Kapitel 28

Es war nicht eben ein besonders produktiver Tag an der Akademie gewesen, und von Schwind hatte die eine oder andere Spitze zu Thorolfs mangelndem Enthusiasmus losgelassen. Schließlich hatte Thorolf eine alte Skizze des Mädchens hervorgekramt, eine, die er schon vor zwei Jahren angefertigt hatte, und hatte begonnen, die Umrisse auf Leinwand zu übertragen. Er würde sie malen. Er wollte ein Gemälde von ihr anfertigen, in dem sie noch jung und sehr kindlich aussah. Ein schelmisches Lächeln lag auf ihren Lippen, und ihre großen Augen glitzerten vor Tatendrang. Sicher hatte sie irgendeinen Unsinn im Kopf.

Er platzierte ihren Kopf so, dass sie den Betrachter des Bildes immer direkt ansah. Das Lächeln ihrer Augen würde einem durch den ganzen Raum folgen. Bleistift- oder Kohlezeichnungen hatte er oft genug von ihr erstellt, doch in Öl hatte er sie noch nie gemalt. Trotzdem hatte er keine Zweifel, was die Farbgebung anging. Rotgoldene Ingwerlocken und sehr blasse bräunliche Augen, die eher rund als oval waren. Das war natürlich ein sehr kindlicher Zug. Doch er hatte diese großen Augen selbst gesehen, angefüllt mit Panik und Todesangst.

Er würde sie nie wiedersehen.

Thorolf zweifelte nicht daran, dass die Kreatur ihre Jagd wieder aufgenommen hatte, nachdem sie ihn hatte gehen lassen. Wozu das Biest im Einzelnen fähig war konnte er sich nicht vorstellen, doch seine Geschwindigkeit und Behändigkeit hatte er selbst gesehen, und er war sich sicher, dass es alles finden konnte, was es sich zu finden vornahm. Oder wen.

Ein beängstigender Gedanke. Er würde seinen Vater fragen müssen. Es fiel ihm auf, dass er Graf Arpad nun bereits in Gedanken so nannte, und zum ersten Mal hatte er Grund, ihn wiedersehen zu wollen. Er brauchte Information.

Vielleicht war es dem Mädchen ja gelungen, von der Zeit, die er ihm verschafft hatte, Gebrauch zu machen. Vielleicht hatte sie sich vor dem Monster in Sicherheit bringen können. Vielleicht hatte sie jemand eingelassen. Falls ihr jemand überhaupt geglaubt hatte. Wie würden Menschen darauf reagieren, wenn eine alleinstehende junge Frau mitten in der Nacht an die Tür klopfte und darum bat, sie vor einer Riesenspinne zu verstecken, die hinter ihr her war?

„Kommen Sie mit auf ein Bier?“, fragte Gabriel Max, der unter Piloty studierte, einem weiteren Professor der Akademie. Piloty mochte riesengroße historische Szenen, und seine Studenten waren gemeinhin der Auffassung, dass ihr Professor weit talentierter war als jeder andere, der an der Akademie unterrichtete. Auf jeden Fall war alles, was er malte, größer. Unerreicht groß. Er brauchte fünf Jahre, um ein Bild fertigzustellen, und er konnte nur deshalb in so großem Luxus leben, weil er allerhöchste, königliche Gönner hatte. Er erhielt allerdings auch Zuspruch und Bewunderung aus allen anderen Schichten, die den Heldenmut in seinen Bildern mochten, den Stolz und den Ruhm.

Studenten der verschiedenen Malklassen mischten sich nicht oft – was seinen Grund primär in dem Fakt hatte, dass das Akademiegebäude sie nicht alle unterbringen konnte. Einige Studios waren somit in andere Stadtgebiete ausgelagert worden.

„Lenbach kommt auch mit“, fuhr Max fort. „Haben Sie ihn schon mal getroffen? Er ist interessant.“

„Ich freue mich, ihn kennenzulernen“, gab Thorolf zurück. „Aber heute Abend habe ich eine Einladung, und ich muss mich noch darauf vorbereiten.“ Dass es eine Einladung zu den Lybrattes war, wollte er nicht sagen, denn er wusste, dass Piloty und seine Studenten nicht eingeladen waren. Die Rivalität der unterschiedlichen Schulen war prononciert genug, ohne dass man den Neid noch anheizen musste.

Max feixte.

„Eine Frau?“

„Wo denken Sie hin?“

„Glauben Sie nicht, Sie können mich an der Nase herumführen. Natürlich ist es eine Frau. Ist es Lena? Ich habe gesehen, wie sie Ihnen hinterher schielt. Sie mag junge Künstler, unsere Lena, und ist dabei selbst so – kunstfertig. Ihre Unterhaltung mag eher physischer als verbaler Natur sein, doch der Unterhaltungswert ist gleichbleibend hoch. Sie kann das Beste … aus einem herausholen, ohne dass sie dazu besonders viel sagen müsste.“

Thorolf lächelte und war ganz sicher, dass er sich nicht in die Reihe der Wartenden stellen wollte, die auf eine Unterhaltung mit Lena aus waren.

„Nicht Lena. Trotzdem tut es mir leid, dass ich Ihre freundliche Einladung für dieses Mal ausschlagen muss. Ich komme aber gerne ein anderes Mal mit. Ich nehme nicht an, dass dies die letzte und einzige Möglichkeit ist, an ein gutes Bier in guter Gesellschaft zu kommen?“

Max grinste.

„Nur Ihretwegen werden wir noch einmal zu ähnlichem Behufe zusammenkommen, um dem edlen Gerstensaft die Ehre zu erweisen.“

Thorolf verließ das Gebäude und holte sein Fahrrad. Den Großteil seiner Malausrüstung ließ er einfach im Atelier. Es gab keinen Grund, sie mit herumzuschleppen. Er hatte sich einen zweiten Satz Farbe, Pinsel und Stifte für sein „Wohnzimmer-Atelier“ gekauft, eine Extravaganz, die sich die meisten Kunststudenten nicht leisten konnten. Der Sohn eines begüterten Richters zu sein hatte seine Vorteile.

Thorolf schnitt eine Grimasse.

Er war müde, und eine Last wie ein Berg drückte ihn nieder. Vielleicht sollte er sich ein Schläfchen gönnen, ehe er wieder loszog. Wenigstens eine halbe Stunde. Die Strapazen der letzten Nacht lagen ihm schwer auf Körper und Seele. Beinahe wäre er gestorben.

Ein Traum von ihm war nun tot.

Natürlich war sie nie mehr als ein Traum gewesen. Das Traummädchen, das er wieder und wieder gezeichnet hatte. Dass er sie jemals tatsächlich treffen würde, hatte er nie geglaubt. Nicht einmal einen Namen hatte er ihr gegeben, nur „das Mädchen“. Seine Mutter hatte die Bilder vor Jahren einmal entdeckt.

„Stellst du dir so deine zukünftige Braut vor?“, hatte sie gefragt. Das hatte er verneint. Gewiss nicht. Er mochte reife, üppige Frauen mit großen Brüsten, weiten, gastfreundlichen Hüften und genug Erfahrung, um zu wissen, was zu tun war. Er mochte Frauen, die willig und großzügig waren und dazu aktiv und absolut nicht schüchtern. Doch das konnte man seiner Mutter nicht gut sagen.

Natürlich hatten seine Eroberungen auch die eine oder andere Jungfer eingeschlossen. Nicht viele allerdings. Er hatte immer versucht, Unschuldslämmern aus dem Wege zu gehen, besonders, wenn sie seiner eigenen Gesellschaftsschicht angehörten. Die Gefahr, dass man nach einer Nacht voller Spaß ein solches liebes Wesen zu ehelichen gezwungen war, war allzu groß, und im Gegensatz zu dem, was seine Mutter von ihm dachte, hatte er gelegentlich durchaus seinen Verstand beisammen. Er wollte Spaß und keine Verantwortung. Letztere würde noch früh genug kommen.

Also hatte das Mädchen nie zu den hübschen, zugänglichen jungen Damen gezählt, die er gekannt hatte und denen er näher, ja allzu nah gekommen war. Nicht einmal im Traum hatte er sie zu einer von jenen gemacht. Sie hatte nur eben in seinem Kopf gelebt, brav und sittsam und ohne zu stören, und von dort hatte sie schließlich einen Platz in seinem Herzen gefunden, irgendwo in einer nicht besetzten Ecke. Sie war wie ein kleines Kunstwerk, von dem man sich nicht trennen will, doch nie war sie eine Frau gewesen, die er hätte erobern wollen. Er hatte sie nicht ein einziges Mal nackt gemalt. So enthaltsam war er bei anderen Frauen nicht gewesen, egal ob sie ihm ohne Kleider Modell gesessen hatten oder nicht. Meist hatte er wenigstens einen Akt von ihnen gezeichnet, bisweilen ohne ihr Wissen, ganz aus der Phantasie. Ganz aus der Phantasie hatte er auch das Mädchen gemalt, das in seinen Gedanken wohnte.

Doch letzte Nacht war sie real gewesen. Er spürte noch ihren zitternden Körper, wie er sich klein und zierlich, beinahe zu dünn, an ihn geschmiegt hatte. In der halben Sekunde, in der sie seine Hilfe erbeten hatte, hatte sich seine Beziehung zu dem Bild, das sie war, für immer geändert. Ihr Leben hatte er in seinen Händen gehalten, warmes, junges Leben. Fast war es ihm, als hätte er ihren wilden Herzschlag vernehmen können, ihre Furcht war beinahe physisch zu greifen gewesen. Einen einzigen Augenblick lang war sie Wirklichkeit geworden, hatte ihre Position in seinem Herzen manifestiert, ihre körperliche Existenz an seinem Körper bewiesen, und schon war sie wieder verschwunden. Nichts war geblieben als der Schrecken und das Wissen, dass er sie verloren hatte.

So zu denken war unvernünftig, fast schon wahnwitzig. Doch sein Leben hatte die schmalen Pfade der Vernunft verlassen. Sohn eines Vampirs. Nachkomme eines Spuks. Abendessen eines Monsters.

Seine Mutter hatte etwas Unaussprechliches getan. Seine lächelnde, wohlanständige Mutter hatte sich einem Blut trinkenden Feyon hingegeben, und das nicht nur einmal. Sie hatte ihren Gatten betrogen, um ein unnatürliches Kind zu empfangen, bewusst, gewollt, absichtlich.

Sein Hass gegen sie flammte mit entsetzlicher Plötzlichkeit auf. Sie war schuld. Sie hatte jede Grenze nicht nur des Anstandes, sondern jeder menschlichen Moral übertreten. Er fühlte sich verraten. All die Streitereien und Diskussionen, die er wegen seines allzu freien Betragens und seiner Zügellosigkeit in Sachen Liebschaften mit ihr gehabt hatte, kamen ihm wieder ins Gedächtnis. Wie hatte sie es je wagen können, ihn auch nur zu kritisieren? Er hatte seinen Spaß ausgelebt, das stimmte, aber er hatte immerhin keine ... kein ... selbst dafür fehlten ihm die Worte.

Es machte ihn zornig.

Was er für den dunklen Grafen empfand, wusste er nicht. Vielleicht eine Art entsetzten Abscheus vermischt mit Resten kritischen Unglaubens. Doch auch Dankbarkeit war darunter – ebenso wie Undankbarkeit, denn einem solchen Wesen wollte er bei Gott nichts schulden. Doch eine größere Schuld als die, sein Leben gerettet zu bekommen, gab es nicht. Sein Vater hätte für ihn gegen die Riesenspinne gekämpft. Er sah zumindest nicht so aus, als ständen seine Chancen bei einem solchen Kampf besser als die Thorolfs, doch der äußere Anschein mochte trügen. „Ich würde einen Kampf um das Leben meines eigenen Sohnes nicht verlieren“, hatte er dem Ungeheuer gesagt, und er hatte sich so angehört, als wäre er sich seiner Sache sicher.

Die Reaktion der Spinne hatte zumindest angedeutet, dass auch sie den Ausgang der Schlacht nicht anzweifelte. Vielleicht hatte sie aber auch nur aufgegeben, weil ein Kampf mit einem „Vetter“ allzu viel Zeit in Anspruch genommen hätte. Doch es gab noch Beute in der Nähe zu jagen: das Mädchen.

Thorolf hatte sein Fahrrad erreicht und schob es auf die Neuhauser Straße, die selbst am späten Nachmittag belebt war. Es war ein wunderschöner Frühlingstag. Die Sonne schien noch, ließ die Gebäude in goldenem Licht erstrahlen. Bald brach der Wonnemonat Mai an, der Monat der Liebenden. Vielleicht sollte Thorolf eine Affäre beginnen, um seine Gedanken von den derzeitigen Problemen abzulenken und seinem Körper etwas anderes zu fühlen geben als die Erinnerung an handlange Krallen, die sich in sein Fleisch bohrten.

Gewiss gab es hübsche Mädchen in München. Vermutlich gab es sogar richtig viele.

Er wandte der Akademie den Rücken zu. Früher hatte das Gebäude den Jesuiten gehört, war ein Kloster gewesen. Doch fünfzig Jahren zuvor hatte das bayerische Königreich der katholischen Kirche beinahe alle ihre Güter abgenommen und verstaatlicht, Gebäude und Ländereien.

So tummelten sich in dem eindrucksvollen Gebäude gleich neben der Michaelskirche nun Künstler, deren Lebensstil und Moralauffassung sich von denen der Vorbesitzer nicht grundlegender hätte unterscheiden können. In Österreich, Thorolfs Heimat, wäre so etwas undenkbar gewesen. Die katholische Kirche hatte dort viel zu großen Einfluss. Doch Bayern hatte es Anfang des Jahrhunderts eine Weile mit Napoleon gehalten und erst die Seiten gewechselt, als klar wurde, dass der korsische Usurpator langfristig nicht ganz Europa auf Dauer unterdrücken konnte. Während der napoleonischen Ära hatten sich in Bayern neue Denkweisen etabliert, und die Menschenrechte waren wichtiger geworden als die Kirchenpfründe. Männer wie Montgelas – und ein weiterer Herr Feuerbach – hatten Staat und Gerichtsbarkeit reformiert, eine Verfassung eingeführt, die Kirche in ihrer Macht beschnitten, religiöse Toleranz verfügt und ein Parlament einberufen. Er musste unbedingt den Maler fragen, ob er mit dem vormaligen Strafrechtsreformer verwandt war.

Es half nichts, sich mit Gedanken über Bayerns glorreiche Vergangenheit zu betäuben. Die Erinnerung an die vergangene Nacht bahnte sich dennoch ihren Weg. Ängstliche Topasaugen, die ihn anblickten. „Helfen Sie mir!“

Er hatte versagt.

Er schob das Fahrrad die breite Straße entlang. Sie führte vom Rathaus beim Alten Peter bis zum Karlstor, dem ehemaligen Stadttor, das die alte Ausdehnung der Stadt noch andeutete. Inzwischen war die Stadt allerdings gewachsen, und die Stadtmauer war nur noch romantische Dekoraktion. Modern veranlagte Menschen wollten sie schon lange endgültig abreißen.

Karren, Kutschen und Kaleschen, Menschen mit Handkarren und Verkäufer mit Bauchladen kamen in beiden Richtungen die Straße entlang. Auch Hausfrauen und Dienstboten waren vereinzelt noch unterwegs, auf dem Weg nach Hause vom Viktualienmarkt, der sich auf der anderen Seite des Marienplatzes befand. München war eine geschäftige Stadt. Die örtliche Tracht bestimmte weitgehend das Bild. Doch es gab auch modisch gekleidete Damen und Herren. Droschken fuhren an Thorolf vorbei, auf dem Weg zum Bahnhof.

Seine Tasche hatte er sich seitlich über die Schulter geschlungen. Er hatte sie erstanden, um Skizzen und notwendige Dokumente auf dem Fahrrad transportieren zu können. So besaß der Tornister zwar einen Griff, wichtiger war aber das Lederband, das es ihm erlaubte, die Tasche umgehängt zu tragen und dabei seine Hände frei zu haben.

Er hörte den Aufruhr, ehe er ihn sah. Wildes Gebell, unterbrochen nur durch eine aggressiv fluchende Männerstimme drang aus einem der Hinterhofeingänge zu ihm, der noch ein kleines Stück die Straße hinunter gelegen war. Der Lärm eines Blecheimers, der scheppernd auf Steinboden aufschlug, gellte laut durch die Straße.

Ein riesiger, reißender Hund schoss aus der Einfahrt, schien nur aus Zähnen und Knurren zu bestehen, und rannte direkt auf Thorolf zu. Die plötzliche Attacke eines weiteren schwarzen Monsters, das mit gefletschten Zähnen auf ihn zu stürmte, ließ ihn einen Augenblick lang vor irrationaler Panik erstarren, und so fiel ihm zunächst gar nicht auf, dass der Riesenhund ein ingwerfarbenes Fellbündelchen verfolgte, das panisch davonstob. Genau wie in der Nacht zuvor, ließ Thorolf sein Fahrrad fallen und bereitete sich auf den Zusammenstoß mit dem ungeheuren Köter vor, der es gerade geschafft hatte, um die Ecke der Einfahrt zu biegen, ohne vom eigenen Schwung auf die Straße hinausgetragen zu werden. Ungeschickte Tatzen schlitterten auf dem rutschigen Kopfsteinpflaster, doch das hielt ihn nicht auf.

Das Fellknäuel flog auf Thorolf zu, klein und hilflos. Er fing es auf, bemerkte fast nebenbei, dass er eine kleine Katze hielt, die versuchte, sich in seinem Rock vor dem wilden Verfolger zu verbergen, der sie vermutlich in Stücke reißen würde. Scharfe, kleine Krallen durchdrangen Hemd und Haut. Die furchtsame Kreatur zitterte und versuchte offenbar, ihm in die Rocktasche zu klettern, war aber dafür doch zu groß.

„Moment“, sagte er und ergriff das Kätzchen am Genick, um es aus seiner Kleidung zu ziehen. Kleine Krallen hielten sich verzweifelt fest, und ein panisches „Miau!“ klang so herzzerreißend, dass er den Versuch aufgab und das Tierchen schließlich nur mit einem Arm an sich drückte.

Einen Augenblick später hatte ihn der schwarze Hund erreicht, geifernd, knurrend und zähnefletschend. Das Vieh erhob sich auf die Hinterbeine, und Thorolf trat nach ihm, bevor das beeindruckende Gebiss noch sein Ziel erreichen konnte.

Ein lautes Heulen erklang, und das wilde, durchaus menschliche Gefluche kam näher, denn nun war auch ein ziemlich fetter Mann aus der Toreinfahrt getreten und schwang einen Besen.

„Pfeifen Sie Ihren Hund zurück, Mensch!“, brüllte Thorolf.

„Beißer! Aus!“, schnaufte der Kerl, und Thorolf dachte noch, dass er dem Köter keinen passenderen Namen hätte geben können. Der Hund saß nun direkt vor ihm, nah genug, um ohne große Anstrengung mit einem Biss die niederen Teile seiner Anatomie zu erreichen. Er knurrte leise, und Thorolf hätte am liebsten seine hervorstehenderen Körperteile in sich zurückgezogen, am besten hinter eine Ritterrüstung.

„Tut mir leid, mein Herr“, keuchte der Mann, der wie ein Hausmeister angezogen war. „Da war eine Katze. Widerliche Viecher, Katzen. Stehlen einem das Essen aus der Speisekammer und ...“ Er hielt inne, als er unter Thorolfs Jacke eine Bewegung wahrnahm.

„Oh, Sie haben sie gefangen?“, fragte er. „Sie können sie mir geben. Ich werde sie ertränken.“

Thorolf starrte ihn an.

„Lassen Sie die Katze in Ruhe, guter Mann. Verfügen Sie sich gefälligst mit Ihrem Köter dahin, wo Sie hingehören!“

Der schwitzende, rotgesichtige Kerl sah ihn bestürzt an.

„Sie wollen das Biest behalten?“, fragte er. „Das ist eine Katze! Die Stadt ist voll davon!“

„Katzen sind sehr nützlich. Sie fangen Mäuse“, argumentierte Thorolf, der sich ein wenig dumm vorkam, den Verteidiger des kleinen Fellbündels zu mimen, das sich an seiner Brust versteckte. Jura hatte er studiert, und nun vertrat er eine Katze gegen eine Anklage, die die Todesstrafe zur Folge hatte. Er fragte sich, was ihr Verbrechen gewesen sein mochte. Katze in unglücklichen Umständen zu sein? Oder Katze in einer Speisekammer zu sein?

Der Mann zuckte die Achseln und schnaubte verächtlich.

„Wie Sie meinen“, sagte er. „Behalten Sie sie, wenn Sie unbedingt wollen. Geht mich nichts an. Wahrscheinlich haben Sie das Haus voller Ratten und Mäuse, und wenn ich mir das Vieh so anschaue, wird das auch so bleiben, und eine leere Speisekammer haben Sie bald obendrein!“

Thorolf grinste.

„Das Risiko nehme ich auf mich.“

„Komm, Beißer!“, befahl der Mann, und Köter und Kerl verschwanden im Hof.

Als sie fort waren, zog Thorolf das Fellknäuel unter seiner Jacke hervor.

„So“, sagte er und hielt es mit beiden Händen so, dass die Beinchen nach unten baumelten. „Du räumst also Speisekammern leer? Böse Katze! Mäuse sind dir wohl nicht gut genug?“ Die Katze beobachtete ihn aus riesengroßen Augen, die eher hell bräunlich als grün waren. Ungewöhnlich. „Die Gefahr ist vorbei. Du kannst jetzt deiner Wege ziehen, und ich auch.“

Er setzte das Tier auf dem Boden ab, und es blickte ihn erbarmungswürdig an. Einen Augenblick später versuchte es, an seinen Beinen hochzuklettern, wobei es ihm die Krallen durch die Hosenbeine ins Fleisch hakte.

„Au! Verdammt!“

Eine vorübergehende Dame mittleren Alters starrte ihn an. Er antwortete mit einem reumütigen Lächeln, murmelte eine Entschuldigung und versuchte, den Taschentiger von sich fortzuziehen. Das kleine Wesen wehrte sich, und irgendetwas riss. Wieder hielt er das Tier in beiden Händen und stellte fest, wie verwundbar es sich unter all dem dichten, weichen Fell anfühlte. Eine noch ganz junge Katze, kaum mehr als ein Kätzchen.

„Du bist eine Plage!“, schalt er. „Ich mache mich gerade vollständig zum Idioten, stehe hier mitten auf der belebtesten Straße Münchens und unterhalte mich mit einer Mieze. Ich hätte dich dem Hund überlassen sollen!“

„Miau!“

Das klang fast entrüstet. Die blassen goldbraunen Augen starrten ihn unverwandt an. Eine Pfote streckte sich ihm entgegen und berührte sanft seine Brust.

„Schon gut. Du kannst mitkommen. Aber nur, solange du dich anständig benimmst. Ich habe allerdings keine Ahnung, was unser Hauswirt dazu sagen wird. Wenn er dich nicht im Haus haben will, bist du draußen. Dasselbe trifft auf McMullen zu. Also schön brav sein. Vielleicht kannst du dich ja wirklich nützlich machen, und ein paar Mäuse fangen.“

Die Bewegung der Katze schien Ekel auszudrücken.

„Du willst mich also doch lieber verlassen?“, fragte er.

Der seelenvolle Blick ging ihm direkt ins Herz. Wunderbar. Er hatte eine Katze gerettet. Bei dem Mädchen, auf das es ankam, hatte er versagt. Aber eine gottverdammte Katze hatte er gerettet. Wahrlich ein Held. Ein verdammter Ajax. Ein großer, nutzloser Bastard-Ritter.

Er öffnete seine Tasche und setzte die Katze vorsichtig hinein.

„Du bleibst ganz ruhig da drin, oder du fliegst raus! Hast du verstanden? Und mach ja nicht in die Tasche! Wenn ich seltsame Gerüche feststelle, verspreche ich dir, dass ich dich höchstpersönlich in der Isar versenke. Du wärst weder der erste, noch der letzte Mäusetiger, der alle neun Leben hintereinander in einem gottverdammten Fluss aushaucht.“

Irgendwie sah sie aus, als würde sie ihn verstehen. Sie rollte sich eng in der Tasche zusammen, warf ihm einen weiteren bittenden und vertrauensseligen Blick zu und wehrte sich auch nicht, als er die Tasche schloss.

Er stieg auf und fuhr los. Was für eine blöde Entscheidung. Er hatte überhaupt keine Zeit, sich um ein Haustier zu kümmern, und junge Herren hielten sich keine Katzen. Alte Damen taten das.

Vielleicht würde er das Tier seiner Mutter aufschwatzen. Nur würde er dann mit ihr reden müssen, und er hatte nicht die Absicht, das zu tun. Keinesfalls. Sie hatte ihn zum Bastard gemacht. Sie hatte mit einem blutsaugenden Ungeheuer gebuhlt. Sein Leben lang hatte sie ihn belogen, und sie hatte zudem noch die Dreistigkeit besessen, seinen „unmoralischen Lebenswandel“ zu kritisieren.

Es gab nichts mehr zu sagen, außer dass er alles wusste und sie nicht mehr sehen wollte. Er trat kräftig in die Pedale, setzte seinen Ärger in Geschwindigkeit um. Die letzten vierundzwanzig Stunden waren schlichtweg furchtbar gewesen. Es war viel geschehen. Viel zu viel.

Nun hatte er sich auch noch ein Kätzchen aufgehalst. Dabei gab es in seiner Wohnung überhaupt keine Mäuse. Also konnte es auch nicht nützlich sein. Er konnte nur in Schwierigkeiten mit dem Hauswart oder mit McMullen kommen. Warum hatte er nicht zugelassen, dass der Mann es ertränkte? Warum tat er es nicht noch selbst? Es konnte verdammt noch mal nicht schwierig sein, eine kleine Katze zu ertränken. Jeder konnte das, ein erblich belastetes Halbmonster schon gar. Also. Nicht schwierig. Kein Problem. Einfach unter Wasser halten, bis das Tier aufhörte zu zappeln und zu atmen.

Er überlegte sich, dass er auf dem Heimweg noch kurz beim Milchmann anhalten würde. Das Tierchen war vermutlich hungrig, und Kätzchen mochten doch Milch, oder nicht?