Kapitel 77

Die drei Männer liefen dreimal an dem Gebäude vorbei, ohne es zu finden, bevor sie schließlich merkten, dass sie genau vor ihrem Ziel standen.

„Hier ist es wohl“, sagte Mr. Sutton und schob seinen Zylinder nach hinten, um sich nachdenklich an der Stirn zu kratzen. Er wirkte besorgt.

„Ja“, pflichtete Thorolf bei, der nicht begriff, wie er das große Haus hatte übersehen können, obwohl er dort selbst einige Male Gast gewesen war. In der finsteren Nacht wirkte es ganz anders. So uneinladend.

„Die Hintertür“, schlug Ian trocken vor.

Das Gartentor war unverschlossen, und sie konnten ihr Glück kaum fassen. Ihre Schritte waren nicht eben leise auf dem Kiesweg, doch daneben zu laufen hätte bedeutet, von einem Blumenbeet ins nächste zu hüpfen.

Die Hintertür schien auf sie zu lauern. Anders konnte man es nicht ausdrücken. Fast schien sie lebendig und feindlich gesinnt, auf keinen Fall einladend. Wieder hielten sie einen Moment inne.

„Für Catty!“, verkündete Thorolf wie ein Ritter, der sich in die Schlacht stürzt, und drückte auf die Türklinke. Nichts.

„Abgeschlossen“, bemerkte Ian lakonisch. Sutton trat vor und legte eine Hand ans Holz, strich sanft über das Schloss. Es roch nach Gewitter. Dann öffnete er seine Tasche und holte ein Seil hervor.

„Ein Zauberseil?“, erkundigte sich Thorolf.

„Nein. Nur Hanf.“ Er band ein Ende an die Klinke und trat dann zurück, während er das andere locker in der Hand hielt.

„Treten Sie kräftig dagegen, Treynstern! Sie sind von uns der Größte.“

Thorolf trat zu. Die Tür sprang auf, der Strick spannte sich und verhinderte, dass sie mit Getöse gegen die Wand schlug. Der Adept fing sie, während sie zurückschwang.

„Das ist die Art von Magie, die Sie in Ihrer Loge lernen?“, murmelte Thorolf.

„Nein, ein Trick, den ich von einem Londoner Einbrecher habe. Es gehört zu den Regeln der Loge, alles zu lernen, was einem nützlich sein kann.“

„Bemerkenswert.“

Thorolf betrat das Haus und schwankte. Zwei Paar Arme packten ihn und zogen ihn wieder heraus.

„Langsam!“, warnte Ian.

„Sehen Sie sich das Küchengesinde an!“, mahnte Sutton. „Sie liegen auf der Bank, auf dem Boden und wo immer sie gerade standen.“

„Sind sie tot?“

„Nein“, gab Ian zurück. „Ich spüre, dass sie träumen.“

Sutton und Thorolf musterten ihn zweifelnd.

„Kann ich wirklich. Sie träumen von … unanständigen Dingen. Ziemlich intensiv. Etwas von ihrer Traumsubstanz quillt über. Oder so ähnlich.“

„Sie haben … äh … gewisse … Träume? Jetzt? Hier?“, fragte Thorolf eher interessiert als beunruhigt.

„Ich glaube schon.“

„Woher weißt du das?“

Ian zuckte nur die Achseln.

„Wenn wir jetzt da reingehen“, fuhr Thorolf fort, „fallen wir dann auch um und haben unsittliche Träume? Zusammen mit dem König, der Königin und dem ganzen Hofstaat, den Pferden im Stall, den Hunden im Hof, den Tauben unterm Dach, den Fliegen an der Wand …“

„Schon gut. Wir kennen das Märchen. Kommen Sie her!“, befahl Sutton und zog die beiden jüngeren Männern zu sich, so dass sie mit ihm einen Kreis bildeten. „Wir nehmen uns bei den Händen. Ich werde versuchen, uns so richtig wach und munter zu machen. Das mag funktionieren. Natürlich vielleicht auch nicht. McMullen, konzentrieren Sie sich auf mich. Herr Treynstern, konzentrieren Sie sich bitte auch. Malen Sie einfach in Ihrer Phantasie ein Bild von sich, in dem Sie sehr, sehr wach und aufmerksam sind.“

„Das hilft?“

„Es kann nicht schaden.“

Sie standen da und konzentrierten sich. Ein Summen ging durch Thorolfs Rückgrat, und er versuchte, es zu ignorieren. Er hatte nicht gewusst, dass man Magie körperlich spüren konnte. Tatsächlich hatte er bis vor wenigen Tagen nicht einmal gewusst, dass Magie existierte. Die Welt hatte sich verändert, und er war gestorben.

Als er den Schrei hörte, wartete er nicht auf Anweisungen, sondern stürmte ins Haus. Sein Blick verschwamm einen Augenblick lang, die Welt wurde fahl und neblig, und ein Eindruck von Lust und wilder Leidenschaft formte sich eine Sekunde später in seinen Gedanken. Langes, hellblondes Haar flog im Wind. Eine Frau kniete rittlings auf einem Mann, bewegte sich rhythmisch auf ihm. Sie wirkte konzentriert und fokussiert. Der Mann hatte die hellen Augen halb geschlossen und krallte die Hände in ihren Körper mit der Ekstase des nahenden Höhepunkts. Sein Lächeln wirkte ein wenig einfältig, jedenfalls nicht so akribisch und streng, wie man es von ihm kannte.

Thorolf erkannte die Liebenden und versuchte, das Bild aus seinem Sinn zu schieben. Es war unwahrscheinlich. Undenkbar. Zudem im Moment gänzlich nebensächlich. Doch schon auch spannend und interessant. Es würde ein wirklich gutes Gemälde abgeben. Sittenlos und unmoralisch. Ein Skandal an der Akademie. Doch welche Kraft und Leidenschaft! Das Bild erregte ihn. Er wünschte, er könnte mit dem Blonden die Plätze tauschen, und diese unglaublich schöne Frau in seinen eigenen Händen halten und mit seinem eigenen …

Jemand schüttelte ihn.

„Geh schon weiter. Steh nicht einfach so da!“, drängelte Ian.

„Ich habe gerade etwas gefühlt …“

„Schlag es dir aus dem Sinn. Deswegen sind wir nicht hier. Das ist ein Traum für die Schläfer.“

„Du meinst, es ist nur Phantasie?“

„Darauf würde ich nicht wetten“, murmelte Mr. Sutton. „Konzentrieren Sie sich einfach auf das, weswegen wir hier sind. Ignorieren Sie alles andere. Sich in einem Fey-Traum zu verlieren kann den Rest des Lebens dauern und vielleicht sogar länger.“

Traumgebilde welcher Art auch immer zerstoben mit dem nächsten Schrei. Er stammte von einem Mädchen. Das verzweifelte Jammern sprach von Angst und Schmerz.

Sie taten seiner Catty weh.

Er merkte ganz nebenbei, dass er sie als sein betrachtete. Dann rannte er los.

„Langsam, verdammt“, zischte Sutton hinter ihm. Doch Thorolf ignorierte ihn. Er wusste genau, wo er hinmusste, geradeso als hätte ihm jemand den Weg gewiesen. Der Salon. Dort fand alles statt. Was immer es war.

Er hielt an der Tür an und stürzte fast, als seine Freunde in ihn hineinliefen. Die Szene, die sich ihm eröffnete, war unfassbar und unheimlich. Ein perfekter Kreis aus den üblichen Gästen dominierte den Raum. Sie blickten nach außen, statt nach innen, und das wirkte einigermaßen seltsam. Aus ihren Hinterköpfen floss strahlende Energie in die Mitte des Kreises. Er merkte eher beiläufig, dass er sie sehen konnte, auch wenn sie nicht im normalen Sinn sichtbar war. Fünfzehn Stränge, wie die Speichen eines Rades, flossen hin zu einer Nabe. Diese Nabe brach beinahe sein Herz.

Da kniete sie, nackt, wie er sie gezeichnet hatte, auf dem Teppich. Die Riesenspinne drückte ihre Handgelenke auf den Boden. Energie sammelte sich in ihr wie Wasser in einem Teich. Sie ließ sie schimmern, beinahe durchscheinend aussehen, gleißte um sie herum und durch sie hindurch, sammelte sich in ihrem Kopf und schoss durch starre Augen zur Decke und darüber hinaus. Von oben spürte er wieder jenen Traum, in dem Frau Lybratte und Herr von Orven entschieden zu viel Spaß miteinander hatten und dabei die Energie, die man ihnen zuführte, für irgendetwas Unbegreifliches verwendeten, das mit ihrem Liebesspiel zu tun hatte.

Cattys Rücken war in einem fast unmöglichen Winkel nach hinten gebogen, ihr Kopf lag im Nacken, so dass ihr schmerzverzerrtes Gesicht sich direkt der Decke zuwandte. Sie verbrannte. Nicht wörtlich in Flammen, es gab kein wirkliches Feuer. Doch was and mentaler und physischer Macht durch sie gelenkt wurde, verzehrte sie, während es sie wieder verließ.

Thorolf stürzte der Mitte des Raumes entgegen, um sie wegzuziehen.

„Wenn du die Verbindung unterbrichst, wird sie sterben“, sagte die Spinne. Die Stimme klang eiskalt und ruhig.

„Du bringst sie ohnedies um!“, gab Thorolf zurück.

„Sie hat eine Chance zu überleben. Sie wird tot umfallen, wenn du sie jetzt fortziehst.“

„Ich glaube dir nicht!“

„Habe ich dich je angelogen?“

„Du abscheuliches, ekelhaftes, verabscheuungswürdiges Trugbild einer Kreatur! Du hast Lena getötet. Fast hast du mich umgebracht. Ich erlaube dir nicht, Catty zu töten!“

„Lena habe nicht ich getötet, und dich habe ich nach unserem ersten Zusammentreffen auch nicht angerührt. Das Mädchen ist für eine hohe Aufgabe ausgesucht worden, die du nicht einmal ansatzweise begreifst. Verschwinde!“

Thorolf hatte es nicht vor. Er stellte sich hinter Catty, ohne sie zu berühren. Sie loderte. Wenn er sie fortzog, mochte sie in Sicherheit sein. Möglicherweise waren sie dann alle in Sicherheit.

Doch es mochte auch falsch sein, und er würde sie umbringen. Langsam bewegte er die Hand in ihre Richtung.

„Nicht!“, rief Sutton und stieg ebenfalls in den Kreis. „Tun Sie es nicht. Sie könnte dabei verglühen. Das Vieh könnte recht haben.“

Thorolf sah sich zu Sutton um.

„Was geschieht hier?“

„Er kanalisiert Energie durch sie. Das ist eine bekannte Technik. Man kann theoretisch die mentale Kraft mehrerer Meister des Arkanen durch einen starken Konduktor zu einem großen Werk bündeln. Nur werden diese Leute gegen ihren Willen und ohne ihr Wissen benutzt, und die junge Dame hat nicht die Kenntnisse, die Energie zu fokussieren und gleichzeitig ihre physische Unversehrtheit zu gewährleisten.“

„Sie ist doch keine Meisterin des Arkanen! Dieses verdammte Ungeheuer bringt sie um!“

Die Mandibeln des Spinnenwesens klackten ungehalten. Einen Moment lang dachte Thorolf, es würde ihn angreifen, doch es rührte sich nicht, hielt nur weiter das Mädchen fest in den Klauen und mit seinem Blick. Lediglich der zweite Kopf gestattete sich die Freiheit, sich die unwillkommenen Eindringlinge zu besehen.

„Wozu dient dies?“, fragte Sutton, als erwartete er eine ehrliche Antwort. Ein angestrengtes Chitinklacken war alles, was er zur Antwort bekam.

„Es unterstützt den Beginn eines Lebens“, ertönte eine dunkle Stimme von der Tür. „Es bündelt die Genialität menschlichen Denkens in einer Winzigkeit an Erbgut, das diesem Leben als Teil inhärent sein wird.“

Thorolf sah nicht, wer da gesprochen hatte, doch er erkannte die Stimme sofort.

Dann erblickte er seinen Vater, der auf allen vieren in den Raum kroch. Das dunkle Haar hing ihm in die Augen. Sein Gesicht war bleich wie das eines Toten.

„Menschliche Geistesgröße“, erklärte er und versuchte, sich am Türrahmen hochzuziehen. Seine Knie gaben nach, und der Vampir wäre gestürzt, wenn nicht Ian auf ihn zugesprungen wäre und ihn gestützt hätte. Wie Liebende standen sie umschlungen da. Der Vampir lehnte sich schwer auf Ian, der, da er um einiges kleiner war, Probleme hatte, den größeren Mann zu halten. „Das ist es, was die Macht will. So viel Aufwand für eine so simple Sache, die Vereinigung zweier Wesen, um Leben zu erschaffen. Sie ...“ Er deutete mit dem Daumen hoch gegen die Decke. „... kann die Eigenschaften des Kindes, das sie empfängt, lenken und formen, doch sie muss auch ein wenig Menschenerbe nehmen, da sie sich mit einem Menschen paart. Also macht sie aus der Not eine Tugend. Sie hat hier die klügsten Köpfe zusammengebracht und webt deren Genialität mit in den Vorgang. Genau dafür braucht sie einen Ankerpunkt, durch den dies kanalisiert wird.“

„Das ist Catty? Weshalb? Warum sie?“

„Arkanes Talent. Ich habe das Mädchen schon einmal als Katze gesehen.“

„Na und? Die haben sie verwandelt, und jetzt bringen sie sie um. Wir müssen das verhindern! Ich muss es verhindern. Sag mir wie!“ Thorolfs Stimme war unverhältnismäßig laut.

Blasse Hände krallten sich in Ians Schultern. Der dunkle Feyon versuchte, ohne die Hilfe des Akolythen zu stehen. Er schwankte.

„Hilf mir in den Kreis!“, befahl er.

„Misch dich nicht ein!“, fauchte Esmalyn. Hellgraue Augenpaare trafen einen müden Anthrazitblick.

„Sie wird verbrennen, noch ehe das hier zu Ende ist, du Narr!“, zischte der Vampir zurück. „Das Spiel, das die beiden dort oben spielen, ist keine Minutensache. Die Dame will ihren Spaß, und der Gentleman hat eine Menge aufzuholen – außerdem frische Kraft, es zu tun.“

„Er ist ein Invalide!“, rief Thorolf, der wusste, auf wen Arpad anspielte. Er hatte es ja gesehen.

„Er hat mein Stehvermögen. Hier und jetzt bin ich der Invalide. Ian, hilf mir in den Kreis!“

Langsam manövrierte der Akolyth den größeren Mann und sich über die Barriere gefasster Händen.

Thorolf sah ihn panisch an.

„Graf Arpad! Vater! Lass sie nicht sterben! Tu etwas! Sie ist … alles, was ich will.“

Arpad nickte.

„Dein Traummädchen?“, fragte er unnötigerweise.

„Sie muss überleben!“

„Sie hat nicht genug Kraft, und wenn du sie jetzt aus der Verbindung ziehst, stirbt sie. Wenn du allerdings wartest, bis die beiden Liebenden da oben endlich befriedigt sind, wird sie jenseits jeder Rettung sein. Sie braucht mehr Kraft.“

„Kann ich ihr die geben?“

Der Vampir sah ihn abschätzend an.

„Du würdest den Tod in Kauf nehmen auf die sehr dünne Chance hin, sie zu retten?“

„Jederzeit!“

Die Spinne kicherte.

„Lieber Himmel! Was für ein Held! Kaum sieht er irgendwo eine Dame in Nöten, schon ist er bereit, sie zu retten. Findest du nicht, dass du dieses Klischee nun breit genug getreten hast? Aber bitte, Halbblutbastard, bring deine Lebenskraft mit ein, wenn du kannst. Dein arkanes Talent ist so gering, beinahe nicht existent, aber wer weiß, vielleicht kannst du ja etwas bewirken? Versuch es doch! Komm zu mir, mein Kleiner, komm nur. Komm …“