Kapitel 24

Die Welt hatte beängstigende Dimensionen angenommen. Alles war über die Maßen riesig, gigantisch und kolossal. Alle Farben hatten sich verändert zusammen mit dem Rest ihrer Sehfähigkeit. Die absolute Schärfe der Umrisse war mehr als bedenklich. Sie erkannte mehr Details als sie je zuvor hatte erkennen können, und da fast alles, was sie sah, entweder unendlich beängstigend oder einfach nur grässlich und eklig war, sah sie tatsächlich mehr als sie je zu sehen gewünscht hatte.

Catrin sah auf ihre linke Hand und schauderte. Sie streckte die Finger aus, und scharfe Krallen sprangen aus dem wohlverborgenen Nagelbett.

Sie hatte noch nicht herausgefunden, wie man weinte, sonst hätte sie es getan. Sie war völlig durcheinander und vermisste die Möglichkeit, ihr Gesicht in einem Kissen zu vergraben. In ihrem ganzen Leben hatte sie sich noch nie so sehr danach gefühlt, laut zu schluchzen, wie jetzt. Doch sie konnte es nicht tun. Jammern und um Hilfe schreien hatte sie ausprobiert. Jemand hatte daraufhin ein Fenster geöffnet und irgendetwas über ihr ausgeschüttet. Dabei hatte er in den schlimmsten Dialektausdrücken geflucht, sie solle gefälligst mit dem widerlichen Gejaule aufhören.

Sie hätte ihm gern ein, zwei Worte zu seinem Benehmen gesagt, aber sie war damit beschäftigt, sich aus dem Zielgebiet zu winden, um nicht den Guss der wie auch immer gearteten Flüssigkeit abzubekommen. Außerdem mangelte es ihrem Vokabular an Wortfülle.

Die Worte lagen ihr auf den Lippen, doch sie konnte sie nicht aussprechen. Ihre Zunge war verkehrt dafür, und ihr Mund fühlte sich auch falsch an. Zudem hatte sie zu viele nadelscharfe Zähne, die beim Sprechen ziemlich im Weg waren.

Sie versteckte sich im Hinterhof eines Gebäudes in der Innenstadt. Sie kannte das Haus. Es lag in der Neuhauser Straße, nicht allzu weit vom Rathaus entfernt. Fast den ganzen Weg dorthin war sie in der vergangenen Nacht gerannt. Doch nun wusste sie nicht mehr ein noch aus. Sie war vollkommen am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt.

Eines war allerdings sicher: Nach Hause konnte sie nicht.

Ihr Ausbüchsen eine Stunde vor Mitternacht durch ein Fenster des Gesinderaums war ihr gut gelungen. Sie war die gebohnerten Treppen im Haus im Dunkeln hinuntergeschlichen, fast gelähmt vor Angst, erwischt zu werden. Doch weder ihre Eltern noch die Dienerschaft hatte sie an ihrem Fortkommen gehindert, und noch nicht einmal Miss Colpin – das hatte Catrin wirklich erstaunt – war plötzlich aufgetaucht, um nach ihrem Verbleib zu sehen.

Sie erreichte das Fenster, öffnete es. Sie kletterte auf den schma-len Gartenpfad darunter, gab gut acht, das Fenster offenstehen zu lassen, denn schließlich hatte sie vor, in wenigen Minuten den gleichen Weg zurück einzuschlagen.

Denn sie würde keinesfalls mit ihm mitgehen. Sie war sich ganz sicher; das würde sie nicht tun. Sie war nicht so eine, und seine gefühlvolle und überraschende Einladung machte ihr mindestens genauso viel Angst wie sie sie berauschte. Es war so verführerisch sich vorzustellen, wie sie ihm in die Arme sank und ihr Schicksal in seine Hände legte. Er würde sie mit sich nehmen und sie in ein neues Leben führen, eines, in dem sie nicht von allen drangsaliert werden würde. Ein Leben ohne andauernde Demütigung?

Wohl kaum. Wenn sie mit ihm ging, würde sie den Rest ihres Lebens Demütigungen ertragen müssen. Sie würde nie mehr die Möglichkeit haben, in die anständige Gesellschaft zurückzukehren. Sie hatte so gar keine Lust auf eine Karriere als loses Frauenzimmer, und sie wollte auch keine linksseitige Verbindung, die man vielleicht noch mit Mühe als morganatisch bezeichnen konnte, doch vermutlich nicht einmal mehr das.

Wie konnte er ihr so etwas anbieten? Statt eines Rings am Finger einen Schubs in die Gosse. Wie konnte er es wagen? Er musste sich doch im Klaren darüber gewesen sein, dass sie ein solches Angebot ausschlagen musste.

Doch ihre Gründe musste sie ihm erläutern. Mit seinen lächelnden grauen Augen wartete er irgendwo in der Dunkelheit, die Straße runter und um die Ecke, außer Sichtweite. Weit war es nicht. Sie konnte seine Anwesenheit beinahe spüren.

Ganz nah war er und bot ihr eine Fluchtmöglichkeit. Sie stellte es sich vor: eine geschlossene, schwarze Kutsche, die Laternen abgeblendet, vier schwarze, dampfende Rösser warteten ungeduldig. Ein Wagenschlag würde sich öffnen, und er würde ihr hineinhelfen, in den Wagen und in das neue Leben. Er würde ihr die Hand küssen, so wie er es schon einmal getan hatte. Doch diesmal hatte sie keine Handschuhe an, war ohne sie aus dem Haus geklettert. Nicht mal einen Hut trug sie. Sie wollte nicht, dass es so aussähe, als ginge sie tatsächlich fort.

Das tat sie nicht. Nicht mit ihm. Bestimmt nicht.

Sie erreichte das schwarze Gartentor und erstarrte, als es in den Angeln quietschte. Man konnte ein Fenster sich öffnen hören, oben, vielleicht im Schlafzimmer der Eltern?

Ihr Herz gefror, sandte Strahlen eisiger Panik durch ihren Körper. Sie sah nicht hoch, drehte sich nicht danach um, rührte sich nicht einmal, stand nur reglos weiter im Schatten der Hecke. Wer auch immer aus dem Fenster schaute, würde sie so vielleicht nicht sehen. Sie war ein Busch, ein Stück Dunkelheit, ein Teil des Schattens. Jedenfalls kein Mädchen auf dem Wege zu einem heimlichen Treffen. Sie konzentrierte sich darauf, einfach nicht da zu sein.

Dennoch erwartete sie jeden Augenblick einen Schrei. Würden sie nach ihr rufen? Würden sie einen Skandal riskieren dadurch, dass sie hinter ihr her schrien? Oder würden sie einen größeren Skandal riskieren, indem sie still blieben und versuchten sie zurückzuholen, bevor sie noch zu weit gegangen war – nicht dass sie das vorhatte.

Sie wollte nicht erwischt werden. Dass sie gar nicht weglaufen wollte, würde man ihr nicht glauben, wenn ihr einziger Beweis hierfür ein fehlender Hut war. Nicht zu vergessen die Handschuhe. Man würde ihr niemals glauben, dass sie dem Mann nur hatte begreiflich machen wollen, dass sie eben nicht so eine war.

Vielleicht würden sie ja gar nichts über ihn herausfinden. Erzählen würde sie nichts, sonst würde man ihn nur für immer aus dem Haus verbannen. Sie würde ihn nie wiedersehen.

Niemand rief ihr hinterher, kein Licht drang aus den Fenstern. Licht hätte sie gesehen. Konnte es sein, dass ihre Flucht tatsächlich glückte? Sie konnte es kaum glauben. Niemand hielt sie auf.

Ganz langsam drehte sie den Kopf und hob den Blick hoch zum Fenster der Eltern. Einen halben Augenblick lang vermeinte sie dort etwas Rundes, Kopfartiges zu sehen, das sich vom Dunkel abhob. Etwas mochte rötlich silbern glänzen, und schon stellte sie sich in ihrer Phantasie riesige Augen vor, die die Finsternis durchdrangen – doch da war nichts, gar nichts, keine Bewegung, nur schwarze Schatten. Sie hatte sich geirrt.

Sie konnte außerdem nicht ewig reglos verharren. Sie musste weiter, musste um die Ecke rennen und sofort zurückkommen. Den Brief musste sie ihm geben mit den wenigen Worten, die sie einstudiert hatte. Nicht dass sie nicht mit ihm reden wollte, doch sie wollte ihm keine Zeit lassen, sie umzustimmen. Er war ein erfahrener, weltgewandter Mann. Er wusste, wie er es anfangen würde, sie zum Bleiben zu überreden. Auf dem Weg ins Verderben. Die abgedroschene Phrase schoss ihr immer wieder durch den Kopf. Miss Colpin hatte sie wieder und wieder ausgesprochen in der letzten unerfreulichen Unterrichtsstunde. Auf dem Weg.

Es kostete sie unendliche Kraft, sich zu rühren, und so bewegte sie sich nur vorsichtig, auf den Zehenspitzen, hob ihre Krinoline an und schlüpfte durch den schmalen Spalt des offenen Gartentors. Ganz dicht blieb sie an der Hecke und kroch an ihr entlang. Ihr Kleid verhedderte sich, und sie zog daran. Das Geräusch reißenden Stoffs hallte allzu laut durch die Nacht. Jeden Augenblick würde sich nun die Tür hinter ihr öffnen, und ihr Vater oder ihre Stiefmutter, Miss Colpin oder einer der Diener würde ihr nachlaufen, um sie aufzuhalten.

Doch bislang hörte sie nichts als ihre eigenen Schritte. Jetzt kam sie in einem zerrissenen Kleid zu ihm. Aber das machte nichts, er hatte ja gesagt, er würde ihr alles neu kaufen.

Überhaupt war es belanglos, weil sie ja gar nicht mit ihm fortgehen wollte.

Die Straßenecke kam näher, und sie meinte, das ungeduldige Gebaren von Pferden zu hören. Er wartete auf sie.

Sie entsann sich der Drohungen ihrer Stiefmutter. Sie würde die Folgen nicht mögen, hatte Lucilla sie gewarnt, und dass sie keine Vorstellung davon hätte, wie ungemein drastisch sie werden könne, wenn man nicht auf sie hörte. Ihre Ressourcen, sich Strafen auszudenken, auf die sie nicht einmal in ihren Alpträumen käme.

Nur hatte sie die Flucht der Stieftochter nicht einmal bemerkt, und vom Inhalt von Catrins Alpträumen hatte sie auch keine Vorstellung. Zumindest hoffte Catrin das.

Beeilen sollte sie sich, denn sie wollte nicht länger als nur ein paar Minuten ihrer Kammer fernbleiben. Ihre Hand hielt den Brief. „Hochverehrter Lord Edmond“, stand darin. „Ich danke Ihnen für Ihr Angebot, mich in Sicherheit zu bringen und mich aus einem Leben zu retten, das in der Tat nicht so angenehm ist wie es sein könnte. Doch ich will Sie nicht mit meinen Sorgen langweilen. Vielmehr möchte ich Ihnen sagen, dass ich Ihr verlockendes Angebot nicht annehmen kann. Das verstehen Sie sicher. Es tut mir ungeheuer leid, dass ich Ihnen durch mein Fehlverhalten Grund zu der Annahme gegeben habe, ich sei ein Frauenzimmer ohne Moral und ohne Grundsätze. Das war gewiss mein Fehler. Ich hoffe sehr, Sie können mir verzeihen, dass ich Sie so gänzlich unabsichtlich irregeführt habe, was die Einschätzung meines Charakters angeht. Ich trage voll und ganz selbst die Verantwortung dafür. Ich würde mich freuen, wenn mein unakzeptables Benehmen mich Ihnen nicht verleidet hätte. Ich hoffe inständig, dass wir Freunde werden könnten, denn ich sehe Sie als Freund an und würde mich außerordentlich freuen, wenn Sie dies nicht als allzu freche Zumutung empfänden. Ich ersehne nichts so sehr, als die Ehre zu haben, Sie unter reguläreren Umständen wiederzusehen. Sollte mir das versagt bleiben – aus welchen Gründen auch immer – so werde ich doch immer das Andenken an die Mondscheinsonate, die Sie mir gespielt haben, bei mir behalten. Es war das berührendste und schönste Erlebnis meines Lebens. In Freundschaft, Ihre Catrin Lybratte.“

Sie hatte lange über die Formulierung nachgedacht. Ob es ihr gelungen war, all das in den Brief zu packen, was ihr am Herzen lag, da war sie sich nicht sicher. Es hätte so viel zu sagen gegeben. Zum Beispiel, dass sie ihn liebte, dass ihre Seele sich nach ihm sehnte als zöge er sie wie eine Marionette an Fäden zu sich. Auch hatte sie ihm nicht gesagt, wie gerne sie von ihm berührt worden wäre, ihre Hand geküsst bekommen hätte, und wie sie am liebsten in seinen schönen, grauen Augen versinken würde.

Ein Blitz blendete sie und ließ die Welt den Bruchteil eines Augenblicks lang hell erstrahlen. Sie erstarrte, erschrocken und beunruhigt, dass man sie gesehen haben könnte. Sie wartete auf den folgenden Donner und wusste doch instinktiv, dass keiner kommen würde. Der Blitz war waagerecht an ihr vorbeigezischt und hatte eine flammende Narbe in die Wirklichkeit gebrannt. Nicht vom Himmel herunter war er eingeschlagen, sondern hatte sich wie ein Feuerkreis bewegt und ihre Seele angesengt, als er an ihr vorbeizog. Von jenseits der Ecke hörte sie einen Schrei. Schmerz, Ärger, Wut und Frustration. Ihr Blut gefror ihr schier in den Adern, und ein kalter Schauer rieselte ihr über den Rücken.

Das musste sein Schrei gewesen sein. Lord Edmond. Sie war sicher, dass er geschrien hatte. Wie angewurzelt stand sie da und wusste nicht, was sie tun sollte. Im Nachglühen der plötzlichen Helligkeit schien es ihr, als wäre die ganze Welt durchdrungen von allen möglichen grün und weiß schimmernden Linien, die die Nacht durchliefen und durchschnitten wie ein gigantisches Netz. Sie blendeten sie und überlagerten die düstere Wirklichkeit, so dass sie, als es wieder dunkel wurde, geradezu blind war.

Sie sollte nun zu ihm laufen und ihm helfen. Vielleicht war er verletzt. Vielleicht lag er da neben seinem Wagen, verwundet, voller Schmerzen und wartete nur auf die Hilfe eines Samariters, auf sie? Die Szenerie in ihrer Phantasie änderte sich abrupt. Die schwarze Kutsche war in ihren Gedanken nur noch ein rauchender Trümmerhaufen, ihr leidenschaftlicher Retter nur noch eine reglos am Boden liegende Gestalt.

Von wo war der Blitz gekommen? Der Himmel zeigte kein Anzeichen eines nahenden Gewitters. Ganz unschuldig sah er aus. Irgendwo hinter ihr war dieser Blitz aus dem Nichts gefahren. Ihren eigenen Weg, den sie gekommen war und über den sie auch wieder zurückkehren würde, hatte er zurückgelegt. Nur war er weiter gerast, um jene Ecke, die sie immer noch nicht erreicht hatte.

Ihre Füße verweigerten ihr den Dienst. Zurück ins Bett fliehen und sich unter der Decke verbergen wollte sie. Nach Hause kriechen, das Fenster schließen, die Tür verrammeln und den Brief einfach vergessen zusammen mit dem Mann und der Flucht, die er angeboten hatte.

Eine Sekunde zog vorüber, weniger vielleicht, dann sah sie es kommen. Es bog um jene Ecke, die immer noch zwischen ihr und dem Mann lag, der sie vielleicht gerettet hätte. Das gigantische Spinnenwesen bewegte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit auf sie zu. Diesmal war sie selbst es, die schrie. Sie konnte den Hunger der Bestie spüren und wusste, dass sie hinter ihr her war. Lord Edmond zu helfen war nicht mehr möglich.

Sie rannte, bevor ihre Gedanken noch ihr Bewusstsein erreicht hatten. Keine Zeit, die Gartenpforte zu öffnen und zurück zum Fenster zu laufen. Keine Zeit, eine Bank heranzuschieben, um wieder ins Haus zu klettern und das Fenster zu verriegeln. Keine Zeit für irgendetwas, was ihr helfen mochte, nicht für eine Pause oder einen einzigen wohlüberlegten Gedanken, nicht einmal an den Mann, der vielleicht schon tot war oder auch nicht. Sie rannte.

Es war hinter ihr her. Fast meinte sie, die Klauen auf dem Pflaster zu hören, doch der Klang war nur Illusion. Das Ungeheuer bewegte sich so lautlos, wie es alle Spinnen taten.

Ihre weiten Röcke behinderten sie, ebenso die Tatsache, dass sie nur zwei Beine hatte, ihr Verfolger aber acht. Ihr Geist wirbelte bereits vor ungebetenen Bildern darüber, was geschehen würde, wenn das Ungeheuer sie in seinen langen, scharfen Klauen fing. Spinnen woben Kokons um ihre lebende Beute und saugten sie später aus. War es das, was ihr blühte?

Sie rannte weiter und zwang sich, sich nicht umzublicken, um zu sehen, wie nah es schon war. Wenn sie sich umsah, würde sie das kostbare Sekunden kosten. Diese Sekunden hatte sie nicht. Sie wusste auch nicht, wie lange sie so laufen können würde.

Wo war es nur hergekommen? War es Teil des Blitzes gewesen, der an ihr vorbeigeschossen war? Hatte es Lord Edmond umgebracht und jagte sie nun als Nachtisch? War es einfach aus dem Nichts aufgetaucht? Oder war es ihnen gezielt gesandt worden, um die geplante Flucht zu bestrafen? Eine Strafe, auf die sie nicht einmal in ihren Alpträumen selbst käme? Gehörte es zu Lucillas Ressourcen, Monster heraufzubeschwören? Lächerlich.

Ihr Rock verfing sich, und einen Atemzug lang glaubte sie, es hätte sie erreicht. Sie schrie und riss sich los, zwang ihre Beine weiterzulaufen. Sie schlidderte um eine Ecke, stürzte beinahe nieder. Irgendjemand stand in der Dunkelheit. In ihrer ersten Panikreaktion glaubte sie, dass auch diese Kreatur darauf aus war, sie zu erjagen. Doch dann erkannte sie, dass es ein Mann war, kein Ungeheuer, ein hochgewachsener, junger Herr, der neben seinem Fahrrad stand. Er blockierte ihren Fluchtweg.

Einen Augenblick später hielt er sie in den Armen, fühlte sich stark und verlässlich an. Seine Hände hielten sie in einer beschützenden Geste. Konnte er ihr helfen? Er war schließlich ein Mann. Mehr als das. Er war eine Zuflucht.

„Helfen Sie mir!“, rief sie und versuchte, sich noch tiefer in seinen Armen zu verbergen, als hinge ihr Wohl und Wehe davon ab, dass sie sich darin verbergen konnte. Einen Moment nur sah sie sein Gesicht, es schien vertraut und war doch das Gesicht eines völlig Fremden.

„Sie sind in Sicherheit“, sagte er ihr in einer ruhigen, tröstenden Stimme. „Ich werde Sie beschützen. Was ist denn geschehen?“

„Es ist hinter mir her! Es will mich töten. Oh Gott! Bitte!“

„Keine Angst, ich werde ... heilige Maria, Mutter Gottes!“

Der tröstende Klang war plötzlich fort, und sie wusste, dass das Spinnenungeheuer nahte.

Der Mann schob sie hinter sich, und sie lief weiter, versuchte dabei, seinen Worten Glauben zu schenken, seinem Versprechen, dass er es aufhalten würde. Dabei wusste sie, dass er keine Aussicht hatte, es mit dem Biest aufzunehmen. Er würde nur das nächste Opfer sein. Erst Lord Edmond, dann er.

Sie sollte bleiben und ihm helfen. Sie wusste das, vermochte es aber nicht. Furcht trug sie weiter und weiter fort von ihrem Zuhause. Ihre panikschnellen Schritte hallten von den Häuserschluchten wider. Sie rannte durch die Dunkelheit, durch eine Nacht, die von einem Monster beherrscht wurde, das sie auffressen würde, wenn es sie bekam. Eine Nacht, die von unheimlichen Linien durchzogen war, die alles durchdrangen, die sich durch den Äther zogen, den Himmel umspannten, sich um Ecken bogen. Sie liefen in Häuser hinein und durch sie hindurch, und Catrin war sich sicher, dass wo sie auf Menschen trafen, sie diese ebenfalls durchdringen würden. All die schlafenden Männer, Frauen und Kinder in der Stadt. Ein Netz. Ein Spinnennetz vermutlich?

Sie achtete darauf, die Linien nicht zu berühren, wenn sie ihnen nahe kam, doch ihre Vorsicht ließ sie langsam werden. Sie war erschöpft, begann zu stolpern. Sie bekam kaum noch Luft, hatte Seitenstechen. Rennen war keine Fähigkeit, die sie in den letzten Jahren hätte üben können. Junge Damen rannten nicht.

Sie schleppte sich weiter, bis sie kaum noch zu Atem kam. Sie musste sich ausruhen.

Sie hielt an und sah sich um. Wo sie genau war, wusste sie nicht. Irgendwo auf halber Strecke zwischen ihrem Zuhause und der Innenstadt in einer Gasse, in der sie sich keinesfalls aufhalten sollte, schon gar nicht allein bei Nacht. Nicht ohne Begleitung, nicht ohne Hilfe. Hier konnten hinter jeder Ecke Gefahren lauern.

Die nächste Gaslaterne stand auf der Hauptstraße. Catrin lehnte an einem Bretterzaun. Er blockierte das Ende der Straße und machte sie unpassierbar. Sie musste hier raus. Doch der Zaun war zu hoch und sie zu klein, und in einem Krinolinenkleid konnte man nicht über Zäune klettern. Sie musste zurück zur Hauptstraße und von dort aus auf einem anderen Weg nach Hause finden.

Nur, würde sie dem Spinnenwesen wieder über den Weg laufen, wenn sie zurückging? Hatte es den jungen Mann umgebracht, der sie so sicher in den Armen gehalten hatte – wenn auch nur für einen Augenblick? Sein Gesicht stand vor ihrem inneren Auge, und sie versuchte, es zu vergessen. Einen Kämpen hatte sie gehabt, einen Helden, und er war für sie gestorben. Oder konnte er überlebt haben? War es möglich?

Kaum. Im Märchen verlor der strahlende Ritter nicht gegen das Ungeheuer. Doch dies war kein Märchen, sie war in keinem Zauberwald, sondern rannte durch die Hauptstadt ihres Heimatlandes, fort von dem Ritter, der nun statt ihrer gefressen wurde.

Sie schluchzte, und das Geräusch schallte durch die stille Straße. Vielleicht sollte sie einfach irgendwo klopfen und um Hilfe bitten. Doch wer würde schon einer jungen Fremden Asyl gewähren, die sich nachts auf den Straßen herumtrieb?

Sie tat einen Schritt zurück, dann noch einen und noch einen. Zehn. Zwanzig. Fast war sie an der Hauptstraße angekommen. Da kroch eine dunkle Gestalt um die Ecke – auf acht Beinen.

Es hatte sie gefunden! Sie drehte sich um und rannte wieder auf den Zaun zu, obgleich sie wusste, dass ihr Weg dort zu Ende war. Ein kleines Loch befand sich nahe am Boden, doch es war nicht annähernd groß genug für sie. Nicht einmal ein Kind würde da durchkommen. Viel zu schmal. Eine Katze vielleicht, aber kein Mensch. Dieser Ausweg stand ihr nicht zur Verfügung.

Sie stolperte und fiel durch eine der seltsamen Linien, fühlte ein eisiges Rieseln durch ihren Körper gehen, erwartete, daran festzukleben. Doch schon einen Augenblick später war sie wieder frei, und nur ihre Seele tönte noch von der Berührung.

Sie duckte sich. Wand sich durch das Loch im Zaun, fühlte, wie ihre Kleidung am Holz hängen blieb. Schon sprang sie über die nächste Mauer und verschwand durch ein Kellerfenster, während ein frustrierter Schrei durch die Nacht gellte. Sie landete auf einem Kohlenhaufen – mit allen vier Pfoten gleichzeitig.