Kapitel 47

Wenigstens hatte er Catty endlich Futter gegeben. Er hatte es schweigend getan, ohne dabei mit ihr zu sprechen. Sein sonst so ebenmäßiges Gesicht war vor lauter Ärger in steile Falten gelegt. Seine Hand zitterte fast unmerklich, als er die Untertasse mit den Fleischereiabfällen vor ihr auf den Boden stellte.

Er war wütend gewesen, als sie ihm sein Liebesspiel verdorben hatte. Doch jetzt war er jenseits von Wut. Sein Zorn war nicht mehr heiß. Eine seltsame Kühle ging von ihm aus. Ärger war da, Wut. Sie fühlte, wie sich die Emotionen hinter einer eisigen Fassade von äußerer Ruhe aufstauten, und noch mehr spürte sie. Er fühlte sich enttäuscht und verraten und hätte am liebsten um sich geschlagen.

Sie begriff nicht. Die Dame war so nett gewesen. Außerdem war sie sehr intelligent und hatte genau verstanden, dass Catty hungrig war. Das machte sie schon beinahe weise, für einen Menschen.

Er hätte sich nicht so benehmen dürfen. Natürlich musste es hart sein zu erfahren, dass die Mutter, die man verehrte, gelogen und in ihrer Jugend irgendetwas Ehrenrühriges getan hatte. Vermutlich war es noch schwieriger, sich damit abzufinden, dass man der Sohn eines Fremden war und nicht der des Vaters, den man gekannt hatte. Doch sie sah das ganz praktisch. Niemand würde es je erfahren. Niemand hatte es je gewusst, und es musste auch keiner wissen. Sie würde es gewiss nicht verraten, selbst wenn sie könnte. Er war nicht unehelich geboren, und wenngleich es natürlich schon recht schockierend war, dass die nette Dame offenbar ihren Mann betrogen hatte, so hatte ihre Begründung – ihre große Liebe – doch durchaus plausibel geklungen.

Sie fragte sich, wer der Vater sein mochte. Die Andeutungen, die gefallen waren, ließen ihn undurchsichtig erscheinen, und die Tatsache, dass er die Frau, die er liebte, nicht geehelicht, sondern einem anderen zur Braut gegeben hatte, klang auch recht eigentümlich. Es musste wohl ein Ehehindernis gegeben haben. Vielleicht war er schon verheiratet gewesen? Oder er war ein Prinz oder etwas Ähnliches, jemand, der seine Gattin nicht frei wählen konnte oder keine Bürgerliche freien durfte. Sie wusste sehr wohl, dass Angehörige von Königshäusern manchmal Affären hatten, und dass – so die Damen respektabler Abstammung waren – diese eine Scheinehe und einen geordneten Hintergrund organisiert bekamen.

Liebe war ein starker Antrieb. Catty bezweifelt das nicht. Liebe ließ einen Dinge tun, von denen man wusste, dass sie falsch waren und alle Regeln brachen. Sie machte ein bisschen dumm, aber auch ein bisschen weise – wenn auch nur hinsichtlich dessen, was man wollte und wie man es bekam.

Ihr Herz war zerrissen. Sie war mitten in der Nacht aus dem Fenster geklettert, um heimlich einen Mann zu treffen. Ihm einen Brief zu geben. Oder vielleicht doch mehr? Dennoch war sie sich nicht einmal mehr sicher, ob das wahre Liebe war. Ihr Menschenherz sehnte sich nach ihm, doch ihr Katzenherz war voller Argwohn und Misstrauen.

Thorolfs Mutter hatte solche Zweifel nicht gehabt. Sie wusste, was Liebe war, und hatte sich für ihr moralisches Fehlverhalten noch nicht einmal entschuldigt. Frau Treynstern tat es leid, dass Thorolf leiden musste – und dass sie selbst deshalb zu leiden hatte. Doch was sie getan hatte, das bereute sie nicht. Cattys sittsame Erziehung flüsterte ihr ein, dass ein solches Betragen keinesfalls gutzuheißen war, doch dieser Maxime nachzukommen schien seltsam schwierig. Die gute Gesellschaft würde das allerdings anders sehen. Doch die gute Gesellschaft wusste nichts davon. Nur Thorolfs Mutter wusste es, und ihr ehemaliger Liebhaber und nun ihr Sohn – und dessen Katze.

Catty seufzte still und sah zu dem Mann auf, der wieder am Fenster stand, und dessen schöne graue Augen weit in die Ferne gingen. Wie eine Statue stand er da, reglos, seine klassischen Züge wie aus Marmor gehauen. Wer immer sein Vater auch sein mochte, seine Eltern hatten einen begabten, netten und sympathischen Menschen hervorgebracht. Sein Profil war aristokratisch, sein Mund freundlich, ohne weich zu sein. Fast immer lag ein Lächeln in seinen ausdrucksvollen grauen Augen, nur gerade jetzt nicht.

Der Sohn eines Prinzen? Wenn man ihn so ansah, schien es plausibel. Seine Kleidung war die eines Künstlers, ein wenig bunter als absolut notwendig, aber wenn man vielleicht von seinen Krawatten absah, konnte er sich überall sehen lassen.

Sie fragte sich, wie er wohl in einer weißen Paradeuniform mit Schärpe und Orden aussähe, wie Prinzen sie immer trugen. Das hätte ihm gut gestanden. Er würde eine Prinzessin galant zum Tanz führen. Er würde mit einer königlichen Schönen den Ball eröffnen in einem Schlosssaal, erleuchtet von Abertausenden von Kerzen. Er würde gewandt konversieren und alle Herzen brechen.

Nur würde er das eben nie, denn er war kein Prinz, sondern Herr Treynstern, der Richtersohn. Nun, da sie seine Abstammung ins rechte Licht gerückt hatte, konnte sie seine Besonderheit beinahe fühlen. Ein Prinz hatte sie gerettet.

„Verdammt!“, murmelte er, und sie rieb sich an seinen Beinen. Er sah zu ihr hinab.

Gedankenverloren hob er sie hoch und hielt sie in den Armen. Ein warmes Gefühl durchströmte sie. Sie merkte, dass sie ihn wirklich sehr gern hatte, auch wenn sein Benehmen gerade etwas zu wünschen übriggelassen hatte. Doch er hatte Catty nicht auf die Straße gejagt, und er hatte ihr ihre Einmischung vergeben. Gefüttert hatte er sie auch. Seine Hände waren warm, und sie fühlte sich darin sicher. Er kraulte sie mit geübten Fingern. Sie genoss seine Berührung.

Daran konnte doch nichts Falsches sein? Katzen wurden nun mal gern gekrault. Es war nichts dabei.

Für eine Katze.

Sie schauderte, und er hielt inne. Dann fuhr er mit dem Kraulen fort, ohne sie anzublicken. Sie fand, dass er sich eigentlich etwas besser darauf konzentrieren sollte, doch seine Gedanken waren beschäftigt, und vielleicht sollte sie nicht darauf bestehen, dass er ihr nach der letzten schmerzhaften Szene allzu viel Aufmerksamkeit schenkte.

Es klopfte. Im gleichen Moment, noch bevor Thorolf sich auf den Weg machte, um zu öffnen, fühlte sie die Aura des Besuchers. Schwarz, nachtschwarz, wie glänzender Lack. Sein Gebietsanspruch überkam sie schon durch die geschlossene Tür, und sie schrie und wand sich und sprang dem jungen Mann aus den Armen, rannte im Schweinsgalopp zur Schlafzimmertür. Sie sprang auf die Klinke, öffnete die Tür und verschwand, während sie sich wünschte, sie könnte die Tür hinter sich auch wieder schließen, doch ihre Fertigkeiten reichten dazu nicht aus.

Sie spürte Thorolfs amüsiertes Erstaunen. Sie hörte, wie er aus dem Wohnzimmer ging, um die Tür zu öffnen, und wünschte sich, ihn aufhalten zu können. Vielleicht würde es ihr gelingen, wenn sie schnell genug wäre. Diesen Besucher sollte er nicht einlassen. Sie konnte schwarze Nacht von den Wänden fließen spüren wie heißen Teer. Es war mitten am Tag, und sie spürte die Dunkelheit. Ein starkes Gefühl und beinahe schmerzhaft.

Sie rannte aus dem Schlafzimmer, galoppierte, sprang, flog fast dem jungen Mann hinterher, der so in seine eigenen Sorgen verstrickt war, dass er die Gefahr nicht wahrnahm. Sie schoss zwischen seinen Beinen hindurch, und er stolperte fast. Sie schlidderte auf dem gewachsten Holzboden und schlug gegen die Wohnungstür, gerade so, wie sie zuvor gegen die Wand geflogen war.

Sie jammerte vor Schmerz, und er hielt irritiert inne, trat einen Schritt vor und hob sie wieder auf.

„Was ist denn los?“, fragte er freundlich, doch sie wand sich aus seinem Griff und achtete peinlich genau darauf, ihn dabei nicht zu kratzen. Er würde die Tür öffnen und die Kreatur, die draußen lauerte, einlassen. Er würde nicht auf sie hören, würde ihre Sorge nicht verstehen, und sie konnte ihm nicht kommunizieren, dass er sich verbergen sollte. Sie wollte keine Katze mehr sein. Sie wollte eine Stimme haben, eine Hand, einen Arm, um ihn zurückzuhalten.

Sie wollte wieder ein Mädchen sein.

Sie wäre als Mädchen noch sehr viel hilfloser gewesen, das war ihr klar. Ihre Katzenschläue, ihre Instinkte hatten sie bislang beschützt. Catty, die Katze fand sich in der Welt weitaus besser zurecht als Catty, das Mädchen, und Catty die Katze fand, dass es angebracht war, sich zu verstecken. Er musste seine eigenen Kämpfe ausfechten. Er war groß und stark und außerdem ein Mensch. Sie war nur eine kleine Katze.

Sie warf Thorolf einen letzten ängstlichen Blick zu und rannte zurück durch das Wohnzimmer. Durch die offene Tür. In sein Schlafzimmer. Unters Bett. In die hinterste, dunkelste Ecke.

Sie bebte.

Sie hörte, wie sich die Tür öffnete, und eine Woge aus Macht erfasste sie und ließ ihr das Fell hochstehen. Fast konnte sie die Funken daraus sprühen sehen. Wenn sie jetzt jemand anfasste, würde er das bereuen. Wenn sie jetzt jemand berührte, würde sie explodieren. Sie versuchte krampfhaft nicht zu erbrechen. Sie wünschte sich, sie wäre ein Igel und könnte sich in eine feste Kugel zusammenrollen und die Stacheln gegen die Welt ausfahren.

Zu viele Dinge waren an diesem Tag geschehen und geschahen immer weiter. Sie hatte Angst, und sie sollte sich wirklich nicht unter Thorolfs Bett übergeben. Er würde es nicht mögen.

Sie hörte, wie Thorolf den Besucher hereinbat. Seine Stimme klang ein wenig angesäuert, doch er wusste, was sich gehörte. Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie die schwarze Aura sich ausdehnte, wie eine Pfütze zähflüssiger Farbe, wie ein Sumpf unbeantworteter Fragen.

Sie wand sich, versuchte, sich noch weiter zurückzuziehen. Sie hörte kaum die Worte.

„Ich störe Sie doch hoffentlich nicht, Herr Treynstern?“, fragte eine höfliche Stimme. Sie war tief und samtig, und Catty wusste, wem die Stimme gehörte.

„Nein. Bitte treten Sie ein, Lord Edmond. Es tut mir leid, ich war auf Besuch nicht vorbereitet.“

Schritte im Wohnzimmer. Was sollte sie nur tun?

„Ich wollte mir ansehen, wie Sie malen. Schließlich habe ich ein Bild bei Ihnen in Auftrag gegeben. Also dachte ich mir, warum den Künstler nicht in seinem Atelier besuchen? Das hier ist Ihr Atelier? Oder nicht?“

„Ich benutze es als Atelier. Hauptsächlich male ich allerdings an der Akademie. Ich fürchte, ich kann Ihnen noch nicht viel zeigen. Ich bin erst seit Kurzem hier.“

„Sie sind Anfänger.“

Die Stimme klang höflich, dennoch war es eine Beleidigung. Catty spürte, wie ihr menschlicher Freund darauf reagierte.

„Das stimmt. Ich dachte, Sie wüssten das. Möchten Sie unsere Abmachung rückgängig machen?“

„Keineswegs. Die Abmachung bleibt bestehen. Doch ich unterbreche Sie bei irgendetwas. Sie sind nicht allein?“

„Sie unterbrechen mich bei nichts, Mylord, und ich bin allein. Ich teile diese Behausung mit einem Studenten der Naturwissenschaften, doch er ist nicht da. Studiert.“

Eine kleine Pause.

„Ich dachte doch, ich hätte etwas gefühlt … gehört …“

„Sie haben sich geirrt. Tut mir leid.“ Der Groll in Thorolfs Stimme war kaum zu überhören. Er war gerade noch höflich, aber ungehalten, und tatsächlich war sein Gast ja auch recht unhöflich. So etwas fragte man nicht, und man bezweifelte auch nicht die Ehrlichkeit seines Gastgebers.

Catty wurde mit Schrecken klar, dass der Besucher ihre Gegenwart spürte. Die Erkenntnis traf sie mit einiger Verspätung, denn eben war sie noch damit beschäftigt gewesen, sich zu wundern, was er hier nur tat. Lord Edmond. Ihr Lord Edmond. Wie er es überhaupt sein konnte, begriff sie nicht. Das war doch nicht möglich?

Doch er musste es sein. Die Stimme war richtig, und den Namen gab es sicher auch nicht zweimal. Aber alles andere war falsch. Sie fühlte noch seine nachtschwarze Aura, wie sie sich in ihrem Heim breitmachte, fast schon in ihre Haut eindrang. Er war kein Mensch. Er gehörte auch zu jenen anderen. Wie der gestrige Besucher, der zu Ian gekommen war. Zuerst hatte sie angenommen, es wäre wieder Ians Bekannter. Sie waren sich so ähnlich, schwarzglänzende Zentren der Macht, die an der Wirklichkeit entlangglitten und die Umwelt um sich herum rücksichtslos dominierten.

Ihre Erinnerung wehrte sich gegen die Erkenntnis, dass sie sich in diesen Mann verliebt, seine Hand gehalten, sich in seiner Gegenwart sicher gefühlt hatte. Sie war nachts aus dem Haus geklettert, nur um ihm einen Brief zu geben. Oder mehr.

Jetzt wusste sie mit aller Klarheit, dass sie ihren Weg zurück in ihr Bett nie gefunden hätte, sondern in diesen Augen ertrunken und bei ihm geblieben wäre. Wahrscheinlich hätte sie geglaubt, sie hätte es freiwillig getan. Doch hätte sie wirklich die Wahl gehabt? Gegen ein solches Bollwerk uralter Macht? Gegen das eigene Gefühl der Liebe, das er in ihr entfacht hatte?

Nur, warum hatte er das überhaupt getan? War er auf Eroberung aus? War sie ihm so viele Umstände wert? Sie konnte seine Macht auf ihrer Zunge schmecken und wusste, dass er nicht hätte fragen müssen. Ausgeklügelte Pläne, sie zu überreden ihr Elternhaus zu fliehen, waren unnötig. Er musste nur befehlen, und die Menschen würden gehorchen. Doch er hatte ihr die Wahl gelassen – vielleicht weil er sie wirklich mochte?

Konnte jemand mit einer solchen Aura tatsächlich lieben? Er hatte sie vor einer Gefahr gewarnt. Was wusste er? Hatte er die Spinne gemeint? Doch warum wollte er ihr helfen? Er war so nett gewesen. Vielleicht war ihr Eindruck als Katze ja ganz falsch. Was wusste so eine Katze schon?

Doch sie machte sich etwas vor.

Ihr Herz hatte für ihn geschlagen, und ihr Verstand hatte sich abgeschaltet. Es fühlte sich immer noch wie Liebe an. Das schmerzte am meisten. Er hatte sie zu nichts gezwungen. Sie hatte ihm ihr Herz geöffnet, weil es so leer war, nichts Wichtiges enthielt außer ihrer Unsicherheit und der Abneigung gegen ein eisiges Zuhause.

Lucilla hatte ihn nicht gemocht, ihm nicht vertraut. Catty glaubte nicht, dass ihre Stiefmutter wirklich wusste, was er war, doch die Instinkte der Dame waren offenbar den ihren weit überlegen. Catty hätte auf sie hören sollen. Zu spät. Lucilla dachte vermutlich, dass sie mit einem Mann auf und davon gelaufen war. Ihr Vater würde auch denken, dass sie verloren war. Ein gefallenes Mädchen. Konnte ein Vater so etwas vergeben?

In alten Dramen griffen Väter zu drastischen Maßnahmen, wenn ihre Töchter den falschen Weg im Leben einschlugen. Sie erinnerte sich daran, wie sie Lessings „Emilia Galotti“ gesehen hatte. Da erstach ein Vater seine Tochter mit den Worten: „Ich habe die Rose gebrochen, bevor der Sturmwind sie entblättert.“ Catty hatte das romantisch gefunden und im Theater geweint.

Der Sturmwind hatte sie nicht entblättert, doch das konnte ihr Vater nicht wissen. Sie war nun schon zwei Tage fort – und zwei Nächte. Vor allem die Nächte waren besonders schlimm.

Wieder ertrank sie fast in der plötzlichen Wirklichkeit ihrer Situation, versank in Trauer und Hilflosigkeit. Verloren war sie. Sie würde die Katze eines Künstlers bleiben, der nie herausfinden würde, dass sie in Wirklichkeit eine Frau war. Sie trauerte um den Verlust ihres Vaters, ihres Zuhauses, ihres ganzen Lebens, und um den Verlust ihrer Liebe. Sie hatte sich in einen Traum verliebt und einen Alptraum gefunden. Nun wusste sie auch, dass er sie im Traum tatsächlich besucht hatte. Seinen Wein hatte er ihr angeboten, und beinahe hätte sie ihn gekostet.

Die Stimmen aus dem Wohnzimmer drangen wieder in ihr Bewusstsein.

„Was für nette Zeichnungen! Ein hübsches Mädchen. Wer ist sie?“, fragte Lord Edmond, und fast schien seine Stimme zu gurren und zu schnurren. Wie eine Katze klang er, die eine Maus zum Tanz aufforderte.

„Ich weiß es nicht. Ich habe sie nur einmal sehr kurz gesehen.“

„Dennoch können Sie sie so genau zeichnen? Sie sind ein größerer Künstler, als ich zu hoffen gewagt habe, Herr Treynstern. Meine Investition wird sich lohnen. Verkaufen Sie die Zeichnungen?“

„Es sind nur Entwürfe. Irgendwann einmal werde ich sie als Vorlage für ein Gemälde nehmen. Doch dies sind nur Skizzen von Gedanken, die mir durch den Kopf gehen. Unverkäuflich. Alle meine Entwürfe sind unverkäuflich. Es tut mir außerordentlich leid.“

Thorolf – so viel war deutlich – war nicht glücklich darüber, dass sein Besucher sich die Bilder ansah. Catty selbst hatte sie noch gar nicht gesehen, da sie entweder in seiner Mappe lagen oder umgedreht auf dem Tisch. Mit Pfoten war es schwierig, Blätter umzudrehen. Doch sie sollte sie sich unbedingt anschauen. Die Unterhaltung der beiden Männer war so ausnehmend seltsam, als ginge es gar nicht um Kunst.

Ein amüsiertes Lachen erschallte im anderen Zimmer.

„Eine Riesenspinne! Ihre Phantasie ist beeindruckend.“

„Danke, Lord Edmond.“ Die Antwort klang extrem trocken.

„Ich sehe schon, von Schwind hat einen würdigen Schüler. Sie und er erforschen gleichermaßen das Unmögliche. Doch ich muss gestehen, dass seine Bilder ein wenig tröstlicher sind. Nicht so gruselig. Nackte, tanzende Nymphen im Wald sind doch netter und verführerischer anzusehen als schwarze Spinnen. Wer ist die junge Frau?“

„Lena. Sie sitzt Malern Modell.“

„Sie wollten, dass sie von einem Monster zerrissen würde?“ Die Anklage klang über alle Maßen amüsiert.

„Natürlich nicht. Es war nur ein Bild, das mir durch den Kopf ging.“

„Ihr Kopf muss ein interessanter Ort sein. Hat die Spinne metaphorische Bedeutung? Oder ist meine klassische Bildung so defizitär, dass ich nicht auf die passende Legende komme – obgleich ich sie kennen müsste? Leda und der Schwan – das sagt mir was. Lena und die Spinne – das ist mir neu.“

„Lord Edmond. Bitte legen Sie die Bilder wieder hin. Sie sind unfertig und unverkäuflich. Ich kann Ihnen auch weiß Gott nicht erklären, was in meinem Kopf vorging, als ich diese Szene gezeichnet habe.“ Thorolf klang entnervt.

„Mögen Sie Spinnen nicht, Herr Treynstern?“ Die Frage war süß und unschuldig.

Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen.

„Nein, Lord Edmond, ich schätze Spinnen nicht.“

„Schade. Sie sind so interessante Kreaturen. Perfekte Jäger. Wenn sich erst einmal jemand in ihrem Netz befindet, gibt es kein Entrinnen mehr. Sie lähmen ihre Opfer und saugen sie dann aus. Vielleicht nicht gleich beim ersten Mal. Vielleicht nicht bis sie sich nach einem guten Abendessen fühlen. Vielleicht eine ganze Weile nicht. Aber zum guten Schluss ist es doch unausweichlich. Geht es Ihnen nicht gut, Herr Treynstern? Es täte mir leid, wenn mein kleiner Ausflug in die Zoologie Sie beunruhigt hat. Biologie ist eines meiner besonderen Steckenpferde. Gute Güte, Künstler sind wirklich zart besaitet.“

„Mir geht es ausgezeichnet. Danke der Nachfrage.“

„Gut. Ich würde es mir nicht verzeihen, Sie beunruhigt zu haben. Haben Sie schon mit meinem Auftragsbild angefangen?“

„Nein. Ich hatte heute viel zu tun, und ich werde etwas Ruhe und Frieden brauchen, um eine so schwierige Aufgabe anzugehen.“

„Aber das Leben, lieber Treynstern, ist weder ruhig noch friedlich. Der Tod vielleicht. Aber nicht das Leben. Es ist entschieden zu gefährlich, um je eine solche Bezeichnung zu verdienen. Wir, die wir die Erkenntnis erlangt haben, dass das Leben voller tödlicher Stolpersteine und Fallen ist, wir haben das Recht verwirkt, das Dasein als ruhig und friedlich zu erleben. Haben Sie eine Katze?“

In ihrem Versteck erschrak Catty fast zu Tode. Warum fragte er das? Spürte er sie so deutlich – und was meinte er nur mit all den Gefahren und Stolpersteinen? Sie merkte, wie Thorolf sich gegen diese Worte auflehnte.

„Gewiss nicht. Ich besitze keine Katze. Vielleicht hat ein Nachbar eine?“

Er log. Catty wusste nicht, warum, war aber unglaublich dankbar dafür. Sie wollte dem Mann nicht als Katze begegnen. Nicht als Katze und auch sonst nicht. Gar nicht. So wie er mit Thorolf sprach, erschien er weit weniger nett als er ihr zuvor erschienen war. Allerdings liebte er Thorolf natürlich auch nicht, und sie vielleicht schon. Zumindest hatte er das gesagt.

„Ich lasse Sie wohl besser weiterarbeiten. Werden Sie sich noch mit ein paar Spinnen beschäftigen, die junge Frauen überfallen?“

„Ich denke nein.“

„Nicht? Man weiß ja nie.“