Kapitel 27

McMullen las den Absatz noch einmal.

„Drude“, stand da, „die, weiblich. Phänomen hauptsächlich in ländlichen Gegenden vermeldet, jedoch nie zur Gänze erforscht. (Vermutlich ein Märchen.) Unterschiedliche europäische Kulturen verzeichnen unterschiedliche Charakteristika. Manche sehen hier eine Abwandlung des Vampirmythos, ein Wesen, das sich von der menschlichen Essenz an sich ernährt anstatt von menschlichem Blut. Andere Beschreibungen gehen von einem Geistwesen oder Dämon aus, der einen Menschen befällt und diesen wiederum gefährlich für andere macht. Jungfrauen sollen ganz besonders geeignete Gefäße für einen Drudengeist sein. Ist eine solche erst einmal besessen, so sucht das Mädchen sich mitten in der Nacht einen Mann, besteigt dessen Körper und saugt ihm entweder die Kraft, die Seele oder den Atem aus. Darüber, was den Opfern tatsächlich ausgesaugt wird, variieren die Berichte vielfach.“ McMullen grinste und las weiter. „Eine Jungfrau, die man verdächtigt, von einer Drude besessen zu sein, kann durch gelehrte Austreibung geheilt werden – oder durch Entjungferung. Berichte über das tatsächliche Fangen oder Festsetzen des Geistwesens selbst gibt es nicht. Innerhalb des gesammelten Wissens über die Fey ist dem Drudenmythos nur wenig Wahrheitsgehalt zuzurechnen. Es handelt sich nur um eine Legende, die letztlich nicht mehr ist als eine Ausrede von skrupellosen Männern, junge Mädchen anzugreifen. Faktisch sind keine Todesfälle durch Drudeneinfluss archiviert oder nachzuweisen. Allerdings sterben genügend Menschen plötzlich nächtens im Schlaf, ohne dass ein logischer Grund angegeben werden kann.“

Arme Mädchen, dachte Ian. Sie fielen einem populären Mythos zum Opfer. Mythen wurden von der Geschichtsforschung kaum beachtet, außer in den Logen. Die Gebrüder Grimm hatten begonnen, Märchen und örtlichen Aberglauben zu sammeln, doch mehr war es eben nicht. Alles, was nur durch mündliche Überlieferung weitergegeben wurde, veränderte sich über die Zeit. Erzählungen wandelten sich von Erzähler zu Erzähler, wurden übertrieben oder so abgeändert, dass sie dem einen oder anderen Zwecke dienten.

Er nahm einen weiteren Folianten zur Hand und suchte nach besseren Erklärungen. „Drude“, stand da. „Feyon-Kreatur, die Christenseelen jagt. Aussehen unbekannt. Häufigkeit unbekannt. Keine zuverlässigen Quellen bekannt. Da es keinerlei Beweise für die tatsächliche Existenz dieser Kreaturen gibt, sind auch keine Gegenmittel bekannt.“

Die Existenz war wohl nicht mehr die Frage. Es existierte, sah aus wie eine Spinne und saugte Menschen das Leben aus. Außerdem war es ein Feyon, und deshalb war es ihm vermutlich einerlei, ob das Opfer ein Christ, ein Moslem oder ein Jude war oder einen altägyptischen Hundegott anbetete. Die Sí zeigten sich weitgehend unbeeindruckt von menschlichen Religionen und fanden sie ebenso dogmatisch wie langweilig.

Er nahm ein weiteres Buch.

„Drude“, las er. „Geistwesen, dem nachgesagt wird, es könne eine menschliche Seele übernehmen oder einen Menschen besessen machen. Solche Phänomene sind in den meisten Religionen bekannt. In der jüdischen Mythologie zum Beispiel kennt man den Dybbuk, einen körperlosen menschlichen Geist, der gezwungen ist, unruhig umherzuwandern, bis er den Körper eines lebenden Menschen übernehmen kann. Dieser Aberglaube ist mit dem Konzept der Seelenwanderung eng verknüpft.“

Auch hier kein Hinweis auf eine Riesenspinne. McMullen war ziemlich sicher, dass sein Freund nicht von einem menschlichen Geist heimgesucht worden war, der etwa für ein sündiges Leben büßen musste. Ganz bestimmt war die Erscheinung allerdings auch keine kleine Jungfrau gewesen.

Also schlug er unter „Jungfrau“ nach.

„Jungfrau“, las er. „Weibliches Wesen, das keine Kenntnisse fleischlicher Art hat. Der Legende zufolge durchleben Jungfrauen in der Altersspanne zwischen Kindheit und Erwachsenwerden bisweilen eine Phase erhöhter arkaner Energie. Ob es sich bei diesem Aberglauben um beweisbare Fakten handelt, ist allerdings zweifelhaft. Immerhin jedoch scheint die Anzahl der Hexerei angeklagter unverheirateter Frauen höher als die verheirateter. Da Hexenjagden sich jedoch ausschließlich auf Aberglauben gründen und nicht auf beweisbare Fakten, ist dies noch kein Beweis für die erhöhten Magiewerte bei Jungfrauen oder unerfahrenen Jünglingen. In den arkanen Wissenschaften werden junge Akolythen zum Zölibat angehalten, um ihre Konzentration in die rechten Bahnen zu lenken und ihre magischen Fähigkeiten besser zu fokussieren.“

Da war’s also. Er lebte zölibatär für etwas, was sich nicht im Mindesten beweisen ließ. Graf Arpad hatte sich über seine Züchtigkeit lustig gemacht. Doch er hatte mehr über Druden herausfinden wollen und über das, was sie mit jungen Mädchen machten. Das Mädchen, das Treynstern um Hilfe gebeten hatte und dann in der Nacht verschwunden war, mochte ein solches Opfer einer Drude sein. Nur wie, und warum? Wenn man von einem Geist besessen wurde, so jagte dieser einen doch nicht nächtens durch die Straßen einer Großstadt. Oder zumindest glaubte McMullen das nicht. Zurück zu Buch Nummer zwei.

„Jungfrau“, erklärte es, „Person ohne geschlechtliche Erfahrung. Ein Zusammenhang zwischen geschlechtlicher Unberührtheit und dem hohen Arkangrad, der ihr gemeinhin zugeordnet wird, ist nicht beweisbar. Weibliche Hexenzirkel, so heißt es, ziehen es vor, ihre Mitglieder schon früh zu initiieren und zu trainieren. Ob dies allerdings mit dem Grad an arkaner Energie zu tun hat oder mit dem Fakt, dass jüngere Gemüter leichter formbar sind, ist unklar. Da weibliches Zaubertalent jedoch grundsätzlich in den Bereich Aberglauben fällt, während männliche arkane Studien zu einer geordneten Wissenschaft gezählt werden müssen, sind Schlussfolgerungen auf diesem Gebiet nur bedingt möglich, da sie sich auf reines Hörensagen beschränken. Es muss Personen des weiblichen Geschlechts dringend davon abgeraten werden, sich mit dem Arkanen zu befassen, denn weder haben sie die Charakterstärke, noch verfügen sie über die entsprechende Integrität des Geistes, auf diesem Gebiet tätig zu werden, ohne Schaden anzurichten.“

Er besah sich das Buch noch einmal. So alt sah es gar nicht aus. Seine Mutter kam ihm in den Sinn, die es an Charakterstärke mit jedem königlichen Richter aufnehmen konnte und deren Integrität vermutlich so manchen noch so pflichtbewussten Bischof in den Schatten gestellt hätte. Eine Augenbraue wanderte zweifelnd nach oben. Vielleicht würde sich das dritte Buch als weniger vorurteilsbehaftet herausstellen.

„Jungfrau“, stand da zu lesen, „junge Frau ohne jede sexuelle Erfahrung. Physisch zu erkennen an unversehrtem Hymen, einer Membran, die die jungfräuliche Vagina verschließt.“

„Glauben Sie wirklich, dass Studien zu den Einzelheiten eines Jungfernhäutchens uns nachhaltig bei der Bewältigung unseres derzeitigen Problems helfen werden?“, fragte eine sardonische Stimme neben McMullens Ohr, und sein Magen hüpfte vor Schreck in seine Kehle. Fast ließ er das Buch fallen. Er sah auf und errötete bis zu den Haarwurzeln.

„Nein, Professor Valerios. Ich habe nur gerade etwas …“

„Das sehe ich, junger Mann. Ihre Beschäftigung mit weiblichen Körperöffnungen zu dieser kritischen Zeit gereicht Ihnen nicht zur Ehre. Ihr Geist scheint mir heute allzu wirr zu sein und recht wenig Nützliches zu Tage zu fördern.“ Gift troff von der Stimme.

„Es tut mir leid, Herr Professor. Ich dachte …“

Ian hielt inne, da ihm keine plausible Erklärung für sein Abweichen von seinen eigentlichen Forschungen einfiel. Furcht kroch in ihm hoch.

„Nun?“, fragte der Meister.

„Also …“ Dunkle Augen spießten Ian beinahe auf, und er bekämpfte wacker seine steigende Panik. Ehrlich musste er sein, wenigstens so weit wie möglich. Nicht sehr weit also. „Sehen Sie, ein Freund von mir ist letzte Nacht überfallen worden …“

„Von … einer Jungfrau?“

„Nein, natürlich nicht. Er hat nur einem jungen Mädchen geholfen, das spät in der Nacht auf der Straße angegriffen wurde …“

„Ein junges Mädchen, das spät in der Nacht noch auf der Straße ist, wird vermutlich keine Jungfrau gewesen sein. Hat er sie aus ihrer Bedrängnis errettet?“

„Ja. Obgleich … so genau wissen wir das nicht. Sie ist davongelaufen, und er hat sie nicht mehr finden können.“

„Wem ist sie davongelaufen?“

„Ihrem Verfolger. Mein Freund hat ihn … gestellt. Als der Kampf vorüber war, war sie weg.“

„Kluges Mädchen. Aber – das können Sie mir bedenkenlos glauben – sicher keine Jungfrau. Sie sollten ihrem Freund raten, sich nicht in die Kämpfe einer Straßendirne mit ihrem Maquereau – oder ihren Kunden – einzumischen. Für Sie geziemt es sich außerdem nicht, sich mit solchen Dingen zu beschäftigen, während wir so viel drängendere Probleme haben. Ich weiß, dass die Fey dafür bekannt sind, ein besonders intensives Verhältnis zu Dingen der körperlichen Liebe zu pflegen. Aber ich hatte doch gehofft, dass zumindest dieser besondere Aspekt ihrer Art sich nicht bei Ihnen manifestiert. Energielinien heißt das Thema. Über sie brauchen wir Information, wenn ich Sie daran erinnern darf. Nicht Jungfernhäutchen.“

„Ja, Herr Professor. Es tut mir leid.“

Der Spanier ging einige Schritte weiter, dann wandte er sich noch einmal um, blickte tief in Ians Augen, der gerade schon einen Seufzer der Erleichterung auf den Lippen gehabt hatte und nun schier daran zu ersticken drohte.

„Was ist los, Mr. McMullen? Sie strahlen eine Aura von Panik aus, die ich übertrieben finde als Reaktion darauf, beim Spazierenlesen über weibliche Geschlechtsteile erwischt worden zu sein.“

Ian unterdrückte ein Schaudern. Es wurde gefährlich.

„Gar nichts ist los mit mir, Professor Valerios. Mein Wohnungsgenosse kam gestern Nacht verletzt nach Hause. Ich habe nicht besonders viel geschlafen.“

„So, so. Hat er denn was aus seiner Begegnung gelernt?“

„Ich denke, er hat gestern Nacht viele neue Dinge gelernt.“ Das stimmte, war keinesfalls eine Lüge.

„Gut. Wie steht es mit Ihnen? Was haben Sie daraus gelernt?“

„Ich habe doch eben nur nachschlagen wollen …“

„Ich habe gesehen, was Sie nachgeschlagen haben. McMullen, wir empfehlen das Zölibat mit einigem Nachdruck. Aber wir lassen unsere Akolythen nicht schwören, es nicht zu brechen. Meister des Arkanen müssen alle Aspekte des Lebens kennen, um ihre Bildung zu vervollkommnen. Doch es wird Ihrer Konzen-tration nicht förderlich sein, wenn Sie Einzelheiten zu weiblichen Körperteilen nachlesen. Ihr Geist, junger Mann, soll zu einem feingeschliffenen Präzisionswerkzeug für die Wissenschaft werden, eine Waffe der Macht. Jungfräulichkeit hat viele unterschiedliche Aspekte. Wenn wir die Zeit hätten, würde ich Sie ein Referat darüber schreiben lassen, was die unterschiedlichen Legenden und Mythen zu diesem besonderen physischen Zustand zu sagen haben – und über Initiationsriten und ihre angeblich arkane Wirkung. Aber wir haben eben keine Zeit für vergnügliche Umwege. Das muss warten. Energielinien, McMullen, prüfen Sie die Berichte über Energielinien.“

„Ja, Herr Professor.“ Er blickte zu Boden, konnte Valerios bohrendem Blick nicht standhalten.

Der Professor wandte sich ab, und Ian ließ sich erleichtert in seinen Stuhl zurücksinken. Er nahm sein Buch wieder auf. Energielinien. Keine Jungfrauen. Außerdem keine Druden oder Dybbuks oder Vampire. Ganz besonders keine Vampire. Am besten gar nicht daran denken.

Die Erinnerung an große Anthrazitaugen berührte ihn, Augen, die in seine versanken und ihm den Tod mit der gleichen charmanten Leichtigkeit versprachen, wie sie auch andere Gefühle hervorgerufen hatten.

Eine Schweißperle lief Ian über die Schläfe, dann die Wange hinunter und erreichte schließlich sein Kinn. Der Tag hatte noch kaum begonnen, und er verlor schon den Kampf um seine innere Fassung.

„McMullen!“

Er schrak zusammen und ließ sein Buch fallen, das daraufhin aufklappte und just wieder die Stelle, in der es um Jungfrauen ging, preisgab. Ehe er noch reagieren konnte, hatte sich der Großmeister gebückt und das Buch mit einem süffisanten Lächeln aufgehoben.

„Fleißig?“, fragte er.

„Exzellenz! Ich …“

Urqhart winkte ab.

„Haben Sie mit Ihrem Wohnungsgenossen gesprochen?“

Oh Gott. Jetzt fragte er ihn nach Thorolf. Gleich würde Ians Herz aufhören zu schlagen. Oder doch nicht? Würde er es schaffen, die Antworten so zu formulieren, dass es ungefährlich war?

„Worüber?“

Urqhart sah ihn erstaunt an.

„Über diese Soireen.“

„Oh, die.“ Die Erleichterung ließ ihn fast aufseufzen. „Ja, Großmeister. Wir haben darüber geredet. Er ist heute wieder eingeladen. Er hat mir gesagt, dass er mir alles darüber erzählen wird, was ich wissen will. Doch er glaubt nicht wirklich an die Existenz des Arkanen und weiß natürlich auch nicht, worauf er genau achten soll … Ich habe ihm ja nicht gut detaillierte Auskunft geben können …“

„Sie glauben also nicht, dass er etwas von Nutzen herausfinden wird?“

„Eigentlich nicht.“

„Gestern haben Sie das Gegenteil geglaubt.“

Seit dem Vortag war eine Menge geschehen. Jungfrauen rannten durch nächtliche Straßen, Riesenspinnen saugten an Seelen, Vampire hielten einen in einer allzu nahen Umarmung. Daran durfte er nicht denken. Er durfte nicht einmal einen halben Gedanken daran verschwenden.

„Exzellenz … ich weiß nicht …“

„Sie sagten, er wäre ein junger Mann von großem Weitblick. So großem Weitblick, dass er aus der Phantasie heraus Menschen malen kann, die er noch nie getroffen hat – nur nach einer Beschreibung. Das waren Ihre eigenen Worte.“

„Großmeister …“

„Wollte er Ihnen nicht helfen?“

„Doch. Er ist letzte Nacht auf dem Heimweg vom Tombosi … in einen Kampf geraten. Es ging ihm nicht besonders gut heute Morgen.“

„Dann ist er wohl ein sehr ... tollkühner oder unbedachter junger Mann? Ich hatte Sie so verstanden, dass Sie ihn für zuverlässig halten.“

„Ich halte ihn nach wie vor für zuverlässig. Er hat eingegriffen, um einem Mädchen zu helfen.“

„Ah. Ein Held, und Sie bewundern ihn dafür.“

„Er ist ein bewundernswerter Mensch, Großmeister.“

„Was ist mit Ihnen? Hätten Sie sich auch in eine Rauferei gestürzt, um einem Mädchen zu helfen?“

„Ich denke schon.“

„So einen Kampf hätten Sie wahrscheinlich verloren.“

„Ja. Das stimmt gewiss.“ Jeder hätte einen solchen Kampf verloren. Sogar der Großmeister selbst.

„Wenn Ihnen das klar ist, dann rate ich Ihnen, Ihre Prioritäten genau abzuwägen. Sie sind ein zu wertvolles Mitglied dieser Loge, um sich bei einer Straßenrauferei umbringen zu lassen.“

„Danke.“

McMullen fühlte, wie ihm der Schweiß innen am Hemd den Rücken hinunterlief. Dies war der erste Tag vom Rest seines Lebens. Von nun an mochte jede Frage und jede Antwort zu seinem Tode führen. Er musste aufhören, über seinen Freund zu reden. Er musste aufhören, über ihn zu berichten. Am besten hörte er auf, überhaupt an ihn zu denken. Er musste lernen, seine Erinnerungen zu zügeln.

„Wer hat Ihnen einen Zauberbann auferlegt?“

Der Schock über die Frage durchschnitt ihn wie eine Klinge. Er musste antworten. Er musste die Wahrheit sagen. Doch er bekam keine Luft. Seine Lungen brannten vor Panik. Seine Stimme versagte, als versperre ein gigantischer Stein seine Luftröhre. Er versuchte zu schlucken, und erstickte beinahe daran. Sein Herz schlug doppelt so schnell. Waren das die ersten Zeichen des nahenden Todes? Oder nur die Angst davor?

Nicht die Wahrheit zu sagen war keine Option. Doch wenn er sie sagte, würde er sterben.

Er rang nach Luft, wobei ihm schmerzhaft bewusst wurde, dass er seinen Großmeister mit offenem Mund und glubschenden Augen anstarrte.

Der Mann lächelte aufmunternd und tappte dann mit dem Finger auf das offene Buch.

„Mädchen können einen gerade so gefangennehmen wie ein Zauberbann, nicht wahr?“

Ian schluckte, brachte keine Antwort heraus.

„Lassen Sie mich raten, McMullen. Ihr Freund war nicht allein, als er gestern in diesen Kampf geriet? Er hatte Hilfe?“

„Ja.“ Ein scharfer Schmerz durchfuhr Ians Brust, und er unterdrückte einen Aufschrei.

„Das Mädchen war außerdem wirklich hübsch?“

„Ich denke schon.“

„Deshalb lesen Sie nach, was man mit jungen, hübschen Mädchen tut?“

Ian verstand nicht. Er suchte im offenen Blick des anderen nach einer Antwort und begriff mit einiger Verzögerung, dass sein Großmeister glaubte, er habe sich verliebt. Er hatte gar nicht Graf Arpad gemeint, sondern Ian selbst, der seinem Freund im Kampf um das Mädchen zur Seite gestanden hatte.

„Großmeister …“

„Sie sind jung, und das wird nicht das letzte hübsche Gesicht gewesen sein, das Sie sehen.“

„Gewiss nicht …“

„Also sortieren Sie Ihre Prioritäten. Die Tatsache, dass Sie ein Landsmann von mir sind und dass Ihr Onkel einer meiner ältesten Freunde ist, verleiht Ihnen keine Sonderrechte. Aber hören Sie auf, sich zu benehmen, als wolle ich Sie kreuzigen.“

„Ja, Großmeister. Es tut mir leid.“

„Ich weiß, wie es ist, wenn man sich verliebt, und Sie zeigen alle Anzeichen davon. Doch Sie sind in keiner Position, sich auf eine Liebschaft welcher Dauer auch immer einzulassen. Also kommen Sie rasch darüber hinweg. Auf der Stelle, wenn’s geht.“

Der Großmeister lächelte aufmunternd und ging weiter. Ians Körper vibrierte geradezu vor Panik. Er stand einen Augenblick reglos da, dann rannte er los, aus der Bibliothek hinaus, den Korridor entlang, die Treppen hinunter, auf den Abort zu, wo er den Riegel hinter sich zuzog.

Seine Knie knickten ein, kaum dass er allein war, und er sank zu Boden. Er versuchte, seine Atmung in den Griff zu bekommen. Energielinien flimmerten vor seinen Augen, bis ihm die Tränen übers Gesicht liefen. Er hielt seine Hand gegen die Brust gepresst, als könne er damit die Rebellion seines Herzens niederkämpfen.

Er würde sich eine neue Wohnung suchen müssen, wenn das die einzige Möglichkeit war, Fragen über Treynstern aus dem Wege zu gehen. Schade. Er mochte ihn – und seinen Vater.

Verdammt. Er mochte Thorolfs Vater sehr. Der Vampir musste ihm dieses Gefühl implantiert haben. Urqhart hatte die Liebe gespürt, doch nicht den Spruch. Sehr geschickt gemacht. Der dunkle Feyon hatte mehr getan, als sein Herz mit einer Notbremse versehen. Er hatte einen Zauber in einem Zauber versteckt, und Ian musste es ausbaden.

Die Erinnerung an die dunklen Augen war das Letzte, das ihm durch den Kopf ging, bevor er das Bewusstsein verlor.