Kapitel 32

Die Dame des Hauses trug grüne Seide. Grün und Schwarz waren ihre Farben, wann immer sie mit Mitgliedern ihres Zirkels zusammentraf. Derzeit saßen sie im Salon und tranken Tee mit Zitrone. Sie reichte Kuchen und kleine, aufwendige Kanapees mit Gurke und Kresse und mit pommerscher Teewurst. Kuchen, weil die anderen Frauen das so erwarteten, und Kanapees, weil das um einiges stilvoller war. Stil war ihr wichtig.

Der schmalknochigen Alten, die neben ihr saß und die gesamte Szene auf kaum akzeptable Manier dominierte, bedeutete Stil weniger.

Die anderen drei waren jedoch beeindruckt, so wie sich das gehörte. Die junge Frau trug das Kleid, das sie ihr geschenkt hatte. Als Hausangestellte hatte sie nicht das Geld, sich dem Anlass angemessen zu kleiden, und die Gastgeberin hatte nicht vor, in den Ruf zu kommen, Dienstpersonal zu bewirten.

Die Blinde und ihre Mutter saßen wie immer beieinander.

„Die Welt ist voller Linien“, sagte das Mädchen. „Ich kann sie sehen. Sie sehen hübsch aus.“

Die Mutter tätschelte ihr die Hand.

„Das ist gut“, sagte sie.

„Sie sind überall um uns herum. Manchmal schwellen sie an – ganz unerwartet.“

„Was geschieht dann?“, fragte die Alte.

„Dann ducke ich mich“, gab das Mädchen zurück.

„Das ist klug von dir“, lobte die Mutter. „Wie ich gehört habe, sollen einige sehr gelehrte Herren, die ich gänzlich unerwähnt lassen möchte, nicht halb so intelligent sein.“

„In den letzten Wochen musste ich mich schon einige Male ducken“, fügte die Tochter stolz hinzu.

Das Dienstmädchen suchte in einem Nähkorb, in dem sich eine Menge handgeschriebener Zettel befand. Einige davon sahen schon sehr alt aus. Die meisten waren mit Bildzeichen vollgekritzelt, statt mit einer erkennbaren Schrift, und der Rest hätte gut und gern einen Preis für kreative Orthographie gewinnen mögen. Wieder einige schienen dem Butterfass zu nahe gekommen zu sein.

„Hier heißt es, eine Soße aus Boretsch, Kerbel, Petersilie, Pimpernelle, Sauerampfer, Schnittlauch, Zitronenmelisse, Schafgarbe, Löwenzahn und saurer Sahne hilft gegen zu kräftige Energielinien“, sagte sie.

„Unsinn!“, schalt die Gastgeberin. „Das ist ein Rezept für Frankfurter Grüne Soße. Zitrone, Salz, Pfeffer und harte Eier gehören auch noch rein. Das isst man an Gründonnerstag oder Karfreitag.“

„Schon möglich“, meinte die Alte. „Aber warum? Beide Tage sind sehr energiestarke Tage!“

„Weil unser Heiland da gestorben ist“, fügte das blinde Mädchen sanft hinzu.

„Weil die Welt Trauer und Angst fühlt. Starke Emotionen beeinflussen die Realität“, erklärte die Alte.

„Also wirklich“, beschwerte sich die Mutter des blinden Mädchens. „Was für pompöse Worte. Manchmal legst du ein fast männliches Gebaren an den Tag.“

„Du lieber Himmel“, lachte die Alte. „Was für eine Beleidigung! Tatsache ist allerdings, dass auch Männer bisweilen für irgendetwas gut sind. Nur manchmal und eher selten. Meist jedoch versuchen sie, einen Riss im Stoff mit einem Schwert zu flicken, weil es eindrucksvoller aussieht als eine Nadel.“

Die Gastgeberin seufzte. „Erwählt“ zu sein war eine aufwendige Aufgabe, die einem weder Lob noch soziale Anerkennung einbrachte. Kritik und Gesichtsverlust waren allemal wahrscheinlicher. Deshalb nannte sie diese kleinen Treffen von eher ungewöhnlichen Gästen Außenstehenden gegenüber ihre „Wohltätigkeitsarbeit“.

„Also, was tun wir?“, fragte sie die Alte und wünschte sich dann, sie hätte ihre Unwissenheit nicht so unverbrämt preisgegeben.

„Mehr Fakten sammeln!“, sagte die Alte.

„Grüne Soße essen?“, schlug die Hausangestellte vor.

„Beten?“, schlug die Mutter der Blinden vor.

„Ducken!“, sagte das Mädchen.

Sie duckten sich, und ein Deck sehr bunter, recht ungewöhnlicher Spielkarten fiel vom Tisch und verstreute sich komplett auf dem Boden. Eine Karte begann zu brennen, von innen her nach außen.

Das Dienstmädchen ergriff die Teekanne und goss Tee auf die Flammen. Gleich danach tupfte es mit einem Taschentuch an dem Fleck auf dem Teppich herum und murmelte Entschuldigungen.

Die Blinde nahm die Reste der Karte auf, schien mit seinen weißen Augen an ihr vorbeizublicken.

„Sie ist jetzt leer“, sagte sie, als wäre die Karte vorher bewohnt gewesen.

Die Gastgeberin nahm sie ihr ab.

„Ganz verbrannt! Jetzt muss ich mir ein neues Deck besorgen. Wie ärgerlich.“

„Welche fehlt?“, fragte die Alte.

„Das kann man nicht mehr erkennen“, klagte die Dame des Hauses.

„Dann musst du den Rest durchschauen und sehen, welche fehlt.“

„Ich kann das für Sie tun!“, bot sich das Dienstmädchen schüchtern an.

„Sie muss es schon selbst machen“, schalt die Alte. „Ihre Karten, ihre Schlussfolgerungen.“

Die Gastgeberin blickte ärgerlich auf den Teppich.

„Der ist ruiniert!“, beschwerte sie sich.

„Es tut mir leid“, murmelte das Dienstmädchen voller Reue.

„Das war absolut nicht dein Fehler!“, verfügte die Alte. „Du hast nichts falsch gemacht.“

„Mein Gemahl wird äußerst ungehalten sein. So ein teurer Teppich – er stammt aus China! Ihr ahnt nicht, was so etwas kostet.“

„Ahnen wir nicht“, bemerkte die Alte. „Wozu auch?“

„Es ist ein kaiserlicher Teppich!“, fuhr die Gastgeberin jämmerlich fort, eisern bemüht, die letzte Bemerkung zu überhören. „Das ist ein Drache, das Emblem des Kaisers von China!“

„Ach, meine Liebe“, tröstete die Mutter der Blinden. „Ein bisschen Abschaben mit Dr. Hellers exzellenter Patentseife, und man wird es kaum noch sehen, und wenn doch, wird man nur meinen, dass dem Drachen etwas Rauch aus dem Maul kommt. Das merkt niemand. Da sieht man einfach drüber hinweg.“

Die Alte starrte sie an. Dann lächelte sie gedankenvoll.

„Sind noch Schnittchen da?“, fragte sie und besah sich den Drachen unter ihr noch einmal genau.

„Ich lasse gerade noch welche nachmachen. Ich habe leider einige verdorben, weil ich sie mit Katzenminze statt mit Kresse garniert habe. Ein dummer Fehler.“

„Wen hast du denn erwartet? Eine Katze?“