Kapitel 74

„Ein beinahe perfekter Kreis“, sagte Frau Lybratte und sah sich zufrieden um. „Sieh nur: kleine Rädchen im großen Getriebe.“

Lucilla stand in der Mitte des Salons. Fünfzehn Gäste, die berühmtesten Köpfe von Wissenschaft und Kunst saßen auf Stühlen um sie herum, von ihr und dem Zentrum des Kreises abgewandt. Da saßen sie reglos, bewegungsunfähig, die Augen weit offen und still, ohne zu zwinkern. Sie hielten sich bei den Händen, die Finger waren fest ineinander verschränkt, beinahe verknotet. Nichts verriet, ob sie noch am Leben waren.

Frau Lybratte musterte fünfzehn Hinterköpfe und lächelte. Catty erkannte einige von ihnen. Feuerbach, der Philosoph, saß reglos da. Er wäre vermutlich vor Spannung geplatzt, hätte er gewusst, was geschah. Oder warum. Das Warum spielte immer eine große Rolle in seinem Denken, das wusste sie. Doch er kannte es nicht. Sie ebenso wenig, doch brannte sie darauf zu begreifen.

Genauso würde es wohl von Schwind gehen. Er hätte ein Bild von dem makabren Elfenreigen malen können, den hier eine Gruppe älterer Herren in Abendbekleidung bildete, die eben noch an ihrer Maibowle genippt und kluge Sätze von sich gegeben hatten, durch ein Gespinst lauernder Hintergründigkeit. Sie hatten sich nicht einmal besonders gewundert, als Lord Edmond mit einer Katze auf dem Arm zwischen sie getreten war, und Catty hatte nicht einmal versucht, die noblen Gäste ihres Vaters darauf aufmerksam zu machen, dass sie die Tochter des Gastgebers war.

„Sie werden nie wissen, was plötzlich über sie gekommen ist“, sagte Lucilla. „Genauso wenig werden sie je wissen, welch unermessliche Bedeutung sie heute erlangen – nur für eine Nacht. Würden sie nicht alle ihre neugierigen Seelen dreingeben, nur um zu erfahren, woran sie heute teilnehmen? Bin ich nicht wirklich leutselig, dass ich das, was sie mir bieten, großherzig akzeptiere, selbst wenn ihnen ihr Beitrag nicht in Wissen entgolten wird?“

Sie war unbeschreiblich schön. Catty begriff, warum die Menschen sie so unausweichlich fanden. Man schritt nur wie ein Schatten in ihrem Schein, man war nichts, weniger als ein kleines Ärgernis, ein gerade noch geduldeter Gast in ihrer Ruhmeshalle. Sie war Souverän, Herrscherin, glänzend und sprühend. Mächtig und hold gleichermaßen. Macht hatte Catty durchaus erwartet, doch nicht solche Huld. Die Macht war manifest. Sie ließ Catty vor Angst fast versteinern.

„Werden Sie es überleben?“, fragte Edmond, der an der Tür stand und Catty übers Fell strich, das zu Berge stand. Er hielt sie mit einer Hand gegen seine Brust gepresst und roch nach Sommernacht. Sie sollte gegen die Vertraulichkeiten, die er sich einfach so herausnahm, ankämpfen, doch sie hatte jede Gegenwehr gegen eine solche Übermacht inzwischen aufgegeben. Sie hing nur willenlos in seinem Griff. Erwischt. Man hatte sie gefangen, und man würde sie behalten.

Was immer auch geschehen sollte, es sah aus, als wäre es bald soweit. Da war keiner, der ihr helfen konnte. Die Ereignisse hatten ihr die genommen, denen ihr Schicksal nicht gleichgültig gewesen war. Ihre Verzweiflung umgab ihr Leben und das der Freunde wie Nebel. Angst und Traurigkeit hatten sie abgestumpft. Thorolf starb im Gefängnis, und Ian war in seiner Loge gefangen. Sie hatte gesehen, wie die durchsichtigen Energiefäden darum gesponnen wurden und einen Augenblick später aus der Wahrnehmung verschwanden. Doch sie waren noch da, das wusste sie.

Das war Stunden her, doch wo diese Stunden geblieben waren, konnte sie nicht ermessen. Die Zeit tanzte um sie herum. Sie versuchte nicht einmal, das zu begreifen, hatte viel zu viel Angst vor der Antwort auf Lord Edmonds letzte Frage: Würden sie überleben?

„Macht das einen Unterschied für dich?“, fragte Frau Lybratte zurück und blickte die Sommernacht-Kreatur an, die Catty nicht mehr losließ. Einen Unterschied? Catty glaubte nicht, dass es für ihn einen Unterschied machte. So oder so empfand er nichts. Dennoch ließ die Gefühllosigkeit der Unterhaltung sie beinahe vor Kälte erstarren.

Er zuckte die Achseln, wie sie es erwartet hatte.

„Du offerierst mir ein Bankett, und ich darf nicht daran teilhaben“, klagte er. „Ein Menü aus den feinsten Denkern und Seelen dieses Königreiches, und ich darf nichts weiter sein als der Zeremonienmeister. Du erwartest viel von mir. Zurückhaltung ist nicht eben meine Stärke.“

Catty erzitterte und wünschte sich, wenigstens dieser Unterhaltung nicht lauschen zu müssen. Sie war sich nicht sicher, dass sie überhaupt wissen wollte, was dies bedeutete, besonders, während er sie noch festhielt. Sie lag mit dem Bauch auf seiner linken Hand. Eigentum. Oder Beute?

„Das wusstest du von Anfang an. Du hast sagtest, du würdest das für mich tun.“ Die Strenge in der Stimme ihrer Stiefmutter ließ vermuten, dass hier das letzte Wort noch nicht gesprochen war.

„Aus Liebe.“

„Aus Liebe!“, wiederholte Lucilla, und er lächelte und blickte zu Catty hinunter, die aus großen angstvollen Augen zu ihm hochsah. Auch richtige Menschen stellten für eine kleine Katze schon eine Bedrohung dar. Doch dies waren keine richtigen Menschen. Der eine war eine Spinne, und die andere? Schwingen. Lucilla sollte Schwingen haben, dachte Catty.

„Ich tu’s“, sagte Lord Edmond. Er tat Dinge aus Liebe. Zumindest versprach er sie. Hilfe hatte er ihr versprochen, doch sie verstand nun schon seit geraumer Zeit, dass was er für sie fühlen mochte nicht mit dem konkurrieren konnte, was er für Lucilla fühlte. „Ich werde ihre spirituelle Ausstrahlung leiten und weitersenden. Ich werde die Macht kanalisieren, die du willst, ohne mich daran zu bedienen. Aber ich erwarte eine Vergütung.“

„Welcher Art?“ Lucilla sah verstimmt aus.

Vergütung für einen Liebesdienst. Wenn Catty begriffen hätte, wie seine Liebe zu entgelten war, hätte er ihr vielleicht geholfen – aus Liebe. Doch sie war unwissend gewesen und verängstigt.

„Liebe“, sagte er noch einmal. „Du weißt, dass ich das Mädchen auch selbst gut hätte gebrauchen können. Das ist nun nicht möglich. Ich will, dass du mir versprichst …“

„… ewige Liebe?“

„Liebe und Akzeptanz.“

„Hast du schon. Hattest du immer schon, Liebster. Vielleicht hast du sie nicht spüren können, doch du hast beides.“ Die schöne Frau lächelte ihn an. Er lächelte zweifelnd zurück.

„Doch jetzt hätte ich lernen können, beides zu fühlen.“

„Das Gebilde, das wir entstehen lassen, hätte deine Wünsche in dieser Hinsicht erfüllen können. Nun wird es meine erfüllen.“ Sie nickte. „Du hast immer noch die Möglichkeit, mich zu verraten – um den Preis meines Zorns. Lass dir versichern, den würdest du ohne weitere Hilfe spüren können.“

Catty begriff, dass dies eine Drohung war, die man besser nicht ignorierte. Lord Edmond schien es auch zu verstehen.

„Ich will, dass du weißt, dass ich dich liebe“, verteidigte er sich.

„Nein. Du willst mit absoluter, unumstößlicher Sicherheit wissen, dass ich dich liebe. Doch da verlangst du zu viel. Nicht einmal Menschen mit ihren dummen, kitschigen Herzen können sich je ewiger Liebe absolut und unumstößlich sicher sein. Die Liebe ist ein flüchtig’ Ding. Ich liebe dich heute. Ich habe dich eine lange Zeit geliebt – Hunderte von Jahren. Ich brauche dich heute. Nur das ist absolut und unumstößlich sicher. Ewig ist Liebe nur als abstraktes Konzept.“

Eine Träne troff aus Cattys Auge. Liebe war Verlust. Liebe war Verrat, und letztlich bedeutete Liebe den Tod. Es war nur wenige Tage her, da hatte der Weißhaarige neben ihr auf der Treppe gesessen und ihr die Hand gehalten. Für ein Lächeln und einen starken Beschützerarm hätte sie ihm damals Herz und Leben geschenkt. Nun hatte sie ihr Herz verloren und würde auch ihr Leben verlieren.

„Wenn diese ach so gelehrten Herren hier nicht so vollständig geistig abwesend wären, hohl und leer sozusagen, könnten wir einen Diskurs darüber führen“, sagte er. „Das Konzept der Liebe ist sicher etwas, das sie interessieren würde, selbst wenn sie die göttliche Liebe für gegeben und die körperliche Liebe für verdorben halten.“

„Menschen- gegen Gottesliebe? Geliebter, das ist absolut nicht dein Bereich. Nicht einmal meiner. Unter den gegebenen Umständen ist es außerdem unpassend. Wir haben keine Zeit für so etwas.“

Er lachte.

„Hast du je John Donne gelesen?“, fragte er. „ ‚Oh Liebe, jeder Teufel außer dir würd’ für darbrachte Seele eine Löhnung geben. So gut wie heute habe ich seine Zeilen noch nie verstanden.“

„Du verstehst sie auch heute nicht. Du eignest sie dir nur an, besitzt sie wie alles, das du dir für eine Weile erraffst und das dann wieder im Nichts verschwindet.“

Er hielt Catty mit beiden Händen fest, fixierte ihr verängstigtes Katzengesicht ohne irgendeine Regung. Weiße Katzenpfoten baumelten. Sie rührte sich nicht. Sich zu bewegen war sinnlos.

„Es hätte alles anders werden können.“

Ja, dachte Catty. Alles hätte anders sein können. Doch ihre Entscheidungen hatten sie bis hierher gebracht, und sie glaubte nicht, dass diese Entscheidungen vollständig falsch waren. Sie hatte Lucilla von Anfang an misstraut. Sie war vor der Spinne geflohen. Etwas anderes war gar nicht denkbar gewesen.

Sie hatte Freunde gefunden. Wenigstens für ein Weilchen war sie glücklich gewesen. Ein paar Tage nur. Es bedeutete unendlich viel.

„Jetzt musst du dich entscheiden, mein Liebster mit dem vergesslichen Herzen“, befahl Lucilla. „Willst du eine Romanze mit einem kleinen Mädchen, das du zum Gehorchen und vielleicht sogar dazu zwingen kannst, dich zu lieben, dich so sehr zu lieben, dass du es selber fühlst? Wenigstens für kurze Zeit ? Oder willst du lieber Teil eines weit größeren Unterfangens sein – mit mir, deren Liebe du zumindest mit deinem Verstand nicht bezweifeln solltest, auch wenn du das Herz nicht hast, blind auf sie zu vertrauen?“

„Ich habe mich entschieden.“

Natürlich. Sie liebte ihn nicht mehr, und er wusste es. Das Schloss in der Sommernacht war zum Alptraum geworden. Sie nahm ihn jetzt ganz anders wahr, und dieser Eindruck war irreversibel.

„Dann komm in die Mitte. Bereite dich und das Mädchen vor.“

Es dauerte weniger als einen Atemzug, und schon stand der Weißhaarige im Kreis, während die Frau seinen Platz außerhalb eingenommen hatte. Er kniete nieder, kauerte auf allen vieren, drückte Cattys kleinen Katzenkörper gegen den Teppich. Sie wand sich nutzlos in seinem Griff, kratzte nach der perfekten, schmalen Hand, die sie festhielt, erreichte sie nicht.

„Spielt ihr ein Gesellschaftsspiel, Liebling?“, fragte Cattys Vater, der plötzlich in den Raum trat, mit nichts bekleidet als seinem Nachthemd und einem Brokatmorgenmantel, den er sich um die Schultern gelegt hatte. Ein hohles, fast blödes Lächeln spielte um seine Lippen. Es spiegelte sich in den Augen wider, schien aber nicht mit seinem Bewusstsein verbunden zu sein.

Dies gehörte offenbar nicht zum Plan, denn beide Geschöpfe wandten sich ihm etwas irritiert zu.

„Was machst du denn hier, Liebling?“, fragte Lucilla gurrend und manövrierte ihn wieder in Richtung Tür.

„Was stimmt nicht mit ihnen?“, fragte Cattys Vater, als ihm die unnatürliche Reglosigkeit seiner Gäste auffiel. „Warum sind sie hier? Ich bin zu Bett gegangen. Ich wusste gar nicht …“ Er verstummte, rang um Worte und um Bedeutung.

Es schmerzte Catty zutiefst, ihn so wirr und verstört zu sehen. Sein sonst so klarer Intellekt war trüb geworden. Besiegt und leer erschien er ihr. Eine Marionette musste nicht selbständig denken können. Es war nicht seine Schuld, dass er sie vergessen hatte.

Sie schrie.

Er sah sie an, versuchte zu begreifen, was eine Katze inmitten dieser eigentümlichen Soiree zu suchen hatte. Er mochte keine Katzen. Sie schrie noch einmal, versuchte sich zu befreien, wurde von einer starken Hand noch tiefer gegen den Teppich gedrückt, jammerte und hätte gern „Vater! Hilf mir!“ gerufen.

Ein Rest Vernunft sagte ihr, dass dieser krank aussehende Mann ihr gar nicht würde helfen können und dass sie besser daran täte, ihm zu raten, schnell davonzulaufen. Aber als sein Kind erwartete sie doch immer noch, dass er sie beschützte. Vielleicht schrie sie auch nur seinetwillen. Er schien gar nicht zu verstehen, wie falsch dies alles war

Was hatten sie ihm nur angetan? Was war aus dem gesunden, aufrichtigen Mann geworden, dessen Verstand immer so scharf gewesen war, dass er jedwede Bedeutung in einzelne Aspekte zerteilen konnte, um sie dann als Beweise anzuordnen? Er tat ihr leid, und es schmerzte sie umso mehr, dass der Mann, den sie liebte und bewunderte, überhaupt ihres Mitleids bedurfte. Die Welt war grundfalsch, in der er nicht Meister seines Geschicks, seiner Gedanken und seines Hauses war.

Wieder streckte sie sich, versuchte, sich den Händen, die sie hielten, zu entziehen, zu ihrem Vater zu kommen. Sie wand sich, versteifte sich, zog sich in die Länge und stöhnte. Sie schrie und jaulte.

Sie verwandelte sich.

Diesmal war sie beinahe sicher, dass sie die Verwandlung selbst ausgelöst hatte. Sicher war es nicht der Spinnenlord gewesen. Wie sie es gemacht hatte, wusste sie allerdings nicht und wollte auch nicht darüber nachdenken.

Hände glitten von ihren Schultern und hielten ihre nackten Arme. Sie schrie erneut, und diesmal fand sie Worte: „Vater! Lauf weg! Du musst weglaufen!“

Sie hatte um Hilfe rufen wollen. Doch er schien selbst so hilflos. Ihn so zu sehen, machte ihr noch mehr Angst. Ihr ganzes bisheriges Leben hatte sich darauf gegründet, dass ihr Vater für sie sorgte, sie liebte und sie beschützte. Sie sehnte sich danach, beschützt zu werden, verzehrte sich nach einigen gestrengen Sätzen, die all dem ein Ende bereiten würden.

Doch das geschah nicht. Lord Edmonds Gesicht wirkte fast verzückt, während er ihren Vater musterte. Lucillas Lächeln gefror zu Eis.

„Liebling, sieh zu mir!“, sagte sie, und sein Kopf fuhr zu ihr herum.

„Das kann nicht sein!“, rief er. „Das ist gar nicht möglich. Ich glaube das nicht.“ Das tat er tatsächlich nicht. Sein Geist stritt mit seinen verräterischen Augen um das Erfassen der Wahrheit.

Er wandte sich ab und taumelte fast.

Lucilla fing ihn und hielt ihn umfangen.

„Warum gehst du nicht ins Bett?“, gurrte sie. „Ich werde gleich bei dir sein. Hier gibt es gar nichts Interessantes. Nur ein paar Überbleibsel von der Soiree.“ Ihr Blick drang beinahe durch seine Haut. Er starrte sie schweigend an, kaute auf Worten herum, die er nicht mehr aus seinen Gedanken bekam. Soiree. Warum war hier eine Soiree, und warum stand er im Nachthemd darin? Seine Verwirrung war so intensiv, dass Catty seine Gefühle fast mit Händen greifen konnte.

„Nun geh schon!“, fuhr seine Frau fort. „Schau dir das Durcheinander hier gar nicht an. Vergiss!“

Er tat einen Schritt zur Tür, wandte sich dann mit einem Mal um und blickte Catty an. Seine Bewegung schien schmerzhaft schwer, als zögen ihn Marmorgewichte in die andere Richtung.

„Kind! Was ist? Was machst du da …?“

„Vater“, flüsterte sie, wollte mehr sagen, doch ihre Stimme gefror ihr im Mund. Der Spinnenlord beherrschte sie. Doch was konnte sie ihrem Vater schon sagen, das er nicht gleich wieder im Blick seiner Frau vergessen würde? Dass er sich überhaupt ihr hatte zuwenden können gegen all die Macht, die gegen ihn wirkte, war ein unumstößlicher Beweis für seine Liebe zu seinem Kind. Sie verstand das jetzt und war dankbar für die Einsicht. Tränen liefen ihr über die Wangen.

Sie sah schweigend zu, wie ihr Vater eine Hand an die Schläfe hob, als habe er fürchterliche Kopfschmerzen. Er drehte sich wieder der Tür zu wie eine Marionette. Dann fiel er nach hinten um. Wie eine umgekippte Felsstele lag er auf dem Boden, die Augen weit offen. Ein langer, seufzender Atemzug kam über seine Lippen, und Catty wusste, dass es sein letzter war.

Ihr Vater war tot. Seine strapazierten Sinne hatten die Schlacht verloren.

„Ich habe dir doch gesagt, du sollst es nicht zu weit treiben“, sagte Lord Edmond, während er Catty ohne jede Anstrengung weiter gegen den Boden presste.

Lucilla streckte die Hände über Cattys Vater aus, und ein Beben ging durch seinen Körper. Doch er erwachte nicht mehr.

„Zu spät“, sagte Edmond. „Er starb an einer Überdosis physikalischer Unmöglichkeiten.“

Lucilla wandte sich ihr und ihrem Wärter zu. Ihr Gesicht war steinern vor Wut. Ihr Mund öffnete sich zu einem Zornesschrei, und Catty, die sich nicht die Ohren zuhalten konnte, weil man ihre Arme festhielt, bebte unter dem Aufprall des Klangs. Der Lärm war unbeschreiblich. Ganz München musste ihn gehört haben. Das ganze Königreich musste ihn gehört haben. Dann schnitt der Schrei durch die Grenze der Realität und darüber hinaus, waberte auf einer hohen, schrillen Note und sank schließlich so tief, dass die Möbel vibrierten. Glas brach. Besteck ruckelte über den Tisch. Das Gaslicht flammte auf.

Lucilla verwandelte sich. Der kreischende Mund wuchs, stülpte sich um. Zähne schossen daraus hervor. Einen Augenblick lang stand ein riesiger Mann dort, barbrüstig, unanständig muskulös, voller wütender Macht. Langes Haar flog im Sturm. Helle Augen blitzten vor Wut. Dann wandelte sich das Bild erneut, und das ganze Zimmer war mit einem Mal angefüllt mit Kreatur. Anders konnte Catty es nicht fassen. Ein riesiges Tier füllte den Raum, jede Ecke, jeden Zoll davon, quetschte Catty auf den Boden. Sie spürte Schuppen, sah Perlmutt schimmern, berührte Schwingen, Knochen, Haut und Krallen. Der Klang des Schreis umspannte Dimensionen, und Catty begann vor Schmerz und Angst zu schluchzen und zu jammern – und vor Trauer.

Einen Atemzug später stand Lucilla wieder da, wo sie gestanden hatte, unberührt und schön. Wie eine Eiskönigin. Selbst ihr Lächeln war schon wieder fest installiert.

„Bedauerlich“, sagte sie. „Zeitlich sehr ungelegen. Ganz besonders für jemanden, der die Zeit selbst zu meistern wünschte.“

„Brauchst du Ersatz?“, gurrte Lord Edmond. „Ich stelle mich gerne zur …“

„Du hast deine Aufgabe!“, schnappte sie und blickte auf ihre weinende Stieftochter. „Ich habe eine Idee. Es gibt wirklich einen Zweck und einen Sinn für alles unter den Himmeln. Ist das nicht nett?“

Sie hob den Leichnam ohne Anstrengung hoch und wandte sich zur Tür.

„Also wirklich. Das ist lächerlich. Dein Plan ist gescheitert.“

„Der Plan ist in Ordnung. Wir gehen genau so vor, wie wir es besprochen haben.“