Kapitel 51
Sutton hatte das sekundenlange Aufwallen arkaner Energie deutlich gespürt. Er wusste nicht, woher es kam, und nicht, was es bewirkte. Er war sich jedoch annähernd sicher, dass es mit dem Feyon zu tun hatte, dem er gefolgt war. Er hatte gefühlt, wie die Energielinien um ihn mit einem Mal aufloderten, und bekam es ganz plötzlich mit der Angst zu tun.
Dies war, was seine Brüder gesehen hatte, ehe sie ins Koma fielen. Eine kurze Sekunde voller Blitze, die alles durchdrangen, einen schier aufspießten, in Zickzacklinien auf das eigene Leben zuschossen. Wenn er hier und jetzt zusammenbrach, in einer dunklen Seitengasse, dann waren seine Überlebenschancen keinen Pfifferling wert.
Doch keine der Linien berührte ihn, und so blieb er im Schatten stehen, reglos, versteinert fast in der plötzlichen Erkenntnis drohender Lebensgefahr. Hätte er einen Schritt weiter links gestanden, so hätte er den Pfad der Linien genau durchschnitten.
Das magische Unwetter zog an ihm vorbei. Glück. Unglaubliches Glück. Freilich glaubten Logenmagier nicht an Zufälle. Alles in der Welt hatte seinen Zweck und seinen zugewiesenen Platz unterm Firmament.
Er holte tief Luft und presste sich noch weiter in die Schatten, war sich nicht mehr sicher, ob das, was er tat, besonders schlau war.
Er hatte vorgehabt, Ians Wohnungsgenossen zu besuchen, um weitere Stücke des Puzzles zu begreifen. Er zweifelte nicht daran, dass er sich als Kunstliebhaber würde ausgeben können, um den anderen jungen Mann in ein Gespräch zu verwickeln, in dem er dann all seine magische Kunstfertigkeit einsetzen konnte, um ihn unbemerkt auszufragen. Subtilität war eine Eigenschaft, die alle Logen ihren Mitgliedern einbläuten, und wenngleich Mr. Sutton auch bewusst war, dass ihm seine Brüder gerade in dieser Disziplin nicht allzu viel Talent zuschrieben, konnte er doch subtil sein, wenn es erforderlich war. Er fand es eben nur nicht allzu oft erforderlich.
Herauszufinden, wo Ian wohnte, war einfach gewesen, und er hatte sich nur kurz vergewissert, dass der Primaner noch mit dem Studium seiner Bücher beschäftigt war, und war dann losgezogen.
Als er das moderne, dreigeschossige Mietshaus fand, trat ein Mann heraus. Sein weißes Haar stand im auffallenden Gegensatz zu seinen jugendlichen Bewegungen, doch es war die Ausstrahlung geballter, gezügelter Macht, die ihn so bemerkenswert – in jedem Sinn des Wortes – machte.
Sich mit dem Arkanen zu befassen war immer ein Spiel mit der Macht. Vom Akolythen zum Meister arbeiteten alle Arorianer darauf hin, diese Macht zu erfassen und zu begreifen. Sie existierte als Struktur, die nicht nur die Welt durchdrang, sondern sie letztlich bestimmte. Man fand sie in Menschen, in der Natur, in den Energielinien und in den Fey.
Dieser Feyon hatte mehr als genug davon. Sutton spürte seine Machtaura, ohne eine Messung vornehmen zu müssen. Um zu ergründen, ob der Mann tatsächlich ein Sí war, würde es genauer Untersuchungen bedürfen; dazu hatte Sutton im Moment weder Zeit noch Muße. Doch er zweifelte keinen Augenblick daran. Wenn man wusste, dass es sie gab, und wenn man die Kräfte der Welt so lesen konnte, wie andere Menschen zwischen den Zeilen verstiegener Poesie, dann war klar, was er war. Das Kribbeln im Rückgrat sagte es einem, und Sutton hatte gelernt, dies besondere Kribbeln ernst zu nehmen, denn es war verlässlicher als das, was das bloße Auge wahrnahm.
„Sieh mit dem Herzen! Augen lügen“, hatte sein erster Lehrer des Arkanen ihm beigebracht. Sutton verließ sich auf vieles, was der Mann ihm einst gesagt hatte. Schamane war er gewesen, Medizinmann der eingeborenen Bevölkerung, dort wo er aufgewachsen war. Ausgerechnet er als Pfarrerssohn hatte den Einstieg in eine andere als die christliche Weltsicht erfahren. Es war eine subtile Rache für die Missionsschule, die Indianerkindern beibrachte, untertänige Weiße zu sein. Der Pfarrerssohn lernte eifrig alles über die Kräfte der Natur. Das Curriculum war dabei von den Lehrinhalten seines Vaters so weit entfernt, wie es nur eben sein konnte. Seine Begabung auf diesem Gebiet machte ihn für das Wissen ganz besonders geeignet. Letztlich allerdings wusste er, dass er niemals in die Fußstapfen des Schamanen würde treten können, so hatte er denn eine ähnliche Karriere in seiner eigenen Kultur gesucht.
Es hatte ihn nicht sonderlich erstaunt, einen Feyon aus Ians Haus kommen zu sehen. Wenn er den Jungen richtig verstanden hatte, war ein Feyon sein Freund, und nachdem sie nicht eben in Mengen auftraten, musste das dieser Freund sein. Aus unerfindlichen Gründen hatte er eine Sonnenbrille erwartet, doch der Mann hatte durchaus kein Problem damit, ohne dunkle Gläser durch die Spätnachmittagssonne zu schreiten. Also war er vielleicht doch kein Vampir, oder Ians Kenntnisse, was die Blutsauger anging, waren eher theoretischer Natur. Oder aber er wusste es nicht besser.
Sutton hatte sich einen Vampir nicht wie den attraktiven – und so gar nicht unheimlichen – jungen Mann vorgestellt, dem er gefolgt war. Ein nächtlicher Jäger hatte finsterer, dämonischer, schauerlicher auszusehen. Doch er war sich bewusst, dass seine Erwartungen von Mythos und mündlicher Überlieferung geprägt waren – weder das eine noch das andere waren zuverlässige Quellen. Letztlich gab es keinen Grund, warum eine Schreckenskreatur nicht wie ein formvollendeter, begüterter Gentleman aussehen sollte, der sich nach der neuesten Mode kleidete. Harmlos auszusehen war nicht gleichbedeutend damit, harmlos zu sein.
Der Mann hatte sich nicht einmal umgedreht, um nachzusehen, ob er verfolgt wurde. Sutton hoffte deshalb, er sei zu in sich gekehrt, um ihn zu bemerken. Zudem hatte sich der Adept große Mühe gegeben, unbemerkt zu bleiben. Ein leichtfüßiger Jäger war er gewesen, immer eingedenk der Tatsache, dass seine Beute über mehr Sinne verfügte als er selbst – und über mehr Macht.
Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass die Energieentladung vielleicht ein offener Angriff gewesen war. Vielleicht beobachtete der Weißhaarige ihn, stand hinter der Gardine und manipulierte Energielinien in ein tödliches Netz – einen Augenblick lang nur – in der Hoffnung, dass der ärgerliche Verfolger daran kleben blieb wie eine Fliege im Spinnennetz.
Er schauderte. Seine Phantasie griff das plötzliche Bild auf, und er rang mit allen Praktiken, die er dafür gelernt hatte, um innere Ruhe. Angst war immer der größte aller möglichen Feinde. Er sammelte seine Gedanken und versuchte sie in eine logische Reihenfolge zu bringen.
Ians Freund war ein Feyon von außergewöhnlicher Macht. Seine Aura war nicht eben sympathisch, obgleich sich Sutton sicher war, dass der Mann es verstand, sich beliebt zu machen, wenn er nur wollte. Das konnten sie alle. Gleisnerei bedeutete eben dies. Menschliche Arkanwissenschaften verliefen in anderen Bahnen.
Der Sí lebte in einem guten Viertel, in einer hochklassigen Bleibe. Der Energiestoß schien von dem Haus gekommen zu sein. Ergo: Ians Feyon und das Phänomen waren verknüpft.
Ian hatte gelogen – oder die Wahrheit gesagt, soweit er sie kannte.
Oder alle Schlussfolgerungen, die Sutton gezogen hatte, waren falsch. Es mochte einen anderen Grund geben. Oder es war ein anderer Feyon. Doch es gab so wenige. Zwei, die bei der gleichen Adresse auftauchten, waren mehr als unwahrscheinlich. Oder aber der Energiestoß mochte gar nichts mit dem Mann zu tun haben.
Auch nicht wahrscheinlicher.
Er musste Ian nochmals befragen. Das brachte den Jungen freilich in Lebensgefahr. War es ein Vorteil für die Loge, wenn Ian starb? Vermutlich nicht. Doch selbst wenn, so wollte Sutton nicht der Vollstrecker sein.
Er wusste, was er tun sollte. Er sollte zu Großmeister Urqhart gehen und sofort Bericht erstatten. Gemeinsam würden sie vielleicht an das Wissen des Jungen gelangen können – ganz vorsichtig. Bewusstes oder unbewusstes Wissen – wie auch immer.
Wenn er nach den Regeln vorging, war das die vorgeschriebene Vorgehensweise. Ganz ohne Frage. Eine Abweichung von dieser Regel war nahezu undenkbar. Die Brüder würden eine Phalanx gegen die Machtkünste des Feyons bilden. Gemeinsam mochten sie sehr wohl in der Lage sein, dessen Unterschlupf zu erstürmen.
Doch was dann? Ein schriftlicher Bericht über etwas, das sie gar nicht verstanden? Noch mehr Mythos und Spekulation, die man in die Halbwahrheiten des Logenarchivs flocht? Die Zeit mochte alle Wunden heilen, doch sie schaffte keine Unwahrheiten ab. Was von Anfang an nicht stimmte, wurde mit den Jahren nur noch weniger fassbar.
Regeln garantierten allerdings ein gewisses Maß an Sicherheit gegen den Feyon und gegen etwaigen Ärger in der Loge. Er war noch kein Meister. Es stand ihm nicht zu, so weitreichende Entscheidungen allein zu fällen. Ein Forum der erfahrensten Meister wäre mit Sicherheit besser geeignet, mit dem unheimlichen Füllhorn dunkler Machenschaften umzugehen, auf das er hier jäh gestoßen war.
Er wandte sich vom Haus des Feyon ab, und begann die Gasse entlangzuspazieren, in der er sich versteckt hatte. Eine halbe Stunde flottes Marschieren würde ihn wieder zur Loge bringen. Ians Wohnung war noch näher. Vielleicht war der Junge inzwischen zu Hause. Vielleicht würde ein Gespräch mit dem Malerfreund mehr Licht in das Ganze bringen. Der musste den Feyon doch kennen. Er hatte ihn vor der Drude bewahrt. Vermutlich. Ian hatte nur Gehörtes nacherzählt. Vielleicht war alles ganz anders gewesen. Vielleicht war nichts von alledem richtig.
Jedenfalls war es einfacher, den angehenden Maler zu fragen als Ian. Ohne entsprechende arkane Fähigkeiten war er ein offenes Buch für einen entsprechend ausgebildeten Mann.
Das hieße allerdings, die Sache in unverantwortlicher Weise selbst in die Hand zu nehmen. Wenn er etwas falsch machte und starb, würden seine Entdeckungen verborgen bleiben. Wenn er etwas falsch machte und denjenigen, der hinter alldem steckte, somit warnte, mochte er Kräfte entfesseln, die er nicht zu bekämpfen im Stande war und er würde allein damit fertig werden müssen – einerlei was auf ihn zukam: Energieentladungen, das Anschwellen der Linien, Druden, Männer mit oder ohne Sonnenbrillen.
Er hielt inne und sah sich um. Es war inzwischen dunkel geworden, und die eine Gaslaterne in seiner Nähe erhellte die Hintergasse, durch die er lief, nur unvollkommen. Er hatte nicht achtgegeben, wo er hinging, war zu sehr in Gedanken gewesen, und tatsächlich hatte er sich auch nicht so sehr verlaufen, als vielmehr sein Ziel aus den Augen verloren. Im Kreis war er gegangen, und nun stand er hinter dem Haus, das er beobachtet hatte, und blickte auf den Hintereingang. Glück oder Zufall? Logenbrüder glaubten nicht an Zufälle.
Er näherte sich dem Haus vorsichtig. Wie sollte er es nun angehen? Die besonnenste Art und Weise war immer noch, seine Brüder zu informieren.
Doch Besonnenheit und Disziplin waren nicht seine hervorstechendsten Eigenschaften.
Seine Schritte trugen ihn zum Hintereingang. Er grübelte, ob seine Intelligenz ihn nicht doch noch zum Umkehren auffordern würde, bevor er etwas sehr Dummes tat. Er jagte gefährliches Wild, pirschte in den Schatten summender Finsternis. Wenn er vernünftig war, würde er jetzt umkehren.
Doch hier war er – und sicher nicht ohne Grund. Er musste sich ein Bild verschaffen.
Er schlich sich durch die Hintertür ins Gebäude und fand sich in einem Treppenhaus wieder. Er zog an der Kette, und eine hübsche Gaslampe erleuchtete den Ort. Der Boden war wie geleckt sauber, und es roch nach Wachs. Der untere Teil der Wand war pastellfarben gestrichen und ein zartes, grünes Blumenmuster wand sich auf halber Höhe nach oben. Ein teures Haus, Wohnungen für betuchte Junggesellen. Unter dem Dach gab es sicher Gesindezimmer. Dies war nicht das Umfeld, in dem man einen Mythos als Mieter erwarten würde. Modern und komfortabel. Suttons eigene Wohnung war nicht schlecht, doch dies hier spiegelte weit mehr den Eindruck unaufdringlichen Reichtums wider.
Er stieg zu der Tür hoch, hinter der er den Mann, den er verfolgt hatte, vermutete. Es gab kein Namensschild, nur einen Messingtürklopfer. Sutton lehnte ein Ohr an das Holz und lauschte mit sorgfältig erhöhter Wahrnehmung. Er führte seine Sinne durch das Holz, in die Unterkunft von jemandem, der mit ziemlicher Sicherheit sein Feind war.
Nichts. Kein Geräusch war zu hören, noch nicht einmal mit seinen geschärften Sinnen.
Er trat zurück und entnahm seiner Tasche ein kleines Pendel, hielt die Kette in der linken Hand, wartete darauf, dass der Anhänger sich von selbst in Bewegung setzte. Das tat er denn auch, doch er schwang nicht harmonisch im Kreis. Er streckte sich nur von der Tür fort, hob sich im Radius der Kette, bis diese horizontal ausgestreckt war und so verharrte.
Suttons Nackenhaare hoben sich. Das war ... schlecht.
Er ließ das Pendel wieder in der Tasche verschwinden. Im gleichen Atemzug öffnete sich die Tür.
Ein älterer Mann stand ihm gegenüber, offenbar ein Diener. Er trug eine altmodische Livree und absolut keinen Gesichtsausdruck.
„Kann ich etwas für Sie tun?“, fragte der Mann mit der ungerührten Stimme eines guten Butlers, und Sutton versuchte, ihm in die Augen zu blicken. Es gelang ihm nicht. Der Blick des Mannes ging durch ihn hindurch, als glaubte er etwas zu sehen, das auf der Hinterseite von Suttons Schädel angebracht war.
„Oh … danke … ich wollte nur … ich suche Herrn Schmidt. Er wohnt doch hier, nicht wahr?“
„Nein. Es tut mir leid. Sie irren sich.“
Es lag etwas in dem Blick, das Sutton am liebsten hätte davonlaufen lassen. Nicht dass er gefährlich wirkte, doch er war auch nicht so, wie er sein sollte. Etwas fehlte. Sutton sah sich den Mann mit seinen sorgfältig ausgebildeten Sinnen an. Der Diener war über sechzig, blass, aber nicht krank. Beim ersten Hinsehen schien alles in Ordnung. Der Diener eines Gentlemans. Ganz durchschnittlich.
Aber dieser Blick …
„Dann bitte ich um Vergebung. Ich dachte, hier würde Herr Schmidt wohnen.“
„Nein, mein Herr. Es tut mir leid.“
„Wirklich nicht? Man gab mir eine so ausnehmend gute Wegbeschreibung. Aber ich will nicht weiter stören. Bitte richten Sie Herrn … äh … aus …“
Ein kleiner mentaler Schubs, und der Mann würde den Namen preisgeben. Nur tat er es nicht. Er starrte ihn nur an, als prallte die subtile Manipulation vollständig an ihm ab.
„Dann … gehe ich wohl besser. Verzeihen Sie die Störung.“
„Sehr wohl.“
Die Tür schloss sich. Sutton hielt sich am Rahmen fest. Die gänzliche Geistesleere des Mannes überwältige ihn fast. Sie war eine Beleidigung der menschlichen Rasse. Sie war eine Abscheulichkeit, schlimmer als Sklaverei, schlimmer als der tiefste Kerker. Von einem Augenblick zum nächsten war Sutton klar, was er gesehen hatte.
Wenn er nicht vorsichtiger wurde, würde er genauso enden. Er sollte wahrlich besser achtgeben, und zwar gleich. Weit weg.