Kapitel 41

Asko hasste es, dass man ihm aus der Kutsche helfen musste, doch es ging nicht anders. Die Prozedur war immer gleich. Erst nahm Joseph die Krücken und stellte sie neben die Kutsche, dann hob er seinen Arbeitgeber raus, stellte ihn auf die Füße und hielt ihn so lange, bis Asko beide Krücken sicher gefasst hatte und sein Gewicht auf sie verlagern konnte.

„Danke, Joseph“, sagte er höflich. „Du brauchst nicht zu warten. Frau von Orven braucht dich eventuell für die eine oder andere Sache. Ich werde Professor Lybratte bitten, nach dir zu schicken, wenn wir hier fertig sind. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird.“

Er konzentrierte sich auf den Boden, den Weg in den Vorgarten, den Pfad zum Haupteingang und berechnete in seinem Kopf, wie lange er brauchen würde, bis er dort ankam. Joseph öffnete ihm die Pforte und stand bereit, ihm die Stufe zum Garten hochzuhelfen. Er sagte nichts, war offiziell gar nicht da. Beide Männer ignorierten all die zusätzliche Hilfe, die er gab. Asko kam gern allein zurecht, und wenngleich er ehrlich genug war zuzugeben, dass er allein überhaupt nicht zurechtkam, war es dennoch eine dankenswerte Angelegenheit, manches von dem, was Joseph tat, ignorieren zu können, weil seine Unterstützung so gänzlich unaufdringlich war.

Die Eingangstür öffnete sich, und Lybratte stand im Türrahmen und starrte Asko erwartungsfroh an. Einen Augenblick lang hasste der Invalide ihn dafür. Warum hatte sein Gastgeber nicht warten können, bis er den Vorgarten durchmessen und die beinahe unbezwingbaren drei Treppen erklommen hatte? Nun musste er sich bei seinen Bemühungen beobachten lassen, und jede einzelne Bewegung kam Asko immer langsamer und langsamer und gänzlich würdelos vor. Es war, als würde seine Behinderung dadurch, dass man ihm zusah, noch zweimal so deutlich.

Er zwang sich zu lächeln, und Lybratte winkte und kam ihm die Stufen hinunter entgegen, vermutlich, um ihm zu helfen. Es war eine freundliche Geste, und doch eine unerwünschte. Asko konnte Joseph ignorieren. Doch Lybratte würde er für dessen Unterstützung danken müssen.

Es schien Ewigkeiten zu dauern, den Garten zu bezwingen. Der Kies unter Askos Schuhen war rutschig. Eine zweite Ewigkeit verging, während er sich die Stufen hochkämpfte.

Der Eingangsbereich war mit Zuchtblumen geschmückt, eine teuere Extravaganz, die den großen Reichtum des Hausbesitzers deutlich machte. Bunte Glasarbeiten filterten das hereinscheinende Licht. Ein großer Zierspiegel dominierte den Raum. An ihm steckten Visitenkarten. Ein Diener stand bereit. Er half Asko aus dem Mantel, und es gelang ihm, ihm dabei dieselbe unauffällige Hilfestellung zu geben, die Joseph inzwischen beherrschte. Handschuhe und Zylinder blieben auf dem Seitentischchen, schließlich war dies kein zufälliger Höflichkeitsbesuch.

Während Asko sein Gleichgewicht wiedererlangte und seinen Körper wieder fest auf die Krücken stützte, redete Lybratte unablässig vor sich hin, sprach dabei einmal Asko, einmal den Diener an.

„Wie gut von Ihnen zu kommen, Herr von Orven“, sagte er. „Ich brenne darauf, Ihnen mein kleines Projekt vorzustellen. Meine Gemahlin denkt, es sei noch zu früh. Doch, obgleich sie natürlich eine ganz exzellente Frau ist mit einem ausnehmend scharfen Verstand, kann sie das letztlich nicht beurteilen. Die Angehörigen des zarten Geschlechts sind doch immer etwas zaghaft und vorsichtig, und lieben wir sie nicht genau wegen dieser Eigenschaften, die sie als Frauen auszeichnen? Johann, ich bin für weitere Besucher nicht zu Hause. Bitte informieren Sie Frau Lybratte, dass unser Gast angekommen ist. Wir werden in meinem Arbeitsraum sein.“

Der Diener hielt die Tür in den nächsten Raum auf, und seine Bewegungen waren dabei so maßvoll und langsam, das Asko ihm folgen konnte, ohne sich schwach und behindert zu fühlen. Der Professor war schon vorausgestürmt, und man konnte ihn vom nächsten Zimmer aus reden hören.

„Hier entlang, von Orven, bitte. Mein kleines Heiligtum ist ganz hinten im Haus. Ich brauche viel Ruhe, um an meinem Projekt ungestört arbeiten zu können. Da kann ich mich nicht um Lieferanten und Vormittagsbesucher kümmern oder um meine Tochter …“ Er hielt inne und sah einen Augenblick lang sehr verwirrt aus. „Kennen Sie eigentlich meine Tochter?“, fragte er dann, als hätte er sich gerade wieder an etwas erinnert.

„Ich hatte noch nicht die Ehre“, antwortete Asko und versuchte, nicht außer Atem zu klingen.

„Sie ist bei einer Tante zu Besuch. Ist aber im Moment auch einerlei. Ich habe nur eben gedacht …“ Die Stimme verklang unsicher.

„Aha“, sagte Asko, der nicht wusste, was er sonst sagen sollte. Er wusste, dass Lybratte eine Tochter hatte. Vor vielen Jahren, als Asko noch Mathematik und Ingenieurwesen an der Universität studierte, hatten er und seine Kommilitonen es gemeinsam bedauert, dass die einzige Erbin eines der reichsten Männer Münchens damals noch ein Kind war und nicht im heiratsfähigen Alter. Inzwischen musste sie jedoch schon fast zur Frau gereift sein und war vermutlich eine reich umkämpfte Beute auf dem Heiratsmarkt.

„Hier herein“, erklang die enthusiastische Stimme weit vor ihm. „Es ist natürlich noch nicht ganz fertig, doch ich denke, in der Theorie ist es komplett durchdacht.“

Der graue Haarschopf verschwand in einem Zimmer, dann tauchte er mit einem etwas verschämten Ausdruck auf den begeisterten Zügen wieder in der Türöffnung auf.

„Bitte entschuldigen Sie mein schreckliches Benehmen. Ich lasse mich von der Begeisterung in unentschuldbarer Weise treiben und vergesse ganz meine Manieren.“ Seine Beflissenheit ließ sein Gesicht beinahe jungenhaft aussehen vor Reue, und Asko lächelte.

„Herr Professor, ich verstehe Ihren Eifer. Meine Gattin schimpft mich auch stets dafür, dass ich einen völlig übertriebenen Tatendrang an den Tag lege, wenn ich kurz davor bin, eine neue Entwicklung unter Dach und Fach zu bringen. Ich verstehe Sie ausnehmend gut.“

Er erreichte den älteren Herrn und schenkte ihm ein sorgfältig ausgearbeitetes Lächeln. Es war schwierig zu lächeln, wenn man außer Atem war. Doch Lächeln hatte er eingeübt. Es konnte so viel verbergen – Schmerz, Frustration, Ärger und sogar Schwäche. Letztere hasste er am meisten. Schwäche war schlimmer als Schmerz.

Der Professor strahlte.

„Kommen Sie rein! Willkommen, junger Mann! Nehmen Sie doch bitte Platz!“

Eine Hand machte eine ausladende Geste und wies auf einen Stuhl neben einem großen Arbeitstisch, auf dem irgendwelche sperrigen Gegenstände unter einem weißen Baumwolltuch verborgen lagen. Der Professor machte es spannend.

Asko schleppte sich zum Stuhl und ließ sich nieder. Seine Krücken legte er neben sich ab. Professor Lybratte beugte sich über ihn und sein Gesicht spiegelte einen Ausdruck irgendwo zwischen schlauem Fuchs und übereifrigem Knaben wider. Er war stolz, das konnte Asko sehen, und der ehemalige Soldat verstand das Gefühl. Wissenschaftlicher und technischer Fortschritt waren auch das, was Askos Leben bestimmte. Neues war sowohl spannend als auch neutral, Ideen funktionierten oder sie funktionierten nicht, es hatte nichts mit Gefühlen zu tun, nichts mit dem Versagen in anderen Bereichen des Lebens. Erfolg war hier von absoluter hehrer Reinheit, unberührt von der schwierigen Gratwanderung, die sich aus Liebe und Aufopferung, Selbstverleugnung und Selbstbewusstsein ergab. Erfolg auf diesem Gebiet konnte man ohne Wenn und Aber genießen.

„Ehe ich Ihnen die Maschine zeige, würde ich Sie gerne raten lassen, woran ich arbeite.“

Asko lachte.

„Den Themen nach zu urteilen, die auf den Abendgesellschaften am häufigsten zur Sprache kamen, würde ich schließen, dass Sie sich mit der Messbarkeit absoluter Zeit beschäftigt haben.“

Der Professor nickte.

„Richtig. Doch ich bin noch weiter gegangen. Sehen Sie, wenn man Zeit nicht als lineare Anordnung von Abläufen definiert, sondern als physischen Ort oder Raum, in dem die Gesamtheit von allem, was war und je sein wird, zugänglich ist, dann sind Zeitreisen nur noch einen Schritt entfernt.“

„Einen großen Schritt, würde ich denken, Herr Professor, einen großen, sehr theoretischen Schritt.“

Der Professor fuchtelte heftig mit den Armen.

„Der Schritt ist kleiner, als Sie denken. Sehen Sie, es war meine Frau, die mich auf die Lösung brachte. Sie ist für eine Angehörige des schwachen Geschlechts wirklich ausnehmend analytisch begabt. Wenn alle Frauen so wären, müssten wir uns doch tatsächlich überlegen, sie an die Universitäten zu lassen und uns langsam zurückzuziehen.“

„Ihre Frau hat die Erfindung gemacht?“

Lybratte blickte ungehalten.

„Ich – habe die Erfindung gemacht, doch sie war sehr hilfreich mit ihren Ideen. Ich nehme an, man wird betriebsblind, wenn man sich allzu sehr mit physikalischem Wissen vollstopft. Eine Sache aus der Blickrichtung eines – nennen wir es mal Unbedarften – zu betrachten, kann einem Ideen eröffnen, die ganz und gar außerhalb des Rahmens dessen liegen, was unser sorgfältig gegliederter Horizont uns vorgibt. Wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Asko wusste, was er meinte, und nickte.

„Natürlich. Wie in diesem alten Lied ‚Der Mann, der ist der Kopf … doch die Frau ist der Hals und weiß den Kopf zu drehen. Meine Frau würde mir eine Szene machen, wenn sie wüsste, dass ich es zitiere. So wie Ihre Frau auch hat sie einen ausgezeichneten Verstand.“

Lybratte bedachte ihn mit einem strahlenden Lächeln.

„Dann sind wir beide vom Glück begünstigt. Sie müssen sie mir unbedingt mal vorstellen. Ich würde sie ausnehmend gerne kennenlernen.“

Asko nickte, und der Mann vor ihm fuhr fort, als habe das Gespräch über ihre jeweiligen Gemahlinnen gar nicht stattgefunden.

„Es ist alles eine Sache der Definition. Der Perspektive, gewissermaßen. Es erfordert tatsächlich nicht mehr als ein Umdenken Ihres Geistes. Der Geist ist es, dem die wichtigste Aufgabe zukommt in dem Prozess der Neudefinition von Zeit als physischem Ort.“

Asko sah den fröhlichen Mann zweifelnd an.

„Sie meinen, man müsse nur denken, alles sei anders, dann wäre alles anders?“

„Nicht ganz. Aber fast. Wir denken, dass das, was wir wahrnehmen, neutral richtig ist, und deshalb verstehen und definieren wir das Sein nach den Grundsätzen unserer Wahrnehmung. Doch was wäre, wenn das Sein, Dinge, Materie, Leben uns nur so erscheint, weil wir sie ursprünglich einmal genau so definiert haben? In diesem Fall wären Ursache und Wirkung vertauscht.“

„Das ist ein sehr philosophischer Gedankengang. Ich bin Erfinder, doch beileibe kein Sokrates.“

Der Mann holte sich einen Stuhl und setzte sich Asko gegenüber nieder.

„Ist Ihnen nie etwas passiert, das Sie veranlasste, eine feste Position zu verlassen und neu zu überdenken? Vollständig neu? Total anders? Bis zu dem Punkt hin, an dem eine Wahrheit aufhörte zu sein und eine andere Wirklichkeit zum Vorschein trat? Wie bei der Geburt eines neuen Tages?“

Askos Lippen zuckten.

„Mehr als einmal. Was wir für richtig halten, ist letztlich das, was sich in uns als richtig formt. Wir sehen das, was unsere Sinne uns erlauben zu sehen, und unsere eigene Sinnenbeschränkung gibt uns gewissermaßen einen Filter vor. So ordnen wir Begebnisse in die mentalen Schubfächer ein, die uns zur Verfügung stehen, und wir fürchten uns vor allem, für das wir kein Schubfach haben.“

Der ältere Mann lachte.

„Wer wird jetzt philosophisch?“

„Ich kann das empirisch belegen. Manchmal ist es schmerzhaft, etwas Neues zu lernen. Doch“, fuhr Asko fort und wandte sich der beuligen Anordnung unter dem Tuch zu, „Sie wollten mir Ihre Erfindung zeigen. Wenn Sie Zeit mit nichts als einem konzentrierten Gedanken oder Umdenken so umstrukturieren könnten, dass wir an den Hof König Artus’ reisen könnten, dann bräuchten Sie keine Maschine. Sie bräuchten – um genau zu sein – nicht einmal mich. Sie könnten zurückreisen, Berater von Merlin werden oder ihn ersetzen.“

„Merlin! Wir reden hier nicht über Zauberkram, wir reden über Wissenschaft – keine Märchen.“

„Wenn Zeitreisen so einfach sind, wie Sie sagen, dann ist Merlin vielleicht ein moderner Wissenschaftler, der auf einem intensiven Gedanken zurückreist.“

„Merlin war ein Magier.“

„Manche behaupten, er war Feyon.“

„Es gibt keine Fey.“

Asko unterdrückte ein Gelächter.

„Da würden Sie also allein mit Gedankenkraft die Jahrhunderte durchmessen, weigern sich aber, die Existenz einer zweiten intelligenten Rasse auf diesem Planeten in Betracht zu ziehen?“

„Sie verwechseln Fakt mit Fiktion.“

„Ich empfand bisweilen die Trennlinie zwischen Fakt und Fiktion als sehr dünn. Ich habe Fey getroffen, und einer davon konnte durch die Zeit reisen. Er war alles andere als sympathisch.“

Lybratte blickte in ungehalten an.

„Ich habe Sie nicht eingeladen, damit Sie sich über mein Projekt lustig machen, Herr von Orven.“

„Nichts läge mir ferner. Ich bitte um Verzeihung. Zeigen Sie mir Ihre Erfindung. Bitte!“

Asko wurde ungeduldig. Er hatte von Anfang an nicht geglaubt, dass er tatsächlich eine funktionierende Maschine zu sehen bekommen würde, die ihn in der Zeit vor oder zurück reisen lassen konnte. Doch die Ausrichtung auf mentale Kräfte, die eine physikalische Leistung erbringen sollten, roch ihm verdächtig nach Magie. Er hasste Magie. Er fürchtete ein wenig, dass sein hochgeachteter Mentor und Lehrmeister sich in einem Wirrwarr aus nebulösem Herumphilosophieren und Wunschdenken verstrickt hatte. Noch mehr Sorge machte ihm der Gedanke, dass der Mann, den er als Genie kannte und verehrte, vielleicht wirklich etwas kreiert hatte, das die ultimative Waffe schlechthin sein mochte. Vielleicht brauchte es ja tatsächlich nicht mehr, als die Grenzen des eigenen Verstandes zu überwinden?

Der Professor nahm das Tuch an zwei Enden in die Hand. Er hob es mit einer heroischen Geste, wie ein mythischer Recke, der sein Schwert zog. Asko starrte auf die Oberfläche des Holztisches. Eine Reihe von Objekten lag dort aufgereiht, säuberlich sortiert wie Spielzeug. Ein Hammer, ein Wecker, eine Rolle Draht, vier Knöpfe, eine Kupferspirale, eine kleine Puppe und ein Stück Seide.

„Da“, sagte Lybratte. „Sehen Sie! Was sagen Sie? Ist das nicht ein Prachtstück?“

Er sah, und was er sagen sollte, wusste er nicht. Er blickte von dem Durcheinander zu dem Professor, der frohgemut und so zuversichtlich grinste, als hätte er die interessanteste Maschine gebaut, die je existierte.

„Ich sehe es“, sagte Asko langsam und wusste nicht weiter. „Ich verstehe es aber nicht.“

Ein jäher Schmerz auf seiner Brust erinnerte ihn daran, dass Charlotte darauf bestanden hatte, dass er sein Schutzamulett trug. Er wurde manipuliert, oder zumindest versuchte jemand, ihn zu manipulieren.

„Ich sehe, dass Sie es sehen“, sprach eine wohlklingende Stimme hinter ihm. Er reckte sich, um seinen Kopf so weit zu drehen und sah die Gattin des Professors hinter seinem Stuhl stehen. Er hatte sie nicht eintreten hören. „Wie ärgerlich.“

Sie war schöner, als er sie in Erinnerung hatte, strahlend und imposant. Ihr blondes Haar glänzte in der Morgensonne, die durchs Fenster leuchtete. Ihre hellen Augen sprühten beinahe vor Intensität. In diesem Moment begriff er. Sein Professor hatte jemanden geheiratet, der das Denken manipulieren konnte.

„Mein Lieber“, sagte sie zu ihrem Gemahl. „Ich hatte eben eine Nachricht. Dein junger Freund ist erkrankt und kann heute leider nicht kommen.“

Enttäuschung machte sich auf den Zügen des ältern Herrn breit.

„Oh“, sagte er und schien ein wenig konsterniert. „Wie schade. Ich wollte ihm meine Erfindung zeigen. Ich hoffe, er ist nicht ernstlich krank.“

„Das ist wirklich schade“, fuhr sie fort. „Aber du kannst ihm deine Fortschritte ein anderes Mal zeigen. Warum gehst du nicht ein wenig spazieren? Die Frühlingsluft würde dir gewiss guttun.“

„Eine ausgezeichnete Idee“, lobte er und sah zu seiner Frau hinüber, ohne Asko im Mindesten wahrzunehmen. „Wirst du mit mir kommen, meine Königin?“

„Ich komme nach. Warum machst du dich nicht schon fertig? Ich werde gleich bei dir sein. Ich muss mich nur noch um eine kleine Haushaltsangelegenheit kümmern.“

Asko versuchte aufzustehen, doch eine schmale Hand hielt ihn mit enormer Kraft nieder. Fingernägel kratzten über seinen Kragen.

„Herr Professor!“, rief er. „Ich bin hier. Sehen Sie doch, ich bin direkt vor Ihnen. Wir müssen …“

Doch Lybratte hatte bereits den Raum verlassen und die Tür hinter sich zugezogen.

Einen Atemzug später stand sie vor ihm. Ihr Lächeln berührte ihn wie eine Schwertklinge.

„Sie hätten nicht kommen sollen“, sagte sie traurig und strafend. „Außerdem sollten Sie so etwas nicht tragen!“

Eine kleine Flamme loderte auf seiner Brust auf, und er schrie, als glühendes Metall sich in seine Haut brannte. In seinem Hemd gähnte ein schwarzes Loch. Asche fiel von der Silberkette, die er um den Hals trug. Seltsam losgelöst stellte er fest, dass die Kette selbst nicht heiß geworden war. Er keuchte vor unerträglichem Schmerz, das Zimmer drehte sich um ihn. Feuer fraß sich in seine Haut.

Man hatte ihn entwaffnet – auf gröbste Weise. Agonie durchfuhr seinen Körper. Seine Sinne schwammen. Er hielt mit eiserner Willenskraft an seinem Bewusstsein fest. Was würde nun geschehen?

Eine kühle Hand legte sich auf seine verbrannte Haut, und der Schmerz wurde erträglich und verschwand. Das Lächeln ihm gegenüber hatte nicht einen Moment lang aufgehört. Ein so schönes Lächeln, das Schmerz gab und wieder nahm, wie es gerade gefiel. Er versuchte zu begreifen.

„Sie sind ein Feyon“, ächzte er, fühlte wie eine Träne sich ihren Weg über seine Wange bahnte. „Sie sind eine …“

Die Agonie war vergangen. Er wollte nicht von diesem Wesen berührt werden, doch sie heilte ihn, und die Erinnerung an das sengende Brandmal war noch frisch. Schmerz. Sein alter Bekannter.

„Shhh … vergeuden Sie doch nicht Ihre wenigen Kräfte, um mich zu verfluchen, Asko von Orven. Es ist gänzlich nutzlos, denn in diesem Haus bestimme ich darüber, welche Worte Bedeutung erlangen und welche nur der Vergessenheit überantwortet werden. Ihre, fürchte ich, sind bereits vergessen.“

Mit einer flinken Bewegung beugte sich die Frau herunter, legte ihre Arme um seinen Oberkörper unterhalb seiner Schultern und zog ihn in eine Art Umarmung. Sie hielt ihn mit weit mehr Kraft, als man der schlanken Gestalt zugetraut hätte. Ihm blieb nichts übrig, als sich darauf zu verlassen, denn ohne Krücken konnte er allein nicht stehen.

Ihr Gesicht war dem seinen sehr nah, und er sog dessen eigenartige Schönheit in sich auf und hasste es dafür, dass es ihm so viel Bewunderung abverlangte.

„Sie sind ein erhebliches Ärgernis, Asko von Orven. Das hätte ich gleich wissen müssen. Aber diese Krücken und all der frustrierte Zorn, hinter dem Sie sich verstecken, sind eine allzu gute Tarnung. Nein. Wehren Sie sich nicht. Sie würden doch nur stürzen. Ich habe Sie hier ganz sicher. So sicher, wie ich Sie haben will. Ich werde Sie als Andenken behalten, als Erinnerungsstück dafür, dass man sich auf nichts verlassen kann.“

Behalten? Was meinte sie damit? Sie konnte ihn nicht behalten. Wozu? Es musste ihr doch ein Leichtes sein, sein Gedächtnis so zu manipulieren, wie sie das ihres Gemahls manipuliert hatte. Ein, zwei Sekunden, und er würde sich an nichts mehr erinnern. Warum sollte sie ihn behalten? Sie hatte sein Schutzamulett zerstört. Nur sehr mächtige Fey konnten das. Graf Arpad konnte es nicht. Meister des Arkanen verließen sich auf diese Art von Schutz, der sie davor bewahrte, von den Sí angegriffen zu werden. Diese Dame war gefährlicher als der Vampir, und der Vampir war schon schlimm genug.

„Was werden Sie mit mir tun?“, fragte er stoisch, versuchte, seine Willenskraft gegen sie ins Feld zu führen und wusste doch, dass sie seinen tatsächlichen Gemütszustand vermutlich genauestens zu lesen verstand.

Sie konnte ihn kaum töten, oder? Zu viele Menschen wussten, wo er war. Es brachte nichts, ihn zu ermorden, wo es doch ausreichte, ihm das Denken zu verwirren und die Erinnerungen zu stehlen. Sterben wollte er nicht. Da war er sich sicher, weitaus sicherer als so manches Mal während der letzten Monate. Das Leben war lebenswert.

Sie hatte gesagt, sie würde ihn behalten.

Unter der Wut über ihre Kraft und der Frustration über seine Hilflosigkeit regte sich Angst. Wenn sie ihn behalten wollte, gab es nichts, was er dagegen tun konnte. Sein Schutz war dahin. Magische Fertigkeiten besaß er nicht, und mit seinen körperlichen Fähigkeiten war es auch nicht weit her.

Seine Nackenhaare standen zu Berge. Die Macht, mit der er festgehalten wurde – physisch festgehalten wurde – war zutiefst beunruhigend. Er war zu schwer, um von einer zarten Frau einfach so gehalten zu werden. Doch sie war keine Frau. Sie war eine Kreatur ohne Regeln und ohne Ethik, und er war ihr Gefangener.

Ihm wurde klar, dass auch alle, die wussten, wohin er gegangen war, nun in Gefahr waren. Charly war in Gefahr. Charly, die immer glaubte, man könne den Fey vertrauen, die ihr Blut willentlich hingegeben hatte, damit ein Vampir nicht Hunger leiden musste.

„Viele Dinge könnte ich tun“, überlegte sich Lucilla. „Ich könnte Ihren Verstand entleeren, doch es ist ein – für einen Menschen – guter Verstand, und vielleicht brauche ich ihn ja noch. Klares Denken, starke Gedanken können als synaptische Punkte in der Struktur der Wirklichkeit verwendet werden. Natürlich könnte ich Sie auch eliminieren und es aussehen lassen wie ein natürlicher Tod. Sie sind Invalide. Ihr Ableben würde niemanden verwundern.“

Sie klang nachdenklich. Offenbar überdachte sie ihre Optionen. Ganz kühl ging sie dabei vor, unemotional und sachbezogen. Sie ging mit seinem Leben um, als überlege sie sich einen guten Platz für eine Blumenvase – und was um Himmels willen waren synaptische Punkte?

„Bieten Sie mir diese Spannung als Extrabonus oder überlegen Sie noch?“ Jetzt war er wütend, natürlich hatte er auch Angst, doch seltsamerweise nicht so sehr um sich selbst als darum, wie es Charly treffen würde. Charly würde trauern. Sie würde versuchen herauszufinden, was tatsächlich vor sich gegangen war. Seine verwundbare Charly, die immer versuchte die kühle, optimistische Partnerin zu spielen und dabei über ihr eigenes Herz stolperte.

Er hatte sie nicht mal zum Abschied geküsst. Gar nicht hatte er sie geküsst, und jetzt war es zu spät.

„Ich kann mir Zeit lassen, mein menschlicher Freund. Ich habe alle Zeit der Welt. Wörtlich.“

„Ich bin nicht Ihr Freund“, sagte er ruhig und wunderte sich über seine Beherrschung. „Aber tun Sie mir einen Gefallen und nennen Sie mich nicht ‚Sterblicher mit der üblichen Untergangsstimme, die Ihre Rasse so gerne verwendet, und um Himmels willen, spielen Sie nicht Katz und Maus mit mir. Tun Sie, was Sie tun müssen. Ich bin nicht in der Lage, Sie aufzuhalten, und ich bin schlichtweg zu stolz, um meine Kräfte damit zu vergeuden, Sie mit nichts als Worten anzugreifen.“

Helle, funkelnde Augen blickten in die seinen, und die Welt drehte sich. Er spürte ihren Körper ganz nah an seinem, viel zu nah, intim beinahe. Charly hielt Distanz. Diese Frau nicht. Er hasste sie dafür. Er war verheiratet. Er wollte niemandem in den Armen liegen außer Charly. Aber selbst das erlaubte er sich nicht. Dafür gab es einen Grund. Dennoch konnte er diese Frau nicht davon abhalten, ihn wie einen Buhlen in den Armen zu wiegen, während sie sich überlegte, wie sie ihn am besten loswurde. Die Bedrohung war furchteinflößend, doch die Unverschämtheit überwältigend.

„Aber, aber! Sie sind mir ein kaltschnäuziges Exemplar.“ Sie lachte. „Sie schreien gar nicht um Hilfe? Sie bitten nicht um Gnade? Keine Appelle an meine innere Güte?“ Ein sarkastisches Lächeln lag auf jenen perfekten Lippen, die nur etwa ein Zoll weit von den seinen entfernt waren. Einen einzigen Augenblick lang sehnte sich sein Körper danach, sie zu küssen, eine Sekunde später empfand er Ekel ob dieser Anwandlung. Was ging ihm da nur durch en Kopf?

„Ob Sie Güte besitzen, weiß ich nicht“, gab er zurück. „Ich weiß aber, dass Ihre Art zu Gnade fähig ist, so sie das wünscht. So sie einen Vorteil darin sieht. Sehen Sie einen Vorteil darin?“

„Ihre Meinung von mir ist ja nicht eben hoch. Sollten Sie nicht wenigstens Ihren Jungmännercharme aktivieren, um mich Ihres Stillschweigens zu versichern?“

„Ich bin nicht naiv genug dafür. Ich bin in Ihren Händen. Was immer ich auch tun mag, es wird Ihre Entscheidung kaum beeinflussen.“

Er mochte im nächsten Augenblick tot sein. Doch sein Stolz hielt ihn zusammen. Mehr hatte er ohnehin nicht mehr zu bieten. Ein großer Teil von ihm war in der Schlacht von Königgrätz gestorben, doch der Stolz hatte überlebt, war der Stoff, der ihn weitermachen ließ; war aber auch das, was ihn auf Distanz zu all jenen hielt, die ihn liebten, denn Abstand war leichter als Scham. „Sie werden tun, was immer Sie tun wollen. Was Ihnen gerade passt oder was Ihnen Vergnügen bereitet. Ich könnte Sie noch nicht einmal bekämpfen, wenn Sie nichts weiter wären als die Menschenfrau, die Sie vorgeben zu sein. Ich habe inzwischen Übung darin, das Unvermeidliche zu akzeptieren, hehre Dame. Eben das Unvermeidliche habe ich monatelang jeden einzelnen Augenblick vor Augen gehabt. Ich werde mich gewiss nicht dazu nötigen lassen, Sie mit nutzlosen Bitten zu belästigen.“

Sie lächelte. Ihr Atem war minzfrisch. Asko spürte ihre absolute Perfektion und fand sie entsetzlich. Doch Entsetzen blieb nicht das einzige Gefühl, das sie hervorrief. Sie spielte mit seiner männlichen Wertschätzung, das war deutlich zu merken.

Er wehrte sich nicht, benutzte nur ihre Kraft, um stehen zu bleiben. Ihr Körper schmiegte sich an den seinen, so perfekt gestaltet wie ihr Antlitz.

„Kein Flehen?“ Sie klang amüsiert. „Dabei sind wir doch als Gattung dafür bekannt, Menschen Wünsche zu erfüllen. Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was würden Sie sich wünschen? Einen letzten Kuss? Eine Zeitreise an die Tafelrunde zu König Artus?“

„Wenn Sie mir einen Wunsch gewähren, so würde ich mir wünschen, dass sich Ihre Niedertracht auf mich beschränkt. Verschonen Sie meine … Familie.“

Sie lachte und warf dabei den Kopf zurück. Dann veränderte sie sich ganz plötzlich, wuchs in die Höhe, die Breite, wurde muskulös. Ein Hüne von einem Mann hielt ihn fest und blickte ihn verächtlich an.

„Warum?“, fragte der Kerl in einer tönenden Bassstimme und sah auf Asko herunter. „Glauben Sie nicht, dass Ihre Gattin mich mögen würde? Frauen schätzen mich gemeinhin, müssen Sie wissen. Ich sie auch.“