Kapitel 21
Ian versuchte, die Energielinien nicht zu sehen. Er wollte sie nicht sehen. In den letzten Tagen war ihre Prominenz in seiner Wahrnehmung erheblich gewachsen, und während er sich zuvor hatte konzentrieren müssen, um sie zu erkennen, musste er es nun, um sie auszublenden.
Er war nicht der einzige, der der Erhöhung der alles durchdringenden Macht gewahr wurde. Seine Professoren waren in derselben Situation, ebenso die Adepten, und sogar einige der Akolythen, die bislang die Linien nicht hatten wahrnehmen können, hatten sie nun bisweilen erspäht.
Deiss lag im Koma. „Ich kann sie sehen!“, hatte er ausgerufen und war dann zusammengebrochen. Er war bislang das letzte Opfer des Phänomens, das die Aroria-Loge in Unruhe versetzt hatte, und brach damit die Theorie, dass nur Meister des Arkanen in Gefahr waren. Der Bann um das Gebäude war erhöht worden, doch niemand wusste, ob er etwas bewirkte. Er mochte genauso gut nicht mehr als ein Sieb sein, mit dem man versuchte, Wasser zu schöpfen.
Ian hatte erwogen, vorübergehend in die Loge zu ziehen, doch der Großmeister hatte darauf bestanden, dass sie sich in der Stadt verstreuten. So saß er mit einem Buch aus der Logenbibliothek im Wohnzimmer seines Quartiers und machte sich Notizen. Er hatte versucht zu schlafen, doch der Schlaf entzog sich ihm. Auf unerklärliche Weise fühlte er sich belagert. Ein unbekannter Feind wartete direkt vor dem Tor und würde es irgendwann schleifen und eindringen, während er keinerlei Macht besaß, diesen Feind zu bekämpfen.
Er erinnerte sich noch zu gut an die lichtlose Höhle, in der er achtzehn Monate zuvor nach einem Sturz in eine Felsspalte aufgewacht war. Er wollte nie mehr in solcher Dunkelheit aufwachen, hoffte, nie mehr die Erfahrung machen zu müssen, dass er nicht mehr allein in seinem Körper lebte, dass eine fremde Seele ihn beherrschte. Er hatte das Abenteuer überlebt, doch es hatte ihn verändert. Wissen, auf das er kein Recht hatte, erschien mitunter grundlos in seinem Kopf und machte ihm Angst.
Er war zutiefst dankbar für die Ausbildung, die er in der Loge erhielt. Ohne sie, so glaubte er fest, hätte er vermutlich bei dem Versuch, ein normales Leben zu führen, schließlich den Verstand verloren. Eine solche Übernahme konnte man nicht einfach abtun, und auch die Nachwirkungen ließen sich nicht ignorieren.
Es hatte ihn die Liebe seiner Eltern gekostet, denen alles, was nicht „normal“ erschien, gänzlich zuwider war. Als er sich entschlossen hatte, dem Vorschlag seines Onkel Aengus, dem Meister des Arkanen, zu folgen, hatte er sich von ihnen verabschiedet. Ihren Reaktionen darauf hatte er entnehmen können, dass es ein Abschied für immer war, selbst wenn sie das nicht so formuliert, sondern ihn vielmehr angefleht hatten, zurückzukommen und seine abnormen Pläne aufzugeben.
Er schrak zusammen, als es klopfte, und blickte auf seine Taschenuhr. Nach Mitternacht. Wer würde so spät noch einen Besuch machen? Oder hatte Treynstern noch ein Modell für eine nächtliche Sitzung eingeladen? Doch Treynstern hatte einen Schlüssel. Er würde nicht klopfen. Vermutlich hatte er auch genug Anstand und Benimm, um nicht seine Dämchen für etwelche Lustbarkeiten in ihr gemeinsames Quartier zu bringen. Um Angelegenheiten der Fleischeslust kümmerte man sich am besten an entsprechenden Orten. Eine geteilte Wohnung war kein solcher Ort. Allerdings war der Mann Künstler. Diese Artgenossen hatten gemeinhin andere Standards für Anstand. Zumindest waren sie dafür berühmt und berüchtigt.
Er würde nicht herausfinden, wer es war, wenn er nicht zur Tür ging und dem nächtlichen Besucher öffnete. Ganz plötzlich war er sich nicht mehr sicher, ob er das wirklich tun wollte. Ein eigentümlicher Widerwillen beschlich ihn, und seine Nackenhaare stellten sich auf. Er wünschte, er hätte ein Amulett, um sich gegen menschliche arkane oder Fey-Manipulationen zu schützen. Die meisten seiner Logenbrüder trugen sie jetzt, doch man hatte noch keines auftreiben können, das seine Sinne nicht beeinträchtigte und ihn soweit in seiner Wahrnehmung beschnitt, dass man es schon Behinderung nennen musste. Bevor er nicht gelernt hatte, sich selbst ein passendes Schutzamulett zu erstellen, würde er wohl ungeschützt einhergehen müssen.
Er stand auf und schlich zur Tür, versuchte zu fühlen, was auf der anderen Seite lauern mochte, doch seine Sinne gaben ihm keinen Hinweis.
„Wer da?“, fragte er durch das Holz.
„Ian McMullen? Mach die Tür auf. Schnell“, antwortete eine dunkle Stimme. Er kannte sie. Ihr Besitzer hatte ihn immer schon geduzt. Er öffnete.
„Graf Arpad! Was …?“
Der schlanke Feyon trug den regungslosen Thorolf in seinen Armen. Die Kleidung des jungen Künstlers war zerfetzt und weitgehend blutverschmiert.
„Was …?“
„Wo ist sein Schlafzimmer? Wir legen ihn besser hin.“
Ohne weiteres Geplänkel winkte Ian den Vampir herein und wies auf Thorolfs Tür.
„Was ist passiert?“
„Er hatte eine Begegnung mit einem meiner Vettern und hat den zweiten Platz gemacht. Tatsächlich hätte er wohl nicht nur die Schlacht, sondern sein Leben verloren, wenn ich nicht dazwischengefahren wäre. Ich habe ihn auf seinem gottverdammten Fahrrad heimgebracht.“
„Ein Vampir auf einem Fahrrad? Das ist … ungewöhnlich.“
„Wir gehen mit der Zeit, nicht dagegen an.“
„Laut Mythos können Sie fliegen.“
„Wenn ich fliegen könnte, hätte ich nicht lernen müssen, wie man Fahrrad fährt – mit einem ausgewachsenen Mann über der Schulter. Mythos ist nichts als Annahmen, basierend auf unzusammenhängenden Eindrücken subjektiver Wahrnehmung. Aber ein Fahrrad ist ein Fahrrad.“
Ian bemerkte Staub und kleine Risse in der Kleidung des Feyons. Sein später Gast hatte Fahrrad fahren nicht gelernt, ohne herunterzufallen. Der Gedanke eines Vampirs, der vom Fahrrad fiel, war nicht wenig erheiternd, und er grinste. Ein sehr schwarzer Blick traf ihn, und er hüstelte verlegen und wurde wieder ernst.
„Ich mag Ihre Definition von Mythos“, sagte er. „Wenn Sie gestatten, werde ich sie gerne meinen Meistern weitergeben.“
„Ich gestatte nicht. Du wirst gar nichts von alldem deinen Meistern weitergeben. Nichts über Thorolf und nichts über mich.“
Der Feyon ließ seine Last sanft aufs Bett gleiten. Einen Augenblick lang legte er dem Bewusstlosen die Hand auf die Stirn. Schmale Finger strichen wilde kastanienrote Locken zurück. Die Geste verriet eine innige Vertrautheit, und die aristokratischen Profile des Bewusstlosen und seines Retters wirkten wie Spiegelbilder.
„Er ist voller Blut“, sagte Ian. „Ist er schlimm verletzt?“
„Nein.“ Der Vampir begann, Thorolf zu entkleiden, und Ian bemerkte, dass er ihm den Anzug wohl schon vorher aufgerissen haben musste. „Ich habe seine tieferen Wunden bereits geheilt. Er heilt sehr schnell. Er hat das Bewusstsein eher auf Grund des Schocks verloren, als wegen einer wirklich lebensbedrohlichen Verwundung. Ich habe ihm nicht erlaubt, wieder zu Bewusstsein zu kommen. Er hätte nur krampfhaft versucht, wieder diesem Mädchen hinterherzurennen.“
„Hatte er eine Auseinandersetzung mit einem Mädchen?“
„Nein. Er ist kaum die Art Mann, dem die Frauen Schwierigkeiten machen.“ Der Vampir klang stolz.
„Ganz der Vater, was?“
Schwarze Augen senkten sich in Ians Blick, und er schauderte.
„Ich meine fast, ich werde dir dein Gedächtnis reinigen müssen!“
McMullen erblasste und wich zurück, während ihm plötzlich die Angst in die Knochen fuhr.
„Bitte nicht“, bat er. „Ich habe herausfinden müssen, dass es äußerst unangenehm für mich ist, wenn ich manipuliert werde. Ich will Ihnen wahrlich nichts Böses.“
„Was du willst, mein kleiner Zauberer, ist unerheblich. Du unterliegst dem Diktat deiner Loge. Glaube ja nicht, dass ich das nicht weiß. Gehorsam und Aufrichtigkeit sind die Regeln, denen du dich unterworfen hast, nicht wahr?“
„Graf Arpad …“
„Halte mich nicht für einen Narren! Logen mögen nicht die gleichen Ziele haben wie die Bruderschaft, doch schließlich und endlich sind wir Gegenpole, zwei Seiten der Medaille. Wir können uns einander nicht zuwenden. Ihr forscht, und wir streben danach, im Verborgenen zu bleiben. Das Wissen, das ihr über uns sammelt, ist für uns gefährlich. Glücklicherweise sind Mythos und Aberglaube keine ausreichende Basis für die Erforschung der Wirklichkeit. Wir sind so wenige, dass unser Selbsterhaltungsinstinkt sehr ausgeprägt ist. Wie viel hast du denn deinen Zaubermeistern von deinem Fey-Erlebnis erzählt?“
Der schwarze Blick durchrieselte ihn wie Säure, und Ian schrie auf, als der unheimliche Schmerz sich ihm in das Sein brannte.
„Alles. Ich habe ihnen alles erzählt“, beichtete er, und seine Knie gaben nach. Ein starker Arm fing ihn. Eine zärtliche, schmale Hand berührte sein Gesicht, liebkoste es mit sanfter Sorge.
„Mein Junge, du musst lernen, etwas vorsichtiger zu sein. Stillschweigen ist eine hohe Tugend. Das solltest du wissen. Du warst beinahe ein Feyon, wenngleich auch nur kurze Zeit. Deine achtlose Offenheit wird dich eher Vertrauen kosten, als es dir einbringen.“
Zärtliche Finger strichen durch sein Haar, spielten mit seinen rotblonden Strähnen. Ian zischte, als seine Haut plötzlich heiß wurde als Reaktion auf den Zauber, den sein Gast gegen ihn wirkte. Er legte den Kopf zur Seite, entblößte den Hals für den viel größeren Mann. Er tat das nicht freiwillig, denn ein freier Wille war ihm nicht gegönnt, doch er fühlte sich auch nicht gezwungen. Es fühlte sich eher so an, als wäre er selbst es, der in diesem Moment nichts so sehr wollte wie genau dies. Jede Bewegung machte er gern und aus sich heraus, so schien es. Es bedurfte seiner gesamten Konzentration, sich daran zu erinnern, dass von einem Vampir gebissen zu werden nichts war, was er sich je gewünscht hatte. Geschickte Finger öffneten ihm den Kragen, liebkosten seine Kehle, seinen Hals vom Schlüsselbein bis zum Kinn.
„Sie machen mir Angst, Graf Arpad“, flüsterte er und versuchte nicht einmal, sich zu wehren. All die Legenden und Mythen über Vampire waren nun wieder in seinen Gedanken, obgleich er wusste, dass die meisten nichts als Märchen waren. Der elegante Mann vor ihm war weder kalt noch tot, sondern warm und lebendig und erheblich leidenschaftlicher, als er sein sollte. Ian hatte ihn draußen im Tageslicht gesehen, und obgleich der Feyon in direktem Sonnenlicht blind war, wusste Ian, dass er keinerlei Anstalten gemacht hatte, sich etwa in Staub aufzulösen. Ein Pfahl durchs Herz würde ihn vermutlich sehr wütend machen, aber gewiss nicht umbringen. Außerdem konnte er nicht fliegen. Er konnte Fahrrad fahren, und vom Fahrrad fallen. Diese Vorstellung genügte Ian, um einen Rest seines Verstandes beisammen zu halten. Er hielt sich daran fest.
„Unsinn. Ich mache dir keine Angst. Du hast nur ein Abenteuer, mehr nicht. Magst du keine Abenteuer mehr? Du hast sie doch einmal so gemocht.“ Eine samtweiche Frage, gestellt von einer samtweichen Stimme.
„Ich müsste schon sehr dumm sein, wenn ich wünschte, dass Sie mich meines Lebensblutes berauben, Graf Arpad.“ Ian merkte gänzlich irritiert, dass er sich erregt fühlte. Ihre Hüften berührten sich, so nah war der Vampir. Der Körper des anderen Mannes fühlte sich allzu fordernd an, allzu präsent. Ian spürte feste Muskeln durch Kleidung, einen Körperumriss, florierende Sinnlichkeit dort, wo sie eben florierte. Er hätte entsetzt sein müssen, schockiert, doch sein neugieriger Sinn war weit weniger schockiert als fasziniert. Vielleicht war es ja das, was die Loge meinte, wenn sie ihren Akolythen beizubringen versuchte, nicht ihre Zeit mit Entrüstung oder Bestürzung zu verplempern, sondern unbekannten Konzepten mit dem beständigen Willen zu begegnen, Neues zu erfahren und zu begreifen. Vielleicht war eben das auch ein Grund, warum die Loge ihren Akolythen riet, ein moralisch einwandfreies Leben zu führen.
Der Dunkle lachte.
„Aber du weißt doch, dass Menschen, von denen ich mich nähre, überleben. Meist. Sofern ich nicht will, dass sie sterben.“
„Es ist das ‚meist‘, das mich ängstigt, und das ‚sofern‘. Ich verfüge über keine Kräfte, Sie zu bekämpfen, Graf Arpad – zumindest jetzt noch nicht. Ich habe auch nicht vor, mich mit dem sinnlosen Versuch zu erniedrigen. Aber vielleicht sollten Sie sich noch einmal überlegen, ob Sie mich wirklich hier im Schlafzimmer Ihres eigenen bewusstlosen Sohnes umbringen möchten. Er würde sich wohl an einen anderen Mitbewohner gewöhnen müssen – und wir verstehen uns so ausnehmend gut.“
„Dich zu töten liegt nicht meine Absicht, Junge. Das weißt du auch.“ Eine Hand strich ihm über den Rücken. „Ein kleiner Aderlass würde dir nicht schaden, und ich habe heute Nacht noch nicht gejagt. Zu viele Familienangelegenheiten.“
„Wenn es dazu beiträgt, dass sie ihre Gelassenheit wiedererlangen, Graf Arpad, so lade ich Sie natürlich gerne ... zum Nachtmahl ... ein. Ich weiß wohl, dass Sie kühl und überlegt handeln können, und ich helfe Ihnen gern dabei, kühl und überlegt zu sein, denn genauso brauchen wir Sie im Moment. Wer bin ich schon, der Ihnen unter diesen Umständen etwas verweigern würde?“
Die Umarmung wurde intensiv. Sanfte Lippen fuhren Ians Hals entlang. Im nächsten Augenblick saß der Graf auf der Bettkante und betrachtete seinen Sohn. Die Lippen des Vampirs umspielte ein allzu süßes Lächeln.
„Sehr tapfer und besonnen, McMullen. Ich mag dich.“
„Danke, Erlaucht. Ich habe es bemerkt.“
Der Vampir kicherte.
„Bist du jetzt schockiert? Ich mag Frauen. Das heißt aber nicht, dass ich Männer nicht mag.“
Ian sagte nichts.
„Du magst Mädchen auch, nicht? Trotzdem würdest auch du nichts dagegen haben, deinen Erfahrungshorizont in die andere Richtung zu erweitern. War das schon immer so? Oder hat dich das kleine Abenteuer mit einem Traumweber in dieser Hinsicht verändert? Träume sind so regelwidrige Dinge – unsubtil und ganz und gar unberührt von etwelchen moralischen Grundsätzen, die gerade in Mode sind. Träume sind Verräter. Sie geben die Wünsche des Herzens preis – und die des Körpers.“
Ian überlegte sich, ob er dies alles bestreiten sollte, doch er wusste, dass das nutzlos war. Sein schwarzäugiger Gast konnte in seiner Seele lesen. Er hatte vermutlich zudem gespürt, wie Ians Körper reagiert hatte, ja es ausgelöst. Es war Teil seiner Kunst, und Ian würde sich zu einem späteren Zeitpunkt immer noch darüber entrüsten können. Nur jetzt war es nicht opportun.
„Das Abenteuer mit dem Traumweber hat meinen Geist in viele Richtungen hin erweitert und mir neue Einblicke verschafft. Die Unterweisung, die wir in der Loge erhalten, hält uns außerdem dazu an, allem Neuen gegenüber offen zu sein.“
„Allem Neuen gegenüber offen? Bezieht sich das auf geistige Horizonterweiterung oder auf körperliche Erfahrungen im Bereich der Leidenschaft? Ich möchte wetten, du hast deine neue ‚Offenheit‘ deinen Meistern in der Loge nicht mitgeteilt.“
Das hatte er tatsächlich nicht. Es hatte auch nichts gegeben, was er hätte mitteilen können. Er hatte keinerlei Erfahrungen auf fleischlichem Gebiet. Ganz anders als der Sohn des Vampirs, war er tatsächlich ein ‚unschuldiger Jüngling‘, und was seine Präferenzen für das eine oder andere Geschlecht anging, so hatte er bewusst noch nicht darüber nachgedacht. Es war ohnehin sehr viel sicherer, nicht über Leidenschaft und Liebe nachzugrübeln, wenn man gerade dazu angehalten wurde, auf entsprechende Erlebnisse komplett zu verzichten.
„Akolythen werden dazu ermuntert, ein zölibatäres Leben zu führen, Erlaucht. Selbst wenn ich meine neu gewonnene Offenheit bereits festgestellt hätte, was ich nicht hatte, gab es also keinen unmittelbaren Anlass, irgendetwas dazu zu sagen.“
„Dann wissen wir doch immerhin, dass du schweigen kannst, wenn dir etwas wichtig genug ist“, fuhr Graf Arpad leichthin fort. „Das ist gut. Denn es wäre mir ungenehm, einen Geist zu verbiegen, der so brillant ist wie der deine. Man muss für brillante Menschen dankbar sein. Es gibt so verdammt wenige. Sie machen diese Menschenwelt erst hell. Komm her!“
Ian trat vor und kniete sich gehorsam vor den Vampir. Ob er das aus freien Stücken tat, oder ob der Mann ihn mit seiner Macht dazu veranlasst hatte, wusste er nicht. Seine Haut brannte noch von der Übermacht des letzten Zaubers, doch das Gefühl wurde bereits schwächer, verwandelte sich in ein vorfreudiges Prickeln, das seinen ganzen Körper befiel. Es war nicht angenehm. Doch man konnte es weiß Gott auch nicht unangenehm nennen. Zumindest war es verwirrend und ein wenig peinlich.
Der Graf legte eine Hand mit ausgefahrenen Krallen auf Ians Brust, und Ian hörte, wie sein eigenes Blut in gurgelndem Rhythmus durch seinen Körper pumpte. Es war ein unheimliches Geräusch, das den Eindruck erweckte, es könne jeden Augenblick aufhören. Es verdeutlichte auch, was der andere Mann hörte, eine sprudelnde Quelle, von der er sich Erfrischung holen konnte.
„Schwöre, dass du meinen Sohn nicht verraten wirst. Sprich die Worte und wisse, dass dieser wunderbare blutpumpende Muskel in deiner Brust dir in demselben Augenblick seinen Dienst versagen wird, in dem du Thorolf untreu wirst oder ihn verrätst. Oder mich. Schwöre! Jetzt gleich.“
„Ich schwöre, dass ich niemals illoyal zu Ihrem Sohn oder zu Ihnen sein werde, Graf Arpad“, sagte Ian und versuchte, nicht daran zu denken, was er bereits verraten hatte.
Der Feyon nahm die Hand von ihm und lächelte.
„Gut“, sagte er. „Dann werden wir ihn jetzt wecken. Am besten, du holst ihm etwas zu trinken. Wasser. Er wird es wohl brauchen können.“
Ian erhob sich und verließ den Raum. Als er zurückkam, ein Tablett in den Händen, war Treynstern wach und starrte Arpad wütend an.
„Ich habe dich nach Hause gebracht“, sagte der ruhig. „Hier ist dein Freund mit etwas zu trinken.“
Der junge Künstler setzte sich auf und verzog schmerzerfüllt das Gesicht. Er sah schwach aus, aber auch ziemlich aufgebracht.
„Woher wussten Sie, wo ich wohne?“
„Ich habe immer gewusst, wo du zu finden warst. Dein Leben lang. Du hast mich nie gesehen, doch ich habe dich oft beobachtet. Familienpflichten. Die Sí kümmern sich ebenso gut um ihren Nachwuchs wie die Menschen. Besser, bisweilen.“
Thorolf zuckte zusammen und warf Ian einen angsterfüllten Blick zu.
„Um deinen Wohnungsgenossen musst du dir keine Sorgen machen. Er ist sehr aufgeschlossen und offen für alle möglichen neuen Eindrücke, das hat er mir versichert. Er wird dich nicht verraten. Dafür habe ich gesorgt. Jetzt trink etwas. Man sagt ja, dass nichts über ein frisches Glas Wasser gehen soll.“
„Eigentlich habe ich ihm einen Schnaps gebracht“, sagte Ian.
„Umso besser.“
Thorolf kippte die Flüssigkeit hinunter und blamierte sich nicht, indem er etwa gehustet hätte.
„Haben Sie das Mädchen gefunden?“, fragte er dann. Die Frage klang intensiv und beinahe gehetzt. Er war offenkundig sehr besorgt.
„Nein. Ihre Spur verlor sich.“
„Haben Sie überhaupt richtig gesucht?“ Die Frage war voller Anschuldigung und recht unverschämt, und Ian machte sich Sorgen, wie der Vampir auf so viel mangelnden Respekt seines Sohnes reagieren würde. Er schien nicht die Art Mann zu sein, die jemandem gestattete, sich Frechheiten ihm gegenüber herauszunehmen. Doch Graf Arpad klang sehr geduldig.
„Ich habe nach ihr gesucht. Sie war verschwunden.“
„Sie konnten sie nicht finden?“
„Sie war nicht da. Wäre sie in der Nähe gewesen, hätte ich sie gefunden.“
Thorolf schwang seine Beine aus dem Bett und bemerkte, dass er nur teilweise bekleidet war und noch einige Kratzern aufwies. Er sah an sich hinunter und schnaubte dann verächtlich.
„Ich ziehe mich an und gehe sie suchen.“
„Das ist sinnlos!“ Die Stimme des Vampirs klang trügerisch sanft. „Sie ist fort.“
„Das glaube ich nicht! Sie haben nicht richtig nach ihr gesucht! Es war dunkel.“ In Treynsterns Stimme schwang Panik.
„Für mich ist es nie dunkel, und ich hätte ihre Anwesenheit gespürt, wenn sie da gewesen wäre.“ Graf Arpad legte eine tröstende Hand auf Thorolfs Schulter, der sie ärgerlich abschüttelte. „Es tut mir leid, mein Sohn. Wir können nichts tun. Sie ist fort.“
Thorolf verbarg das Gesicht in seinen Händen. Steif wie ein Fels saß er da. Bewegungslos vor Trauer.
„Sie wollen sagen, dieses Ding hat sie bekommen.“
„Das ist möglich, doch ist es nicht die einzige Möglichkeit.“
„Es hat die Klauen in ihren schönen, jungen Körper getrieben, ihr das Fleisch von den Knochen gerissen und seine hässlichen Fratzen über ihr Antlitz gebracht, um ihr die Seele auszusaugen?“
Er klang harsch und voller Hass. Seine Worte malten eine Szene, die Ian deutlich vor seinem inneren Auge sehen konnte. Er fand, dass auch er einen Schnaps brauchen konnte.
„Es tötet selten beim ersten Mal. Wie mir auch ist es ihm lieber, sich zu nähren, ohne eine Spur von toten Leibern zu hinterlassen. Wunden kann es heilen, wenn es das will. So wie ich auch. Es sah so aus, als wollte es diese Nacht töten. Dich jedenfalls hätte es getötet. Du hast es sehr wütend gemacht. Vielleicht hätte es das Mädchen am Leben gelassen. Es gibt andere Dinge, die man mit hübschen Mädchen anstellen kann.“
„Sie meinen doch nicht … Sie können doch nicht wirklich meinen …“ Schieres Entsetzen zügelte Thorolfs Worte.
„Manche von uns habe mehr als eine Möglichkeit, wie sie in der Welt in Erscheinung treten können, mein Sohn.“
„Ich verstehe nicht ...“
„Ich weiß. Dafür bist du zu sehr Mensch, zu modern, zu aufgeklärt. Aber wir wissen nicht, ob es sie gefangen hat oder nicht. Ich habe sie nicht finden können. Vielleicht konnte es das auch nicht.“
„Eine nicht sehr wahrscheinliche Aussicht.“
„Zugegeben.“
„Das Spinnending ist möglicherweise mächtiger als Sie.“
„Das ist es unbestritten. Es ist älter und hat viel mehr Tricks auf Lager.“
„Wovon redet ihr?“, unterbrach Ian.
„Eine Spinne“, flüsterte Thorolf. „Eine gottverdammte Spinne, so groß wie mein Fahrrad. Größer. Übrigens, wo …“
„Dein Vater ist darauf heimgeradelt.“
Thorolf starrte seinen neu hinzugewonnenen Verwandten an.
„Ein Vampir auf einem Fahrrad? Das ist …“
Arpad schüttelte den Kopf und seufzte.
„Auch für dich noch einmal: Ich kann nicht fliegen. Ich kann mich nicht in eine Fledermaus verwandeln. Ich bin nicht untot. Ich kann Fahrrad fahren. Eine ungemein unbequeme Art der Fortbewegung übrigens.“
„Aber ein armes, verfolgtes Mädchen finden, das um sein Leben rennt, können Sie nicht.“
Der Künstler drehte sich plötzlich fort und durchwühlte ein Schubfach seines Nachttisches. Augenblicke später hielt er einige Skizzenblätter in der Hand und schob sie seinem Vater in die Hände.
„Hier. Das ist sie. Ich habe mein ganzes Leben lang auf sie gewartet, und jetzt wollen Sie mir erzählen, dass es sie nicht mehr gibt?“ Ein rauer, verzweifelter Ton schwang in seiner Stimme. Die sonst so männliche Ausstrahlung, die den gutaussehenden Mann umgab, war verschwunden; geblieben war der unglückliche Junge.
Arpad besah sich die Zeichnungen sorgfältig, eine nach der anderen. Seine perfekten Augenbrauen hoben sich verwundert.
„Du bist gut. Hast du sie vor diesem Tag nie gesehen?“
Thorolf schüttelte den Kopf.
„Ein ausgesprochen süßes Mädchen“, fuhr der Dunkle fort. „Auf den letzten Bildern sieht sie ängstlich aus, verunsichert.“
„Ich konnte sie in der letzten Zeit nicht lachend zeichnen. Warum, weiß ich nicht.“
Ian eilte ins Wohnzimmer und kam mit mehr Zeichnungen zurück.
„Vielleicht hatte sie nichts mehr zu lachen“, sagte er und streckte Arpad weitere Bilder entgegen.
Der begutachtete sie mit gehobenen Augenbrauen.
„Nun“, sagte er, „du hast offensichtlich auch unseren Freund, die Drude, schon gezeichnet, bevor du sie getroffen hast. Doch die Frau am Boden ist nicht das Mädchen, das du gesehen hast. Das ist die Frau mit dem hübschen, einladenden Dekolleté, die im Tombosi war. Oh, und ein sehr gelungenes Bild von mir. Wie begabt du bist, zeichnest all die Dinge, die dir noch nicht begegnet sind. Wenn du als Künstler nicht genug Geld verdienen kannst, könntest du dich immer noch als Wahrsager verdingen. Nur scheint das nicht geraten. Es würde die Aufmerksamkeit von genau jenen Leuten auf dich ziehen, denen du besser aus dem Weg gehen solltest.“
Thorolf stand auf und ging steifbeinig zum Fenster, während er sich weiter der zerfetzten Überbleibsel seiner Kleidung entledigte.
„Ich kenne nicht mal ihren Namen“, sagte er nach einer Weile leise. „Nicht einmal das.“
Hinter ihm erhob sich Arpad vom Bett.
„Ich werde versuchen, ob ich mehr herausfinden kann. Doch ich kann dir nichts versprechen. Ich werde dich wieder besuchen.“
„Ausgezeichnet!“, brummte Thorolf wütend, ohne sich umzuwenden. „Genau was ich brauche. Mehr Besuche von einem elterlichen Blutsauger.“
Graf Arpads Gesicht zuckte, und Ian sog vorsichtig den Atem ein und machte sich bereit davonzurennen. Davonrennen schien ihm mit einem Mal eine sehr vernünftige Maßnahme zu sein. Obgleich es vermutlich sinnlos war. Das dunkle Wesen konnte seine Beine mitten in der Bewegung anhalten mit nichts als einem Gedanken. Außerdem sollte er nicht Fersengeld geben. Er sollte lieber seinem Freund helfen. Er sollte das Übernatürliche mit innerer Ruhe und Gelassenheit angehen. Schließlich war er ein Akolyth der Aroria-Loge. Allerdings auch gänzlich hilflos.
„Thorolf, geh schlafen“, sagte der Feyon nur. „Oder noch besser, betrink dich. Ein solider Kater wird deine Laune verbessern. Verschlimmern kann er sie nicht.“
„Ist das ein väterlicher Ratschlag?“
„München verfügt auch über einige sehr nette Vergnügungshäuser, in denen hübsche Mädchen ihre ganze Kunst aufbieten, um dich deine Sorgen zwischen ihren Schenkeln vergessen zu lassen. Ich könnte dir einige zeigen. Ich kenne sie alle.“
Ian schluckte. Sein Vater hatte solcherart Vergnügungsstätten nie erwähnt. Doch er war schließlich auch ein aufrechter schottischer Presbyterianer und nicht ein Stück verführerischer Dunkelheit, das einem die moralische Basis unter den Füßen wegzog, so dass man nicht mehr wusste, was man wollte oder sollte.
„Dir auch, McMullen“, fuhr der Graf lächelnd fort. „Ich halte nichts von den Vorzügen des Zölibats. Gar nichts. Den Weg in ein Mädchen zu finden ist allemal besser, als sich verloren zu fühlen.“
In diesem Moment verlor Treynstern die Fassung endgültig und schlug nach dem Mann, der sein wahrer Vater war. Er bekam ihn nicht zu fassen. Der Vampir war viel zu schnell. Ian wich aus der Kampfzone und sah den beiden beeindruckenden Männern zu. Der Künstler war der geringfügig Größere, zudem war er massiver gebaut. Seinen sehnigen, durchtrainierten Körper konnte man durch die Reste seiner zerfetzten Kleidung deutlich erkennen. Er sah aus, als könne er einen solchen Kampf mit Leichtigkeit gewinnen, doch seine Hiebe erreichten kein einziges Mal ihr Ziel. Nachdem er eine Weile nichts außer Schatten getroffen hatte und dabei in seinen Bewegungen immer wütender geworden war, fand er mit einem mal seine Fäuste in schlanken Händen gefangen wieder, wo sie unverrückbar festgehalten wurden. Er bebte vor Anstrengung, sich loszureißen, Schweißperlen liefen ihm über den Körper. Sein Gesicht war vor Zorn verzerrt.
Einen Augenblick später sackte er zusammen, fiel fast in die Arme des dunklen Widersachers, der ihn sanft festhielt.
Der keuchende Atem des jungen Mannes war für eine Weile das einzige Geräusch. Der Vampir war nicht außer Atem.
„Geht es dir jetzt besser?“, fragte er dann. „McMullen, hol ihm noch ein Glas von dem Zeug. Thorolf, setz dich.“
Thorolf stürzte ein weiteres Glas Schnaps hinunter. Seine Hände zitterten.
„Liebe stellt sich auf unterschiedlichste Weise ein, mein armer Sohn. Du liebst jemanden, den du nie getroffen hast, außer für einen einzigen Moment in der Nacht. Ein Menschenvater würde dir jetzt erklären, dass diese Liebe nichts bedeutet, nur ein flüchtiger Traum ist. Aber ich bin kein Mensch, und verstehe durchaus, dass dein Herz sich lange nach ihr gesehnt hat. Vielleicht war sie für dich auserkoren. Vielleicht sollte sie auch nur deine lebenslange Qual sein, der Stachel in deinem Fleisch, der dich brillante Bilder malen lässt, anstatt nur hübsche, gefällige. Ich werde herausfinden, was ich kann. Darauf kannst du vertrauen. Ich will nicht, dass du dich an der Suche beteiligst, denn dann könntest du unseren Achtbeiner, die Drude, wiedertreffen. Du hast sie geärgert. Spinnenwesen mögen das nicht, sie sind nicht an Empfindungen gewöhnt. Dies war eine lange und schwierige Nacht für dich. Vermutlich tut dir noch alles weh. Trink noch ein wenig Wasser. Versuch zu schlafen. Ich komme wieder.“
Er stand auf und wandte sich zum Gehen. Schwarze Augen bohrten sich in Ians Blick.
„McMullen, du wirst auf ihn achtgeben?“
„Ja, Erlaucht. Das werde ich.“
Der Vampir schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, das Ian ein wenig atemlos zurückließ. Der Sí verließ das Schlafzimmer seines Sohnes und steuerte auf die Wohnungstür zu. Ian folgte ihm.
„Guter Kerl. Vergiss nicht, was du mir versprochen hast“, flüsterte der Vampir.
„Ich werde mich vor allem daran erinnern, was Sie mir versprochen haben. Ich mag es, wenn mein Herz schlägt.“
„Ich auch. Schließlich hat es die wunderbare Aufgabe, all das wunderbare Blut durch deine Adern zu pumpen.“ Ein süßes Lächeln zierte das aristokratische Gesicht. Ein einzelner Finger strich Ian über die Wange. „Wir werden uns wiedersehen.“
Es klang wie ein Gelöbnis, und Ian kämpfte plötzlich gegen ein Gefühl zweischneidiger Vorfreude an. Er wurde manipuliert. Das musste es sein, sonst nichts.
„Eines noch. Was ist eine Drude?“
Der Vampir lächelte.
„Schlag es in den Folianten deiner Logenbibliothek nach. Vermutlich wird dort stehen, dass es sich um eine Jungfrau handelt, die von einem bösen Geist besessen ist, der sie zwingt, Männer zu belästigen, indem sie ihre schlafenden Leiber besteigt, sich breitbeinig über sie kniet und ihnen ihre Kraft und Stärke dadurch stiehlt, dass sie ihnen entweder die Seele oder den Atem aussaugt. Die ländlichen, selbsternannten Kapazitäten, was Zauberei und Blendwerk angeht, empfehlen daher dringend die Defloration jeder Jungfrau in unmittelbarer Umgebung. Aus Sicherheitsgründen, versteht sich.“
„Das ist eine Drude?“
„Nicht einmal näherungsweise, mein lieber Mr. McMullen. Nicht einmal näherungsweise. Dennoch wird die Defloration von Jungfrauen in diesem Lande immer wieder gern praktiziert, ganz besonders in ländlichen Gebieten.“
Einen Augenblick später war der schattenhafte Mann verschwunden. Ian fiel ein, dass er ihn nicht nach den Energielinien gefragt hatte. Stattdessen hatte er der eleganten, schmalen Gestalt nachgeblickt, wie sie mit der Dunkelheit verschmolz, und hatte dabei eine Art unerklärlichen Abschiedsschmerz gespürt.
„Verdammt.“