Kapitel 82
„Ich reise morgen ab“, sagte Sophie. „Sobald ich den Transport des Sarges organisiert habe.“
„Mutter! Ich weigere mich, im Sarg im Gepäckwagen zu reisen.“
„Dann müssen wir ihn mit etwas Schwerem bestücken. Aber da du nun mal gestorben bist, muss ich mit einem Sarg nach Hause reisen. Man sollte uns außerdem besser nicht zusammen sehen, bis wir nicht das Land verlassen haben.“
„Das weiß ich.“
Charly zerging fast vor Ungeduld. Sie hatte ihren Mann wieder. Joseph hatte ihm ins Haus geholfen, und Arpad hatte ihn nach oben getragen mit den sarkastischen Worten:
„Da bringe ich dir deinen Gemahl zurück. Er sollte sich dringend ausruhen. Er ist vermutlich sehr erschöpft. Jedenfalls hat er allen Grund dazu.“
Allerdings hatte Asko nicht erschöpft ausgesehen. Wütend und ärgerlich hatte er gewirkt. Charly hatte gleich zu ihm laufen wollen, doch ihre Gastgeberpflichten verlangten, dass sie sich zuerst um ihre Gäste kümmerte. Asko würde von ihr erwarten, dass sie ihren Pflichten nachkam.
Sie hatte nach Sutton gefragt, der nicht in der Kutsche gewesen war, die Joseph in den frühen Morgenstunden in den Hof gefahren hatte. Er sei direkt zur Loge gegangen, hatte man ihr mitgeteilt, und dass die Loge nun wieder von allen widrigen Einflüssen befreit sei.
Eine lange Nacht des Wartens war alldem vorausgegangen. Charly und Sophie waren aufgeblieben, zu panisch, um ins Bett zu gehen, aber nach den letzten Tagen auch zu müde, um wach zu bleiben.
Dann war die Kutsche gekommen, und beide waren voller Angst zur Hintertür gestürzt. Sogar die Dienstboten kamen und waren genauso nervös ob der späten Ankunft und der ominösen Ereignisse, über die sie nur spekulieren konnten.
Sophies Sohn war der erste gewesen, der ausstieg. Er sprang in den Hof, rannte direkt zu seiner Mutter, hob sie hoch und wirbelte sie einmal herum.
„Wir haben sie gerettet!“, rief er. „Sie gehört jetzt mir. Sie wird mich heiraten.“ Er lachte.
Ian McMullen war der nächste gewesen. Charly schrie fast vor Ungeduld. Wo blieb Asko? Sie konnte nicht sehen, wer sonst noch in der Kutsche saß. Dann hatte sie Arpads Stimme gehört.
„Joseph! Helfen Sie Ihrem Herrn. Er hat seine Krücken nicht.“
Asko aus dem Wagen zu bekommen schien leichter, als sie gedacht hatte. In dem dunklen Hof suchte sie nach Anzeichen von Krankheit oder Verletzung, doch sie konnte nichts erkennen.
„Asko? Asko! Bist du …?“, rief sie, und Arpad, der plötzlich neben ihr stand, scheuchte alle ins Haus.
„Geht rein. Hier ist es kalt, und wir wollen die Nachbarn nicht aufmerksam machen.“ Mit diesen Worten hatte er ihren Gatten hochgenommen und wie einen Sack davongetragen. Sie rannte hinterher, entsann sich dann ihrer Pflichten und führte ihre Gäste zurück in den Salon. Dann ließ sie Tee bringen und sandte schließlich die Dienerschaft wieder zu Bett.
McMullen kicherte.
„Wieder mal Tee. Wenigstens wird Ihr Tee uns nicht die halbe Nacht vergessen machen. Armer Sutton. Es war gut, dass ich meinen Tee in den Blumentopf gegossen habe.“
„Blumentopf?“, fragte Charly, während ihre Gedanken durcheinandergingen und sie nach Wortfetzen griff und sie wieder verwarf, weil sie keine Erleuchtung brachten.
„Fräulein Flenckmann, die Krankenschwester, hatte ihre Freundinnen mitgebracht. Sehr beeindruckende Damen. Sie haben die Lybrattedrachendame erfolgreich davongejagt, und die Spinne ist auch fort. Der arme Herr Lybratte hat es leider nicht überlebt. Aber Fräulein Lybratte …“
„Ihr geht es gut“, unterbrach Thorolf, dessen graue Augen vor Freude glitzerten. Die seiner Mutter taten es ihm nach. „Es geht ihr gut. Aber dieses Vieh hat ihr so wehgetan.“ Sein Blick wurde hart. „Es hat sie gedemütigt und gequält. Wenn ich dieses Biest je in die Hände …“
„Wirst du nicht“, unterbrach der Schotte. „Sie sind fort, und das ist gut so.“
Arpad trat nun auch in den Salon. Erst jetzt sah Charly, dass auch er erschöpft wirkte. Es musste eine Menge passieren, bevor man Arpad eine Anstrengung ansah.
„Was tust du denn noch hier, mein süßes Herz?“, fragte er. „Dein Herr Gemahl braucht dich, und deine Gäste kommen gewiss auch ohne dich aus.“ Er fasste sie an der Hand und zog sie zu sich heran. „Sei großherzig, Charly“, flüsterte er. „Allerdings darfst du natürlich nicht zu großherzig sein, sonst würde dein idiotischer Gatte das vermutlich übelnehmen.“
Während Charly noch versuchte, diese Sätze zu begreifen, stand Thorolf auf.
„Ich gehe besser heim und packe“, sagte er, und sowohl seine Mutter als auch die beiden anderen Männer widersprachen heftig.
„Du kannst nicht nach Hause! Du bist tot!“, sagte Ian.
„Ich werde für dich packen“, bot sich Arpad an. „Ich muss jetzt erst einmal jagen. Die Sonne geht bald auf. Du bleibst hier bei deiner Mutter. Geh nirgendwo hin, bevor ich nicht zurück bin. Nein! Keine Diskussion!“
Danach drehte sich das Gespräch darum, wer wie reisen würde und mit welchem Sarg. Charly stand verloren herum, fühlte sich zerrissen zwischen ihren Pflichten als Gastgeberin und als Gattin.
„Charlotte“, sagte Sophie. „Wir werden das schon richtig planen. Geh du zu deinem Mann. Schlaf endlich mal aus. Ich kann dir nicht genug für deine ungeheuere Freundlichkeit danken.“
Ian verabschiedete sich von ihr, und Arpad schob sie ohne viel Federlesens aus dem Zimmer und auf die Treppe zu.
Sie wandte sich um und legte dem schmalen Mann die Hände auf die Schultern.
„Wie kann ich dir jemals danken? Ich stehe in deiner Schuld …“
„Nein. Du stehst in keiner Schuld. Dein Mann schuldet mir etwas, und er weiß das auch.“
Sie seufzte.
„O je. Das wird ihm nicht gefallen.“
Arpad kicherte schadenfroh.
„Ganz und gar nicht. Doch nun lauf schon. Er hat eine Überraschung für dich.“
Er küsste sie auf die Stirn, strich ihr zärtlich am Hals entlang, direkt über der Ader, riss sich dann mit sichtlicher Mühe los und drehte sie in Richtung Treppe. Sie hob ihre Röcke und rannte hoch. Nur einmal sah sie sich um, doch er war bereits klammheimlich verschwunden. Sie hatte seinen Hunger gespürt. In dieser Nacht war er gefährlich.
Sie eilte auf das Schlafzimmer zu, wusste nicht, ob sie das Mädchen wecken sollte, damit es ihr beim Auskleiden half, wie es das sonst tat.
Sie hielt vor der Tür inne und atmete tief ein. Sie hatte ihn wieder. Verletzt hatte er nicht gewirkt, doch er hatte ohnehin immer Schmerzen. Die Geschehnisse, über die sie immer noch fast nichts wusste, hatten ihm gewiss schlimm zugesetzt. Von jemandem ins Bett gebracht zu werden, den er als Erzfeind ansah, musste ihn noch zusätzlich erzürnt haben. Sie hätte es verhindern sollen. Doch die Flut der Ereignisse hatte sie überfordert. Was nun tatsächlich geschehen war, wusste sie außerdem immer noch nicht. Ein Wort ging ihr nicht aus dem Sinn: „Blumentopf“.
Er hatte überlebt, doch er würde furchtbarer Laune sein. Distanz, sagte sie sich. Er brauchte jetzt Distanz. Sie sollte also besser nicht an seiner Schulter in Tränen ausbrechen.
Sie öffnete leise die Tür und trat ein. Er saß auf der Bettkante, die Ellbogen auf den Knien, sein Gesicht in den Händen verborgen. Tatsächlich sollte er so kaum sitzen können.
Er war voller Blut. Viel Blut. Es hatte seine zerrissene Kleidung rot gefärbt.
„Du bist verletzt!“, rief sie.
„Nein.“
Er hob das Gesicht und sah zu ihr herüber. Dann stand er auf.
Sie schrie auf, war sich sicher, dass er fallen würde, rannte zu ihm, um ihn aufzufangen, und landete stattdessen in seinen Armen.
„Meine Charlotte“, war alles, was er sagte, während er sie in den Armen hielt, viel zu fest, fast schmerzhaft. Sie konnte kaum atmen. „Meine einzige Charlotte.“
Sie hielten sich ein Weilchen an einander fest.
„Er sagte, du hättest eine Überraschung für mich“, murmelte sie schließlich, immer noch in seiner Umarmung, Wange an Wange. Sie war eine große Frau, so groß wie ihr Mann. Größer sogar die letzten Monate, als er sich auf Krücken herumgeschleppt hatte. Nun konnte er stehen. Er war stark.
„Graf Arpad. Verdammter Kerl … ich nehme an, ich schulde ihm etwas.“
„Was ist passiert?“
„Hat er es dir nicht gesagt?“
„Er hat gar nichts gesagt.“
„So diskret?“ Er klang bitter.
Wieder sprachen sie eine Weile lang nicht.
„Ich bin geheilt“, sagte er dann. „Doch ich habe einen Preis dafür gezahlt, und wenn du mir nicht vergeben kannst, so werde ich das verstehen. Ich werde einen ehrenvollen Ausweg aus der Situation finden, bei dem niemand eine Schuld bei dir suchen kann.“
Sie schauderte, und er strich ihr über den Rücken.
„Können wir deine Ehre mal außer Acht lassen, Asko? Sag mir einfach, was passiert ist.“
Er holte tief Luft.
„Als ich Lybratte besuchte, fand ich heraus, dass seine Feyon-Gattin ihn bezaubert und verwirrt hatte. Sie wiederum fand heraus, dass ich das wusste, und lagerte mich in ihrem – was immer es war: Märchenland, magischen Reich, was weiß ich. Ich war völlig hilflos. Nach einer Weile kam dein Freund dazu. Ihn hatte sie auch erwischt und weggeschlossen. Mit ihr verglichen ist er beinahe harmlos. Ich lag im Sterben. Menschen können in jenen Sphären offenbar nicht lange überleben. Als abzusehen war, dass ich zu schwach wurde, um weiterzuleben, entschied sich mein harmloser Begleiter dazu, mich zum Abendessen zu genießen. Schließlich soll man nichts umkommen lassen.“
Sie krallte ihm die Finger in den Rücken und sagte nichts.
„Die Macht – das ist wohl Frau Lybrattes Fey-Titel und durchaus eine passende Beschreibung – hatte ihr Reich verlassen, um sich …“ Er hielt einen Moment inne, als könnte er sich nicht dazu bringen, eine solche Ungeheuerlichkeit seiner jungfräulichen Gattin gegenüber auszusprechen. „… mit einem Menschen zu paaren. Dazu hatte sie Lybratte ausgesucht, wegen seines hervorragenden Geistes, doch dann verstarb ihr Gatte. Genau zum falschen Zeitpunkt. So brauchte sie Ersatz. Schnell. Da entsann sie sich, dass sie mich ja noch auf Lager hatte.“
Er verstummte, ließ die Worte wirken. Charly sagte nichts, hielt sich nur schweigend an ihm fest.
„Eine Minute später, und sie hätte nur noch die Reste eines Vampirmahls zusammenfegen können. Doch sie kam rechtzeitig. Allerdings war ich in meinem Zustand keine Hilfe für ihr Unterfangen.“
Wieder schwieg er.
„Sie hat dich geheilt?“, fragte Charly.
„Sie hat mich geheilt, indem sie etwas von Graf Arpads Lebenskraft stahl und sie mir gab. Das, was ich dann tat, tat ich mit der unverwüstlichen Stärke meines Feindes.“
„Arpad ist nicht dein Feind.“
„Nein. Vermutlich nicht. Ich mag ja sein Mittagessen sein ...“ Er klang bissig. „... doch das war gewiss nicht persönlich gemeint. Charlotte, verstehst du, was ich dir da erzähle?“
„Dass Arpad …“
„Vergiss Arpad! Ich habe dich mit Frau Lybratte betrogen.“
Sie schluckte. Sie hatte seiner Erzählung durchaus folgen können. Doch sie hatte es vorgezogen, keine weiteren Schlüsse zu ziehen.
Er versuchte, sie von sich fortzuschieben, doch sie hielt die Arme um seinen Oberkörper geschlungen und ließ nicht los.
„Charlotte, ich verstehe, wenn du nun nichts mehr mit mir zu tun haben willst. Ich habe etwas Unaussprechliches begangen.“ Nun klang er bitter.
„Ich kenne dich viel zu gut, um annehmen zu können, du hättest dich leichtfertig und willens ihrem Vorhaben gebeugt. Du hasst die Sí mit jeder Faser deines Seins. Wenn sie dir die Wahl gelassen hätte, hättest du dies nicht getan. Also hat sie dir keine Wahl gelassen.“
Sie brauchte all ihre Kraft, um in der Umarmung zu bleiben und sich nicht fortschieben zu lassen. Gleichzeitig rang sie um Fassung. Es war wie ein Tanz auf dem Hochseil ihrer eigenen Gefühle.
„Du machst es mir zu leicht!“, sagte er.
„Weil sie witzig, intelligent und charmant war? Würdest du dich denn besser fühlen, wenn sie hässlich, dumm und ekelhaft gewesen wäre und dich dennoch gezwungen hätte, ihren Wünschen nachzukommen?
Er überlegte einen Augenblick.
„Das ist ein interessanter Punkt. Aber sie war nun mal witzig, intelligent und charmant – zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als sie sich in einen gottverdammten Riesendrachen verwandelte mit Zähnen so lang wie mein Kopf.“
„Ihre wahre Gestalt?“
„Anscheinend.“
„Du hast … du warst mit … ich meine … mit ihr … hast …“
„Ich tat, was sie von mir wollte, und ich werde dich nicht anlügen und dir erzählen, es sei irgendwie furchtbar gewesen.“
Er konnte sie nicht anlügen. Schlecht. Das hätte vielleicht geholfen.
„Du …“ Sie suchte immer noch nach den passenden Worten.
„Ich habe eine Bestie gezeugt.“ Er klang, als würde ihm gleich schlecht.
„Du bist … der Vater eines jungen Drachen?“
„Charlotte!“
„Nun, ist es so oder nicht?“
„Wahrscheinlich schon.“
„Das ist … das ist …“ Sie verstummte.
„Widerlich? Grauenhaft? Abscheulich? Unverzeihlich?“
„Absurd. Ausgerechnet du …“ Sie begann zu kichern und fühlte seinen Schock.
„Charlotte! Bitte!“
„Asko! Ich bitte dich. Begreif doch, wie aberwitzig das ist. Du, der weltweit führende Feyon-Hasser, wirst der Papi eines neuen kleinen Ungeheuers. Wenn der kleine Kerl irgendetwas von seinem Vater erbt, wird er vermutlich zu stur sein, um zu fliegen, bevor er nicht eine Formel dafür hat.“
„Charlotte!“ Nun war er richtig entsetzt.
„Er wird seine Mutter wahnsinnig machen und ihr wahrscheinlich auch noch Manieren beibringen.“
Diesmal riss er sich los und hielt sie bei den Handgelenken.
„Ich begreife nicht, dass du das witzig findest, Charlotte. Was ich getan habe, war unnatürlich, ekelhaft und unverzeihlich.“
„Es hat dir Spaß gemacht. Da liegt das Problem. Nicht dass du von einem Wesen der Macht, dem deine Wünsche gänzlich einerlei waren, zu etwas gezwungen wurdest, sondern dass es die witzige, intelligente und charmante Frau Lybratte war.“
„Du gehst zu weit.“
„Du wolltest doch, dass ich zu weit gehe! Du hast mir doch förmlich aufgedrängt, dich zu verlassen und dir nicht zu vergeben. Doch ich würde dir wirklich gerne vergeben.“
„Charlotte …“
„Also musst du dich jetzt bemühen, dir selbst zu vergeben.“
„‚Mich von meinen nichtigen Ängsten befreien’?“ Es klang wie ein Zitat. „Das hat sie vorgeschlagen. Sie sagte, dass ich es mir wünschen müsste, damit ich es auch könnte.“
„Dann wünsche es dir doch, verdammt noch mal! Wünsche es dir. Für mich. Autsch! Du tust mir weh, Asko. Du brichst mir schier die Handgelenke.“
Er ließ sie los, und sie sah auf ihre Handgelenke, die ganz weiß waren und nun langsam rot anliefen. Ihr neulich noch so schwacher Gatte hatte einen Griff wie aus Eisen. Ein Andenken Arpads?
„Lieber Gott, Charlotte, das tut mir leid! Ich kann meine Kräfte überhaupt nicht einschätzen. Habe ich dich schlimm verletzt? Komm!“
Er zog sie an den Waschtisch, goss kaltes Wasser in die Schüssel und drückte ihre Hände hinein.
„Tut mir leid.“
„Ich weiß. Ich vergebe dir.“
„Ich bin ungeschickt, dämlich und habe außerdem ein Talent, dir wehzutun.“
Das kalte Wasser tat ihr gut. Der Schmerz ließ nach, und mit einem Mal begann sie zu schniefen, wandte sich von ihm ab, als ihr die Tränen kamen.
„Charly …“
„Bitte ignoriere das. Das war sicherlich nicht das, was ich als nächsten Schachzug geplant hatte.“
„Das Leben ist kein Schachspiel.“
„Doch, und jetzt habe ich einen falschen Zug gemacht und werde meinen König verlieren.“ Sie suchte nach einem Taschentuch und putzte sich die Nase.
Er schwieg einen Moment lang.
„Dann werde ich eben generös sein. Nimm den Zug zurück. Konzentriere dich und rette deinen König.“ Er klang liebevoll. Er versuchte, sie an den Schultern zu sich herumzudrehen, doch sie wehrte sich.
„Nein! Noch nicht. Ich will nicht, dass du mich anschaust, bevor ich nicht aufgehört habe zu heulen und zu schniefen. Es macht mich nicht schöner, und schließlich habe ich erhebliche Konkurrenz.“
Er wartete nicht, nutzte seine überlegene Kraft, um sie herumzudrehen. Er sah sie an und wischte ihr einige Tränen mit dem Daumen von den Wangen. Dann zog er sie wieder in seine Arme.
„Du willst deinen König behalten?“
„Ja.“
„Trotz Frevel und Fehlern und all dem?“
„Ich habe dich nie für einen Heiligen gehalten. Wenn du, mein Liebling, die Macht hättest, gegen die Fey anzugehen und zu gewinnen, gäbe es in ganz Bayern schon keine mehr.“
„Ich bin nicht sicher, dass ich eine so wunderbare Gattin verdiene.“
Ihr wurde klar, dass sie nicht immer so stehen bleiben konnten, auch wenn sie im Moment nichts dagegen gehabt hätte.
„Kannst du mir beim Ausziehen helfen oder soll ich das Mädchen wecken?“
„Lass es schlafen.“
Hände wanderten über die Häkchen am Rücken ihres Kleides. Er stellte sich etwas ungeschickt an.
„Lästige Dinger. Man sollte eine bessere Möglichkeit erfinden, ein Kleidungsstück zu schließen.“
Seine Geduld wurde auf eine neue Probe gestellt, als er ihr Korsett erreichte.
„Lieber Himmel, sitzt das fest. Das kann doch nicht gesund sein, Charlotte.“
„War es so anders … mit ihr?“
Er verharrte bewegungslos.
„Charlotte!“ Er klang bestürzt.
„Ich will nur keine Fehler machen. Ich habe erheblich weniger Erfahrung als ein alter Drache, gerade wenn er witzig, intelligent und charmant ist. Ich bin vermutlich nicht annähernd so verführerisch, und bezaubern kann ich dich auch nicht.“
„Ist das meine Strafe? Dass du dir wünschst, du wärest wie sie?“
„Findest du meine Neugier denn so unanständig?“
„In jeder Hinsicht.“
„So wirst du mir nicht antworten?“
„Wenn du darauf bestehst ... ich musste sie nicht entkleiden. Die Dame ließ sich dabei von deinem Freund, dem Vampir, zu Diensten sein. Dann hatte sie in einer Sekunde noch etwas an, und in der nächsten räkelte sie sich in nichts als ihrer – wahrscheinlich nicht echten – Haut auf dem Bett.“
„Da kann ich auch wieder nicht mithalten.“ Sie seufzte.
„Ich würde von meiner Frau jedenfalls etwas mehr Anstand erwarten.“
„Oh!“, sagte sie und schämte sich auf einmal.
Er betrachtete sie, sagte nichts, und sie hatte mit einem Mal Angst, der Konkurrenz wirklich nicht gewachsen zu sein. Sie lief dunkelrot an.
„Ich fühle mich so … unzureichend. Dabei hatte ich eigentlich vorgehabt, dich zu fragen, ob du nach all dem Zeugen und so nicht vielleicht … aber du musst dich erholen.“
„Ich fühle mich gar nicht müde. Verdammt sollen dieser Vampir und sein gänzlich unnatürliches Stehvermögen sein.“
Sie verstand, als er sie an sich heranzog.
„Oh“, sagte sie, während er sich mit ihrem letzten Hemd abmühte. Spitze riss.
Dann standen sie voreinander.
„Ich liebe dich, Asko von Orven“, seufzte sie.
„Ich liebe dich, Charlotte von Orven, und genau deshalb sind schuppige Tiere mit langen Zähnen auch keine Konkurrenz für dich.“