Kapitel 6

Catrin hätte sich gern in ihrem Zimmer eingeschlossen, aber es gab keinen Schlüssel. Auch den hatte man ihr genommen. Junge Mädchen im Hause ihres Vaters mussten sich nicht einschließen, hatte man ihr gesagt. In der Tat hatte sie das früher auch nie getan. Wozu auch? In einem Haus, in dem alle Freunde waren, war das nicht nötig. Selbst als das Schicksal vor einigen Jahren zugeschlagen hatte und ihr die Mutter und den älteren Bruder fast zur gleichen Zeit genommen hatte, war das Haus immer noch freundlich und heimelig gewesen. Vielen Menschen starben an Diphtherie. Sie hatten getrauert, dann hatten Vater und Tochter ihr Leben weitergelebt. Trotz allem waren sie immer eine Familie gewesen, die sich in Liebe zugetan war.

Doch was waren sie jetzt?

Sie hatte ihren Vater tagelang nicht gesehen. Gesprochen hatte sie mit ihm seit Wochen nicht. Seit man verfügt hatte, dass sie ihre Mahlzeiten wie ein Kind in ihrem Schulzimmer einnehmen musste und nicht mehr mit den Erwachsenen dinieren durfte, hatte sie ihn kaum noch getroffen. Er war sehr beschäftigt, das wusste sie. Jede Menge wichtiger Gelehrter kamen zum Dîner und blieben für lange Diskussionen. Künstler kamen auch manchmal, allerdings nur zu den Jours fixes, den Salon-Treffen, die Lucilla ins Leben gerufen hatte. Manche kannte Catrin vom Sehen. Andere waren ihr gänzlich fremd. Vorgestellt wurden ihr die Herren nicht, denn die Welt der Erwachsenen war ihr entglitten, existierte wie in einer anderen Realität, und dabei bereiteten sich andere Mädchen ihres Alters schon auf eine Heirat vor.

Es gab kein Entkommen. Selbst wenn sie weglief – und sie hatte keine Vorstellung, wie das zu bewerkstelligen gewesen wäre – wüsste sie nicht, wohin sie sich wenden sollte. Alle Erwachsenen, die sie kannte, waren Freunde ihres Vaters und würden sie korrekterweise wieder nach Hause bringen. Abgesehen von einem Skandal würde sie damit gar nichts bewirken.

Geld hatte sie auch nicht, sie war nicht volljährig. Niemand würde ihr eine anständige Stellung anbieten. Wenn sie ihr Vaterhaus ohne Geld, ohne Ziel und ohne Verbindungen verließ, würde sie untergehen. Fürchterliche Dinge geschahen angeblich jungen Mädchen, die keinen Schutz genossen. Die Frage war, waren diese Dinge schlimmer als das, was sie im Moment zu ertragen hatte? Sie wusste es nicht, aber vermutlich schon.

Catrin vergrub ihr Gesicht in ihrem Kissen und versuchte zu weinen, doch ihre verwirrten Gefühle ließen nicht einmal das zu. Zuflucht in Tränen zu suchen war etwas für Kinder, und sie wollte keins mehr sein. Ein dumpfer Schmerz in ihr zeigte an, dass alles falsch war, nicht so, wie sie es wollte. Es war nicht mehr ihre Welt. Wie konnte sich ihr Leben so ändern, ohne dass ihr Vater etwas bemerkte? Sie begriff es nicht.

Sie hörte die Türglocke. Wieder Besucher. Fast jeden Abend kamen sie jetzt, saßen bei ihrem Vater, diskutierten eifrig und manchmal so hitzig, dass ihre Stimmen im ganzen Haus zu hören waren. Ihre überschäumende Art schien durch die Wände zu dringen, ihre strahlende Brillanz war beinahe fühlbar. Klare Gedanken spannen sich zu einem Netz von Ideen, fast konnte sie es sehen, ein funkelndes Gespinst von Genialität. Lucilla würde bei ihnen sein und sie würde lächeln. Catrin würde wieder in ihrem Zimmer ausharren, das verstoßene Kind, das vor der Welt versteckt wurde und das niemand vermisste.

Nach einiger Zeit zwang sie sich, sich wieder vor ihren Spiegel zu setzen. Ihr Gesicht war verquollen. Tränen hatten doch noch den Weg über ihre Wangen gefunden. Sie spülte sich die Augen sorgfältig mit kaltem Wasser aus. Ihre Laune hatte ihr Gesicht nicht verändert. Sie war immer noch hübsch und jung. Dieselbe Catrin, die noch vor einem Jahr im gleichen Zimmer mit ihrem Vater und seinen Freunden gesessen und den Diskussionen über Philosophie und Kunst gelauscht hatte, ohne dass jemand sie fortgeschickt hatte, weil sie etwa zu jung oder zu unreif war. Die Herren hatten sie immer gemocht. Manchmal hatten sie sie freundlich ein bisschen verkohlt, wenn ein Kommentar von ihr vielleicht einmal allzu unschuldig gewesen war. Aber die meisten waren nett gewesen. Ein bisschen altbacken und verknöchert vielleicht, aber nie zynisch oder gemein.

Vielleicht musste sie dafür sorgen, ihnen wieder unter die Augen zu kommen. Vielleicht würden sie ihren Vater bitten, dass sie dabei sein durfte, wenn sie sie sahen? Vielleicht wäre es ihm schlichtweg zu peinlich, das abzulehnen.

Sie machte sich sorgfältig zurecht, ließ alle Spuren von Tränen verschwinden. Sie probierte ein Lächeln. Es war nicht ausnehmend überzeugend, doch es würde reichen. Sie war hübsch genug für ein paar alte Professoren und Gelehrte, die von jungen Mädchen ohnehin nicht viel verstanden. Es war nur schade, dass sie nicht ein wenig ... fülliger war an den richtigen Stellen. Sie war in letzter Zeit zu dem Schluss gekommen, dass das Maß, in dem eine junge Frau ernst genommen wurde, direkt proportional zu der Größe ihrer Brüste sein musste.

Sie öffnete ihr Kleid und schob zwei Taschentücher an eine strategisch günstige Stelle. Dann noch zwei. Gleich fühlte sie sich sicherer. Schade, dass sie so kein ausgeschnittenes Kleid tragen konnte. Aber schließlich besaß sie auch keines. Kinder trugen so etwas nicht, und bevor man nicht in die Gesellschaft eingeführt worden war, war man offiziell ein Kind. Ein dummes, unwichtiges Kind. Das von Hexen faselte und heulte, wenn man es schalt.

Sie würde sich zur Eingangshalle hinunterschleichen und dort die Gäste begrüßen, nur um zu zeigen, dass es sie noch gab, dass sie immer noch zu diesem Haushalt gehörte.

Vorsichtig öffnete sie ihre Zimmertür und spähte hinaus. Niemand war zu sehen. Sie schlich auf den Korridor. Wenn sie es bis in die Empfangshalle schaffte, ohne dass sie jemand aufhielt, konnte es sein, dass die ankommenden Gäste sie erkannten. Von der Dienerschaft würde sie sich diesmal nicht aufhalten lassen. Warum sollte sie? Es waren auch ihre Diener.

Das Parkett knarrte, als sie vorsichtig auf Zehenspitzen zur Vordertreppe schlich. Ihr Zimmer lag unter dem Dach, im zweiten Stock. Sie stieg die Treppen vorsichtig hinunter, hielt den Kopf gesenkt, damit man sie von unten nicht kommen sah. Im ersten Stock vor der letzten Treppe hielt sie inne. Das Herz schlug ihr bis in den Hals.

Dies war auch ihr Haus. Sie hatte dasselbe Recht hier zu sein wie ihr Vater und ihre Stiefmutter, und sie tat nichts Schlimmes. Dennoch überkam sie eine fast überwältigende Angst, eine Frucht, die sie verkrampfte, sie lähmte und sie zittern ließ. Am liebsten hätte sie sich deshalb selbst getreten, denn sie wusste, dass es keinen vernünftigen Grund dafür gab. Wie konnte einem der Mut nur so vollständig abhanden kommen? Wo war ihrer geblieben?

Dann hörte sie den Klang kaum wahrnehmbarer Schritte, die gleich um die Ecke kommen würden. Miss Colpin? Wenn die Lehrerin einherschritt, hörte man meistens nur das Wispern ihres Kleides, so leise und gesittet waren ihre Bewegungen.

Catrin erstarrte, als hätte man sie in Eis getaucht. Sie konnte sich nicht bewegen, und eine jüngere Version ihrer selbst schien ihr Denken zu übernehmen. Sie hatte ihr Zimmer ohne Erlaubnis verlassen. Sie hatte sich ihrer Lehrerin widersetzt. Sie war nicht, wo sie sein sollte. Ihr Herzschlag schien laut von den Wänden widerzuhallen. Sie fand es plötzlich schwer zu atmen und versuchte mit aller Kraft, ihre Panik in den Griff zu bekommen. Es war ihr gutes Recht, anderer Meinung zu sein als ihre Lehrerin. Sie war schließlich fast erwachsen, und man hatte ihr das Klavier gestohlen. Sie musste sich keine Sorgen machen. Wovor sollte sie sich fürchten?

Die leisen Schritte hatten sie fast erreicht, und Catrin stand immer noch vor Angst erstarrt an der Treppe. Eine Gestalt kam um die Ecke. Sie merkte, wie die Welt um sie herum auf einmal fleckig und dunkel wurde. Ihre Knie knickten ein und sie sank in eine übermächtige Dunkelheit hinab, die aus ihrer eigenen Seelenfurcht geboren schien.

Starke Arme fingen sie auf.

Sie brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass diese Arme weder ihrer Stiefmutter noch ihrer Gouvernante gehörten, sondern einem Mann. Er hielt sie fest, fühlte sich warm und sicher an.

„Hoppla“, sagte er, „geht es Ihnen gut, Fräulein?“

Zuerst sah sie nur ein zärtliches, wunderbares Lächeln. Er half ihr, sich auf den Stufen niederzusetzen, und sie versuchte, die schwindelige Dunkelheit zu bekämpfen, die sie immer noch gefangen hielt. Eine warme Hand fasste nach ihrem Handgelenk und fühlte ihren Puls.

„Soll ich jemanden holen, der Ihnen hilft?“ Er hatte eine warme, nette Stimme, ziemlich tief und angenehm klangvoll.

„Nein!“, platzte sie heraus. „Nein danke, meine ich.“

Sie merkte, dass er seinen anderen Arm immer noch schützend um sie gelegt hatte, und neue Panik stieg in ihr hoch, als ihr klar wurde, dass es weitere Unbill bedeuten würde, wenn man sie in dieser Position fand. Sie sah seitlich hoch in sein Gesicht. Zuerst dachte sie, er wäre alt, denn sein halblanges Haar war schlohweiß. Der zweite Eindruck strafte den ersten Lügen, denn sein Gesicht wirkte jung, die Augenbrauen waren dunkel und leicht nach oben geschwungen, seine Augen schimmerndes Grau. Sie blickte in diese Augen, und dann schloss sie ihren Mund mit einem plötzlichen Schnappen.

Er lächelte immer noch. Was für einen perfekten Mund er hatte! Seine Hand hatte ihren Puls losgelassen und hielt dafür nun die ihre, in einer sanften, beruhigenden Geste.

Catrin lief dunkelrot an. Sie hatte in ihrem Leben noch keinen Mann gesehen, der so gut aussah, und es war völlig egal, dass er weißes Haar hatte.

„Geht es Ihnen besser, mein Fräulein?“, fragte er höflich.

Die grauen Augen schienen fast riesig in seinem Gesicht. Es war irgendwie schwierig, sich nicht darin zu verlieren. Sie versuchte, sich aus dem grauen Blick zu winden. Ganz deutlich spürte sie seine Haut auf der ihren. Dies war mehr als formelles Händeschütteln. Es war beinahe eine Liebkosung.

„Vielen Dank. Mir geht es gut“, murmelte sie und errötete wieder. „Ich weiß gar nicht, was mir da geschehen ist … Ich wollte nur hinuntergehen und unsere Gäste begrüßen.“

Er lächelte und entblößte dabei eine Reihe absolut ebenmäßiger Zähne.

„Dann guten Abend. Ich bin einer dieser Gäste.“

Mit einem Mal stand er vor ihr und sah ihr in die Augen.

„Bitte erlauben Sie, dass ich mich vorstelle.“ Er verbeugte sich pflichtgerecht. „Lord Edmond St. John Bartholomew Roth-Crateley. Ich habe die Ehre, heute Abend Gast Professor Lybrattes zu sein. Sind Sie seine Tochter?“

Sie nickte und versuchte, sich zu erheben, aber er drückte sie sanft nieder.

„Vorsicht, meine süße Maid in Not“, sagte er, und seine Augen blitzten. „Sie sollten ganz langsam machen.“

Sie lächelte zurück.

„Vielen Dank, Mylord. Sie sind sehr nett. Aber es geht schon wieder.“

Sein Antwortlächeln verschlug ihr beinahe den Atem.

„Das freut mich. Soll ich Sie nach unten begleiten? Ich glaube, Ihre Stiefmutter begrüßt dort gerade die Gäste.“

Catrin unterdrückte ein Schaudern.

„Nein danke“, gab sie zur Antwort und versuchte krampfhaft, nicht den Eindruck zu erwecken, dass sie die neue Gattin ihres Vaters mit jeder Faser ihres Seins hasste. Nur Kinder würden so etwas einem völlig Fremden anvertrauen. So wie nur Kinder ihre Stiefmutter und ihre Lehrerin als Hexen bezeichnen würden. Sie war kein Kind. Er durfte sie nicht für ein Kind halten. Sie war eine junge Dame, und sie wollte, hoffte, sehnte sich danach, von ihm auch als solche wahrgenommen zu werden. Irgendwie war es wichtig, und es war eine ausgezeichnete Idee gewesen, die Taschentücher dorthin zu stecken, wo sie nun saßen. Catrin atmete tief ein, streckte dabei die Brüste ein wenig vor und merkte dann, dass sie auch wieder würde ausatmen müssen. Was machte sie da nur?

Ihre Stiefmutter und Miss Colpin durften nicht herausfinden, was soeben geschehen war. Nicht, dass sie sich wirklich schlecht benommen hätte. Sie hatte nichts Unbotmäßiges getan. Fast bedauerte sie das. Es war irgendwie schwierig, zu Atem zu kommen. Sie verbat sich, allzu deutlich zu schnüffeln. Er schien einen Duft an sich zu haben. Sommernacht. Er duftete wie eine Sommernacht. Man würde in den üppigen Gärten lustwandeln, unter dem klaren Sternenhimmel, und würde sich auf einem moosweichen Lager neben einer Silberquelle niederlegen. Die Nacht würde ihnen über die Haut wehen, und dann …

Was um Himmels willen dachte sie da? Graue Augen waren überall, füllten ihr Blickfeld aus.

„Ich denke, ich ziehe mich besser in mein Zimmer zurück und erhole mich … von … meinem Sturz. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Mylord.“ Das klang kühl und perfekt. Gott sei Dank.

Er half ihr auf. Sein Griff war sicher, stark aber nicht Besitz ergreifend. Besonders groß war er nicht, stellte sie fest. Nur wenig größer als sie selbst. Seine schlanke Gestalt wirkte jung und athletisch, seine Bewegungen waren elegant und geschmeidig.

Er nahm ihre rechte Hand in die seine, beugte sich formvollendet darüber. Wo ihre Hände sich berührten, konnte sie erneut die sternenklare Sommernacht auf ihrer Haut fühlen.

„Ich freue mich, dass ich behilflich sein konnte, Fräulein Lybratte“, sagte er. Dann sah er ihr wieder in die Augen, und sie hatte das Gefühl, in seinem Blick zu ertrinken. Er war stark und zuverlässig, jemand auf den man sich stützen konnte, jemand, der einem helfen konnte, lauernde Schatten zu verjagen. Er fürchtete sich gewiss nicht vor Schatten.

Sie nahm ihre ganze Konzentration zusammen, um ihn nicht abermals zu berühren.

„Ich geselle mich jetzt wohl besser zu den anderen Gästen“, sagte er und wandte sich zum Gehen.

„Mylord …“ Sie hielt ihn zurück. „Bitte seien Sie so nett und sagen Sie meiner … der Gattin meines Vaters nicht, dass sie mich getroffen haben!“

Er schenkte ihr ein verschmitztes Grinsen. Die Augen funkelten. Diese Augen …

„Ist sie so streng?“

Catrin lief rot an und fand keine Worte.

„Dann bleibt es unser Geheimnis, mein Fräulein. Glauben Sie mir, meine süße, topasäugige Schönheit, ich habe absolut keinen Grund, Ihrer Mutter irgendetwas über unser Zusammentreffen zu erzählen.“

Er lächelte, und sie lächelte zurück, ehe sie es noch merkte. Sie fühlte sich so sehr zu ihm hingezogen, dass sie sich beinahe mit Gewalt daran hindern musste, ihm nicht zu folgen. Er wandte sich der Treppe zu und lief beinahe lautlos nach unten. Dann hielt er noch einmal inne, blickte zu ihr zurück und schien keinesfalls erstaunt, dass sie noch immer dort stand und ihm hinterhersah. Sie selbst hätte sich am liebsten geohrfeigt vor lauter Peinlichkeit.

„Wie ist Ihr Name, schöne Maid?“, fragte er und verneigte sich temperamentvoll in einer altmodischen Ehrbezeigung.

„Catrin.“

„Ich werde Sie wiedersehen, schöne Catrin“, versprach er, und seine Augen lächelten. „Ich denke, ich muss Ihren Vater wirklich häufiger besuchen. Sehr viel häufiger.“

Sie nickte, wusste aber nicht genau, was sie darauf zur Antwort geben sollte. Es war ein Kompliment gewesen. Tatsächlich war es sogar etwas mehr als nur ein Kompliment gewesen. Sehr viel mehr. Ihr Herz schlug stürmisch.

Jetzt hatte sie immerhin einen Grund, nicht davonzulaufen. Er würde nun häufiger kommen, hatte er gesagt, und sie würde immer da sein.