Kapitel 69

Lord Edmond hatte es vermieden, den beiden Gefangenen in Asnahids Reich zu begegnen. Geographische Begebenheiten waren ohnehin eher subjektiv auf dieser Ebene, und man fand seinen Weg primär dadurch, dass man sich sein Ziel definierte. Die beiden zu treffen war weit weniger prickelnd, wenn sie ihm doch nicht zur Verfügung standen. Oder zur Nahrung. Der Mensch stand unter dem Schutz der Macht, aus welchen unerfindlichen Gründen auch immer, und der Vetter stellte ohnehin nichts weiter als eine Komplikation dar, wenngleich er auch jünger und schwächer war und weitaus tiefer in die Geschicke der Menschenwelt verstrickt als Lord Edmond. Sicher war er auch weniger gewieft, weniger trickreich oder mächtig.

Eine Diskussion um das Schicksal seines Sohnes – sollte der Farfola Lord Edmonds Eingreifen in dessen Schicksal irgendwie spüren – wäre denn auch im besten Falle reine Zeitverschwendung gewesen und im schlimmsten Falle ein Grund für einen sinnlosen Kampf. Vergeudete Energie, und Energie war kostbar. Lord Edmond zweifelte keinen Moment an seiner kämpferischen Überlegenheit, doch er wusste, dass der Beschützerinstinkt gegenüber der Nachkommenschaft nicht nur Menschen zu ungeahnten Leistungen beflügelte. ‚Ich würde einen Kampf um das Leben meines eigenen Sohnes nicht verlieren, hatte der Vampir ihm versichert, als er ihm das letzte Mal begegnet war. Es mochte immerhin sein, dass die Instinkte des Blutsaugers ihm vermitteln würden, dass Lord Edmond einen Weg gefunden hatte, dem Halbblut effektvoll zu schaden, ohne es auch nur anzufassen.

Etwas hatten den Weißhaarigen beunruhigt, als er aus dem Nebelreich in sein Wohnzimmer trat. Es hatte sich angefühlt, als öffne sich gleichzeitig ein zweites Tor in die Menschenwelt. Das war ganz und gar unwahrscheinlich, jedoch nicht unmöglich. Asnahids Reich war riesig und nicht gänzlich leer. Andere Kreaturen wie die Macht lebten an den Grenzen des Seins, so weit wie möglich von Asnahid entfernt. Zumeist.

Sollte eines jener Wesen genau zu diesem Zeitpunkt beschlossen haben, die Menschenwelt zu erkunden, würde das größere Komplikationen zur Folge haben. Asnahid würde das nicht mögen, es unterbinden und dabei vermutlich mit ausnehmend großer Rücksichtslosigkeit vorgehen – egal, ob es sich um einen nahen Verwandten handelte oder nicht.

Lord Edmond betrat sein Wohnzimmer. Stephan stand bewegungslos in einer Ecke und starrte vor sich hin.

„Mantel, Hut und Stock“, befahl Lord Edmond. „Ich gehe aus. Gab es etwas Besonderes?“

„Ein Herr hat geklingelt, als Sie fort waren.“

„Was wollte er?“

„Er suchte einen Mann namens Schmidt.“

„Schmidt. Wie einfallslos. War er ein Mann Mitte dreißig, schulterlanges Haar, unauffällig gekleidet und ausgesprochen neugierig?“

„Ja, Herr.“

„Gehe ich recht in der Annahme, dass du nicht auf den guten Gedanken gekommen bist, den Besucher unauffällig und für immer verschwinden zu lassen?“

„Ja. Nein.“ Stephan schien von der Frage verwirrt.

„Damit willst du sagen, dass er sich noch bester Gesundheit erfreut? Leichtsinnig, mein guter Stephan. Sehr nachlässig. Kraucht er immer noch in der Gegend herum?“

„Nein, Herr.“

„Das ist schade. Wenn er noch einmal kommt, sei so gut und räume ihn aus dem Weg. Gib gut acht, dass dich niemand dabei sieht, und bewahre die Leiche auf, bis ich wieder da bin.“

„Sehr wohl.“

„Sonst noch etwas?“

„Letzte Nacht gab es Aufregung im Treppenhaus. Man diskutierte einen Traum.“

Lord Edmond lachte.

„Weißt du, welchen?“

„Nein, Herr. Ich träume nicht.“

„Natürlich nicht. Dafür solltest du dankbar sein. Du erfreust dich meines Schutzes.“

„Ich bin dankbar.“

„Das ist nett.“

Lord Edmond warf den Mantel um sich und verließ seine stilvolle Bleibe. Wenn man Menschen etwas Positives nachsagen konnte, dann war es das, dass die schmackhaften kleinen Wesen einen Sinn für Schönheit besaßen.

Auf der Straße hielt er inne und sah sich um. Er konnte sie fast spüren, die Unbill in der Atmosphäre. Sterbliche waren zu jeder Zeit sterblich, doch es gelang ihnen gemeinhin, diese Tatsache weitläufig zu ignorieren. Sie lebten von Tag zu Tag und verschwendeten ihre kurz bemessene Erdenzeit an ihre nebensächlichen Unterfangen. Heute allerdings hing der Geruch von Untergang und Tod schwer in der Frühlingsluft. Im christlichen Glauben verhieß, und dessen war sich Lord Edmond durchaus bewusst, das Erscheinen eines mehrköpfigen Ungeheuers das Weltenende. Er hatte das immer sehr amüsant gefunden und fragte sich, ob damals, als diese Religion ihren Anfang nahm, einer der Menschen, deren Seele er gekostet und die er bis zum Wahnsinn geängstigt hatte, eventuell den Namen Johannes getragen hatte.

Allerdings war er nicht das einzige mehrköpfige Wesen im Universum. Vielleicht brauchten Menschenwesen gar nicht die Unterstützung der Sí, um sich etwas so Verschrobenes wie die Apokalypse auszudenken, und letztlich hatten die Erfindungen der Menschen eine gute Chance, wahr zu werden. Die Energie zielgerichteten Glaubens war ein wundersam starkes Instrument.

Fakt blieb, dass Menschen ihn fürchteten. Dabei hatten sie mehr als das Bild, das der talentierte Bastard gezeichnet hatte, gar nicht gesehen. Doch das war einerlei. Ihre Angst fußte auf der plötzlichen Einsicht, dass das Unwahrscheinliche nicht in jedem Fall unmöglich war. Zu jeder Zeit eine zutiefst beunruhigende Erkenntnis.

Die Straßen waren fast leer. Er hörte die Glocken einer nahen Kirche die Gläubigen zum Gebet rufen. Dieser Tag gehörte den Pfaffen. Sie würden Ernte halten inmitten der wuchernden Furcht und Reue, würden Buße austeilen und Almosen sammeln. Ablassbriefe waren außer Mode, doch das System funktionierte noch, weil die Sünder wollten, dass es funktionierte. Die Klingelbeutel der Gemeinden würden überlaufen, und die Kerzengießer Überstunden machen müssen.

Er schmunzelte. Die Luft vibrierte vor Furcht, und er kostete sie mit Wonne. Doch er hatte Dinge zu erledigen. Asnahid würde es nicht gutheißen, wenn er ohne Resultat zurückkam. Allerdings mochte ein Traumweber schwer zu finden sein.

Sein Blick fiel in die leere Seitenstraße, in der sein wissbegieriger Verfolger sich vor ihm zu verstecken versucht hatte. Er war nicht einmal ungeschickt dabei vorgegangen. Doch ein kleiner Menschenmagier war letztlich kein Gegner für Lord Edmond.

Er ging die Straße entlang und streckte die Finger aus. In seiner Spinnengestalt wäre dies einfacher gewesen, doch wenn er jetzt als Riesenspinne durch die Münchner Straßen zog, würde er nur noch mehr Aufruhr verursachen.

Die Spur konnte er ausmachen. Männlich, kein ganz junger Mann mehr, doch noch nicht alt. Willensstark. Jemand, der sich gerne in fremde Angelegenheiten einmischte. Ein Arkanwissenschaftler auf Erkundung.

Lord Edmond beschleunigte seine Schritte. Er sollte besser den Traumweber suchen. Er wusste allerdings nicht, wo er anfangen sollte zu suchen. Doch die Welt war ein Netz, und irgendwo zog eine Fliege an einem Seidenfaden. Hängengeblieben. Jetzt galt es, sie auszumachen. Er war sich auf einmal sicher, dass es eine gute Idee wäre, zunächst dem Magier nachzulaufen, der wiederum ihn verfolgt hatte.

Instinkt ließ sich nicht erklären. Doch wie die meisten Fey musste er etwas nicht erklären, um es anzuwenden und an seine Wirksamkeit zu glauben. Er lief, schmeckte beinahe den Weg, den der Mann genommen hatte, um den Häuserblock, durch das Haus, wieder hinaus, fort von den Treppen, schnell diesmal, hastig, als hätte der Mann mit einem Mal die Gefahr begriffen, in der er sich befand.

Nicht schlecht.

Lord Edmond lächelte und durchmaß schnell die sonnigen Straßen der bayerischen Hauptstadt. An einem anderen Tag hätten sich die Passanten vielleicht über seine Hast gewundert, doch heute waren alle Menschen zu sehr mit sich selbst und mit ihren Problemen beschäftigt. Sie zählten ihre Sünden, hielten Ausschau nach höllischen Zeichen oder liefen ein wenig zu schnell für jemanden, der versuchte, sich gänzlich unbeeindruckt zu geben.

Es dauerte eine Weile, dann erreichte er ein Haus, in das die Spur verlief. Auf der Schwelle desselben Hauses fand er die Webspuren des Traumes. Wie zerbrochenes Glas lagen die Scherben unsichtbar auf dem Boden, zu sehen nur für Wesen mit entsprechend hoher Wahrnehmung, die fühlen konnten, um was es sich hier handelte.

Traumweber waren gemeinhin uralt. Doch wer hier gesessen und Bilder verwoben hatte, war ungeschickt und unerfahren gewesen. Kein reinblütiger Feyon hatte diesen Traum ausgesandt.

Doch ein Mensch konnte es auch nicht gewesen sein. Die Art und Weise, wie dies begonnen worden war, ging über menschliches Vermögen weit hinaus.

Zumindest hatte er das immer geglaubt. Nun allerdings sollte er sich besser neu damit beschäftigen.

Das Türschloss zerfiel unter seinem Spinnenblick zu Rost. Lord Edmond rannte die Treppen hoch, ignorierte ein weiteres Schloss, stand schließlich in einer Wohnung. Er ging von Raum zu Raum, nahm Witterung auf und begann zu lächeln. Ein Bastler am Rande arkaner Macht. Doch er war es nicht gewesen, der den Traum ausgesandt hatte, obgleich derjenige sich vor gar nicht langer Zeit in diesen Räumen aufgehalten hatte.

Nun folgte er der Spur des Traumwebers und fand sich nach kurzer Zeit vor dem Haus wieder, in dem er das Halbblut wegen eines Bildes besucht hatte, das nun nie gemalt werden würde. Eine frische Fährte führte aus dem Gebäude und mit ihr, ganz leicht und kaum wahrnehmbar, der Duft der Katze.

Er nahm sich nicht die Zeit, ins Haus zu gehen und die Wohnung zu überprüfen. Das hatte keine Priorität. Die Spur des jungen Mannes war frisch. Der Halbblutbastard teilte seine Wohnung mit einem anderen. Dies musste der Sender des Traums sein. Wie eigentümlich und irgendwie passend, dass sich eine grenzüberschreitende Missgeburt ausgerechnet mit einem Mann zusammengefunden hatte, der gut und gern etwas Ähnliches sein mochte.

Der Duft war rein menschlich. Ihm haftete nichts Nichtmenschliches an. Ein Rätsel. Lord Edmond mochte Rätsel. Wenn er sich mit einem schwierigen Problem befasste, verspürte er fast so etwas wie Erregung. Das war ein nettes Gefühl. Der Nachteil war, dass er über die Jahrtausende hinweg so gut darin geworden war, Rätsel zu lösen, dass das bisschen Spannung, das ihm so wichtig war, nun immer so schnell wieder erlosch. So blieb die einzige Emotion, die ihm nach wie vor die Treue hielt, die Frustration darüber, dass er nichts fühlte.

Ein Menschenwesen, das wie ein Traumweber Träume sandte. Diese Kunst hatte so gar nichts gemein mit den sogenannten Arkanwissenschaftlern und ihren Fummeleien an der Wirklichkeit. Deren Ansatz gegenüber dem, was sie als übernatürlich ansahen, war steif und ordentlich, fast akribisch. Doch das Stück Traumweberei von letzter Nacht war wild gewesen und chaotisch.

Ganz von allein wurde sein Schritt noch schneller. Er näherte sich einer Lösung, spürte instinktiv, wie die Erwartung nahenden Geschehens seine Fingerspitzen zum Vibrieren brachte. Seine hungrige Schattenseele summte fast, als er spürte, wie er seiner Beute näher kam. Er war sich sicher, dass er die Aura des rätselhaften Jünglings schon spüren können sollte, seine Ausrichtung, sein Gegenwart, seinen genauen Aufenthaltsort.

Er hielt wie versteinert inne, als er erkannte, welchem Haus er sich näherte. Die Fährte führte die Treppe hoch zum Eingang und verlor sich dahinter vollständig. Sogar für ihn war es unmöglich, die kombinierte Macht einer ganzen Magierloge zu ignorieren, die den Schutzbann um das Gebäude aufrechterhielt. Es würde unendlich viel Anstrengung und Energie kosten, um dort hindurchzubrechen, und diese Energie würde nicht unentdeckt bleiben. Das Letzte, was er wollte, war, eine ältliche Herde bücherverschlingender Zauberkünstler auf sich aufmerksam zu machen. Immer vorausgesetzt, sie wussten nicht längst über ihn Bescheid, informiert durch jenen einen, der zu Dingen fähig war, die weder Lord Edmond noch Asnahid in einem Menschen zu finden geglaubt hatten. Ein verfluchter Traumweberdilettant.

Er musste mit Asnahid reden, bevor er etwas Drastisches unternahm.

Einen Augenblick lang betrachtete er noch das Haus, dann sah er sich auf der Straße um.

Er erblickte die Katze, als sie aus dem Fenster sprang, und im nächsten Moment verschmolz er mit seiner Umgebung. Das Kätzchen rannte an der Mauer entlang, die den winzigen Vorgarten eines einfach aussehenden Mietshauses einzäunte, sprang dann auf die Straße und schoss geradewegs auf das Logengebäude zu. Die Katze hatte ihn fast erreicht, als sie seiner gewahr wurde, wie er da mitten im Sonnenschein im eigenen Schatten verborgen stand.

Sie versuchte anzuhalten, schlitterte und krallte über den Boden, jaulte und drehte sich um – alles in einem einzigen Augenblick. Schon war sie flugs in die entgegengesetzte Richtung unterwegs, ohne noch auf den Fuhrverkehr zu achten. Einen Augenblick später war der Bierwagen, den vier gigantische belgische Kaltblüter zogen, schon über ihr. Sie schrie.