Kapitel 75

„Vermutlich helfen sie nicht viel“, sagte Sutton, während er Amulette an Ian und an Thorolf ausgab und eines um den eigenen Hals hängte. „Die habe ich vor Jahren im Unterricht gemacht. Es waren meine ersten Versuche in der Amuletterstellung. Aber sie sind vielleicht besser als gar nichts.“

Thorolf und Ian nahmen sie. Alle drei saßen in von Orvens Kutsche. Die Krankenpflegerin war leise und unauffällig davongeschlüpft, um irgendetwas zu tun, das sie gänzlich unerwähnt ließ. Die beiden Damen waren nur widerwillig zu Hause geblieben.

„Sie können uns nicht helfen“, hatte Sutton den Damen immer wieder gesagt. „Es ergibt keinen Sinn, dass Sie sich in Gefahr begeben, wenn Sie doch nichts ausrichten können.“

Keine der Damen hatte die Männer allein losziehen lassen wollen. Es war schließlich Thorolfs Argument gewesen, das sie überzeugte.

„Mutter“, hatte er gesagt und sie in die Arme genommen. „Mutter, bitte! Ich werde viel weniger in Gefahr sein, wenn ich mich auf das konzentrieren kann, was ich tun muss, ohne mir Gedanken um dich machen zu müssen. Bitte gib mir doch die Gewissheit, dass du sicher zu Hause bist, und dass es einen Ort gibt, zu dem ich hinterher zurückkehren kann.“

Der Streit zwischen Mutter und Sohn hatte Thorolfs Beinahe-Tod nicht überlebt. Dieser Tod war eine leere Stelle in seinem Sinn und störte Thorolf, saß wie ein finstres Loch mitten in den Farben seines Gedächtnisses. Dennoch war Thorolf sich sicher, dass er nicht tot gewesen war. Die Pflegerin schien dem beizupflichten. Nicht wirklich tot, hatte sie gesagt.

Tot genug allerdings, um sich nach dem Aufwachen sehr schlecht zu fühlen. Sein ganzes Wesen, seine Essenz hatte sich außerhalb seines Körpers befunden. So hatte die Pflegerin es genannt, er selbst hätte es als Seele bezeichnet. Seine Seele war kurzfristig anderswo gewesen. Der Gedanke war beängstigend, und es mochte einem wohl dabei übel werden. Doch immerhin hatte er auch positive Konnotationen für Thorolf. Er wusste nun, dass er eine Seele besaß, ungeachtet seiner mysteriösen Abstammung. Er war kein seelenloses Ungeheuer, selbst wenn die Bruderschaft das anders sehen mochte. Man hatte ihm von deren Erscheinen berichtet. Er brachte es nicht über sich, die Tatsache auch nur annähernd komisch zu finden, dass seine Erzfeinde – Menschen, von deren Existenz er noch kaum gehört hatte – ihn von aller Schuld exkulpiert hatten, nur weil er tot und somit sterblich war, q. e. d. Frau von Orven hatte ihm erzählt, dass die Kleriker beinahe noch seine leblose Hülle erstochen hätten, nur um ganz sicherzugehen. Vernichtung unwerten Lebens. Nur für den Fall, dass …

Zu seinem Entsetzen hatte er bei dem Bericht würgend aus dem Zimmer laufen müssen. Doch da war er schon wieder auf gewesen und frisch eingekleidet in einen Anzug, den von Orvens Diener aus seiner Wohnung geholt hatte. Er hatte schon etwas Tee getrunken und etwas Schnaps, und er hatte ein wenig trocknes Brot heruntergewürgt und saß da, wackelig und schwach, und versuchte, all das wirre Zeug zu begreifen, das man ihm erzählte.

Er sollte sich hinlegen und schonen, wenigstens für ein paar Tage, hatte man ihm gesagt. Doch er hatte keine Zeit für Erholung. Die Neuigkeiten überfluteten ihn, und er wusste, er musste etwas unternehmen, sonst hätte er genauso gut sterben können. Es gab einen Grund, warum er all dies überlebt hatte, und dieser Grund konnte nicht sein, dass er sich niederlegte und erholte.

Ganz hatte er noch nicht verinnerlicht, dass er nun offiziell tot war und sein Leben als ein anderer und an einem anderen Ort wieder aufnehmen musste. Er versuchte, nicht daran zu denken, schob die bittere Wahrheit von sich. Keine Zeit, sich jetzt damit zu befassen. Es gab noch Dinge, die er in diesem Leben zu erledigen hatte. Auch wenn – und dessen waren sich alle bewusst – ihr Kampf gegen die beiden mächtigen Wesen vermutlich von vorn herein zum Scheitern verurteilt war. Es würde vielleicht der kürzeste Kampf der Geschichte werden. Keiner von ihnen wusste wirklich etwas über diese Kreaturen.

In seinen Gedanken wirbelten immer noch unverarbeitete Fakten durcheinander. „Gibt es irgendetwas, das ich für Sie tun kann?“, hatte Frau von Orven ihn irgendwann gefragt. Er hatte um Papier und Bleistift gebeten. Die anderen hatten ihn angesehen, als wäre er nicht ganz bei Trost. Warum er diese Utensilien haben wollte, vermochte er nicht zu erklären. Seine Hände bebten noch, doch er klammerte sich an den Bleistift wie an eine Krücke, zeichnete ein paar Striche, vorsichtig und unsicher, wie jemand, der von neuem laufen lernen muss. Er hatte seine Seele wieder, und etwas von dieser Erfahrung wollte nach draußen.

Die Diskussion war hin und her gegangen. Jeder von ihnen verfolgte ein anderes Ziel, das begann er erst mit der Zeit zu begreifen. Frau von Orven wollte ihren Gatten wieder, seine Mutter Graf Arpad, er selbst Catty, und Mr. Suttons primäres Ziel war, seine Loge von dem unerklärlichen Schicksal zu befreien, das sie heimgesucht hatte. Thorolf verstand nicht, worum es dabei ging, begriff nur, dass von den gelehrten Herren der Loge keine Hilfe zu erwarten war.

Irgendwann schlug Sutton vor, der Bruderschaft einen Tipp zu geben, schließlich war sie Spezialistin, wenn es um den Kampf gegen die Sí ging.

Eine Flut von Empörung brach über ihn herein.

„Ich verstehe ja“, sagte er begütigend. „Jeder hier hat Grund, sie zu fürchten. Das habe ich verstanden, und ich achte das Vertrauen, das Sie mir entgegenbringen. Vermutlich wäre es Ihnen lieber, ich wüsste gar nichts, aber …“

„… Sie sind unsere einzige Hoffnung“, sagte Ian.

„Ich bin besser als gar nichts, meinen Sie wohl. Nun, versprechen Sie mir, dass Sie eine Nachricht an die Bruderschaft senden werden, wenn wir ebenfalls spurlos verschwinden.“

Dieser Satz fiel wie ein Fels. Danach war es ganz still.

„Meine Damen“, fuhr er fort. „Das hier ist extrem gefährlich. Wir wissen nichts über die Ziele und Möglichkeiten dieser Kreaturen. Es mag um weit mehr gehen als um die Entführung von Gatten und jungen Mädchen. Der Angriff auf die Loge – und anders kann man das Ganze wohl nicht nennen – impliziert weit mehr. Ich bin nicht feige, aber ganz ehrlich: Im Moment würde ich lieber einen Zug besteigen und das Land verlassen – besser noch den ganzen Kontinent – als loszuziehen und diese … was immer sie sind … in ihrem Unterschlupf zu stellen.“

„Die Bruderschaft würde wohl kaum einen Magier retten wollen, oder?“, fragte Frau von Orven. „Ich dachte, sie verdamme Magie? Hexen und Hexenmeister und so weiter?“

„Sie würde sicher keinen Feyon und seinen Sohn retten“, fügte Thorolfs Mutter hinzu, errötete dann und versteckte das Gesicht hinter einer Teetasse. Es war ihr unendlich peinlich etwas auszusprechen, das so viele Jahre ein Geheimnis gewesen war.

„Mit mir würde sie auch nichts zu tun haben wollen – außer vielleicht als Gegenstand für einige Experimente“, meinte Ian.

„Es mag ihr außerdem durchaus gelingen, Informationen zur Quelle zurückzuverfolgen, und das würde Frau von Orven und meine Mutter gefährden“, schloss Thorolf, ohne noch besonders viel über die Situation zu wissen. Er tastete sich wie blind durch die Fluten plötzlichen Wissens. Entscheidungen zu treffen, während die Teile dessen, was er wissen sollte, sich erst langsam zu einem Bild in seinen Gedanken formten, war beinahe unmöglich. Er konnte sich nur auf seinen Instinkt verlassen.

Sutton seufzte und zog eine missvergnügte Grimasse.

„Wahrscheinlich haben Sie recht. Ich habe nur gedacht, es wäre nett, die Kavallerie hinter dem nächsten Hügel schon fertig und in Formation zu haben.“

„Diese Kavallerie würde Sie Ihren Skalp kosten “, kommentierte Ian.

„Sie wissen gar nichts über Skalps“, gab Sutton zurück.

„Ich weiß, wo ich meinen gerne hätte.“

„Guter Gedanke. Den sollten sie behalten“, gab Sutton zurück. Ian berührte nachdenklich sein Haar.

„Thorolf!“, flüsterte seine Mutter. „Was hast du da nur gezeichnet?“

Er sah auf das Papier. Er hatte immer weiter gezeichnet, hatte nicht einmal darauf geachtet, was er kritzelte.

Da war Catty, sein Traummädchen, nackt bis auf die Haut kniete sie am Boden, verschmolz fast damit. Es war ein unanständiges Bild, und er schämte sich. Seine Aufgabe war, sie zu beschützen, nicht ihre Geheimnisse preiszugeben. Das wäre ihr gewiss furchtbar peinlich. Auch wollte er nicht, dass jemand außer ihm sie so sah.

Doch seine Gefährten waren unbeeindruckt von dem Mädchen. Was sie viel mehr fesselte, war das Spinnenwesen, das Catty in den Klauen hielt. Noch mehr Aufmerksamkeit erntete das riesige geflügelte Reptil, das den gesamten Hintergrund ausfüllte.

„Ein Drache!“, rief Ian. „Grundgütiger!“

„Sie sind ein begabter Symbolist, Treynstern“, sagte Sutton. „Das ist eine meisterliche Allegorie für das, was auf uns zukommt.“

„Eine Allegorie?“, fragte Charly erschrocken. „Sind Sie sicher, dass es nicht mehr ist als …?“

„Beruhigen Sie sich. Drachen sind nichts als Märchengestalten. Es gibt keinerlei Berichte über Sichtungen.“

„… die Meister des Arkanen überlebt hätten, um darüber zu berichten“, brummte Ian.

„Bruder Ian, Fakt und Fiktion liegen in unserem Metier zwar nah beieinander, aber jeder weiß …“

„… dass Frauen nicht zaubern können.“

Die beiden Studenten des Arkanen starrten einander an, und Thorolf begriff wieder einmal nicht, was sie meinten und worüber sie redeten.

Fräulein Flenckmann erhob sich.

„Tut mir leid, aber ich muss Sie jetzt verlassen. Ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen …“ Sie sahen ihr nach, und es wurde ihnen erst jetzt bewusst, dass sie die ganze Zeit bei ihnen gewesen war. Sie hatten ihre Anwesenheit vollständig vergessen. Still und zurückhaltend hatte sie im Hintergrund gesessen.

„Verdammt! Jetzt habe ich sie gar nicht nach ihrer Magie befragt!“, fluchte Sutton.

„Sie hätte uns helfen können“, sagte Ian.

„Du hattest doch sicher nicht vor, eine Krankenpflegerin auf unsere Mission mitzunehmen?“, fragte Thorolf entsetzt.

„Sie war immerhin eine nicht zu unterschätzende Hilfe dabei, Sie so schnell wieder auf die Beine zu bekommen, Herr Treynstern“, gab Sutton zu bedenken. „Obgleich ich das ungern zugebe, scheint sie mehr zu können als nur Tee auszuteilen. Sie hat ein wirklich starkes Schutzamulett getragen, und sie hat aktiv dazu beigetragen, uns vor diesen Wesen zu verbergen. Apropos …“

Die Diskussion wandte sich Suttons Amuletten und der Frage zu, wie notwendig es war, sie zu holen. Letztlich verloren sie keine Zeit mehr und machten sich auf, bevor ihr Mut sie verließ.

„Ich wünschte, du würdest nicht gehen!“, hatte Sophie Thorolf zugeflüstert.

Er nickte und stieg hinter Ian in die Kutsche.

„Ich auch. Aber wenn ich nicht versuche, sie zu finden und zu retten, wäre meine eigene Rettung sinnlos gewesen.“

„Du bist gerettet worden, damit du weiterleben kannst – nicht, damit du dich erneut in Gefahr begibst. Du bist kein Magier wie McMullen oder Mr. Sutton. Dass du diese Kreatur nicht besiegen kannst, weißt du bereits, und nun musst du dich sogar mit zweien befassen!“

Er nickte nur und winkte ihr zu. Dann fuhr die Kutsche an.

„Haben wir einen Plan?“, fragte Thorolf, als sie die Amulette abgeholt hatten. Die Kutsche ratterte durch die Nacht, auf dem Weg zum Haus der Lybrattes.

„Wir gehen rein und vollbringen ein Wunder“, meinte Sutton trocken und hielt eine Arzttasche umfasst, als wären alle Antworten des Universums darin enthalten.

„Wenn’s weiter nichts ist“, gab Thorolf zurück

„Glaubst du wirklich, du wirst von Orvens alten Armeedegen brauchen?“, fragte Ian und blickte auf Thorolfs Hände, die die Regimentswaffe fest umklammert hielten.

„Wer kann das schon sagen? Ich weiß nur so viel: Als Künstler war ich nie Symbolist.“