung verschaffen kann.“
Frau Lybratte schwieg, schüttelte sich nur leicht vor Missvergnügen. Ihr Haar glitzerte in der Morgensonne, die durch das Fenster schien, und verlieh ihr einen edlen Hauch. Das Gespräch mit der Angestellten war vorüber, ohne dass sie das sagen musste. Ihre Unnahbarkeit war wie ihre Missbilligung fast greifbar.
Sie wandte sich nicht um, als ihre Untergebene sich entfernte, auch nicht, als sie die Tür gehen und einen Schlüssel sich drehen hörte. Sie stand nur da wie eine zeitlose Statue und wartete ab.
Augenblicke später fassten schmale, schmalkrallige Hände von hinten nach ihren Schultern.
„Du bist mir böse“, sagte eine tiefe, leise Stimme. Sie erstarrte unter der Berührung.
„Sehr. Es war ein dummer Bubenstreich.“
Die Hände zogen sie in eine Umarmung. „Du weißt, ich bin ungeduldig.“
„Ich weiß nur, dass du unersättlich bist. Dein Wünschen und Wollen hat über deine Vernunft triumphiert. Das kann ich nicht gestatten.“ Er hielt sie umfasst, streichelte sie sanft.
„Mein lieber Lord Edmond, glauben Sie wirklich, Sie sollten bei der Mutter versuchen, was Ihnen bei der Tochter entgangen ist?“, fragte sie zynisch.
„Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?“, fragte er zurück und rieb die Seite seines Gesichts an ihrem.
„Für diese letzte Unverschämtheit sollte ich dich töten. Schließlich gehöre ich zu den wenigen, die wüssten wie.“
„Vielleicht solltest du es versuchen.“
„Ich bin äußerst ungehalten über dein Benehmen“, kommentierte sie frostig.
„Dann lass mich dich wieder ... gehalten ... machen. Ich weiß genau, wie ich dich zu halten habe.“ Seine Rechte begann, ihr das Kleid aufzuhaken, seine Linke fuhr fort, sie zu liebkosen.
„Denkst du denn, Frau Lybratte, die ehrenwerte Gattin eines ehrenwerten Professors, und Lord Edmond, der ehrvergessene Freund, würden eine gute Konstellation abgeben?“
„Eine ungewohnte, so viel ist sicher, doch es ist nicht so, als hätten wir das Spiel nicht schon so gespielt. Ich meine mich zu erinnern, dass es dir Freude bereitet hat.“
„Hat es das?“ Die Frage klang trocken und ablehnend.
„Es hatte auf alle Fälle den Anschein, obgleich ich weiß, dass deine Tendenz, dir ‚Freude‘ zu verschaffen, gemeinhin in einer anderen ‚Konstellation‘ liegt. Doch ich kenne diesen – deinen – Körper und weiß, dass ich ihn zum Singen bringen kann. Wir haben die Zeit. Walpurgis ist noch ein paar Tage entfernt. Wie wäre es mit ein wenig Kammermusik? Ich spiele mein Instrument mit sanfter Präzision und starker Hand. Als Meister der Mondscheinsonate. Welchen Satz hättest du gern, den süß-melancholischen ersten oder den leidenschaftlichen dritten?“
„Den zweiten, mein Mondscheinliebhaber.“
„Liebe Zeit – bist du wirklich so verärgert? Ich schwöre, ich werde mich bessern, um dir zu gefallen.“
„Doch wie steht es um das Gefallen der beinahe Gefallenen? Sag mir, schöner Maulheld, hättest du die süße, kleine Catrin mit in deinen Junggesellenhaushalt geschleppt, um sie dort mit Raffinesse und Charme und dem nicht zu vergessenden Glas Madeira zu verführen? Oder hattest du vor, ihr schon in der Kutsche die Schenkel zu spreizen und sie zu erobern in eben dem Moment, in dem sie bei dir ankommen würde?“
Er seufzte und fuhr mit der Hand über ihr Kleid, und schon lag es zusammen mit einigen anderen Kleidungsstücken über einen Stuhl gebreitet. Sie wandte sich ihm zu und hob skeptisch eine Braue, während seine Finger von ihrem Hals zwischen ihre Brüste reisten, von dort über ihren Bauch und sie schließlich nur einen Zoll vorm Ziel verließen. Frau Lybratte schien ungerührt.
„Wer weiß? Ich bin kein geduldiger Mann“, betonte er erneut. „Mein Wesen ist nicht von Heiligkeit bestimmt. Ich habe meine Bedürfnisse, schon gar in dieser besonderen Rolle. Junge, einflussreiche Herren der besseren Gesellschaft leben ihre Neigungen aus, und meine ... Neigung ... hat dir noch immer Freude bereitet. Du hast dich eingemischt. Also habe ich der Kleinen nicht die Schenkel gespreizt und sie zur Frau gemacht. Aber wer weiß, vielleicht wäre ich ja auch der perfekte Gentleman geblieben, der ich bisweilen sein kann, selbst wenn du das kaum glauben möchtest.“
Mit einer weiteren Geste verschwand auch seine Kleidung, und er stand vor ihr, blass und glatt. Sie betrachtete seinen Körper, hob eine Braue beim Anblick seiner allzu deutlichen Vorfreude. Schon griff sie ihn mit strafender Hand, und er zuckte zusammen.
„Deine Unverschämtheit ist jenseits aller Vernunft.“ Scharfe Fingernägel fuhren über empfindliche Stellen, und er zischte schmerzerfüllt auf. Einen Augenblick standen sie so, dann lächelte sie. „Doch ich werde dir immerhin die Möglichkeit gewähren, meine Laune zu bessern. Also, erfreue mich.“
Sie trat zu der kissenbedeckten Ottomane und legte sich in einer eleganten Bewegung nieder.
„Zeig mir, was du mit meiner kleinen Stieftochter angestellt oder auch nicht angestellt hättest. Doch ich rate dir, deine Sache gut zu machen. Ich habe in letzter Zeit zu viele Aufmerksamkeiten eines alten Weisen über mich ergehen lassen müssen, um besonders geduldig mit einem jungen Narren zu sein.“