Kapitel 29

„Er hat sich regelrecht gewunden. Irgendwas stimmt nicht mit ihm. Ich dachte, er wäre vielleicht zum ersten Mal verliebt, doch vermutlich habe ich mich getäuscht. Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer werde ich mir, dass ich mich getäuscht habe.“

Der Großmeister lehnte sich in seinem Lehnstuhl zurück, eine der wenigen Konzessionen an das Bedürfnis nach Behaglichkeit, die er sich zugestand. Sein Büro war freundlich, aber geschäftsorientiert und nüchtern eingerichtet. Die seltenen Besucher, die nicht zur Loge gehörten, waren gemeinhin enttäuscht, erwarteten sie doch alle Arten von Artefakten und magischen Gegenständen, Alchemieanordnungen oder Zauberstäbe.

Ein einziges Bild schmückte die weißen Wände, das Porträt einer ältlichen Dame mit einem gar strengen Gesichtsausdruck und einer steifen Spitzenhaube. Ihre Hände waren wie im Gebet verschränkt, doch ausgesprochen fromm wirkte sie nicht. Nach allgemeinem Dafürhalten handelte es sich bei der Dame vermutlich um die Mutter des Großmeisters. Widersprochen hatte er dieser Deutung nie.

„Du meinst, er steht unter einem Bann?“ Valerios schenkte seinem Großmeister einen interessierten Blick.

„Hältst du das für weit hergeholt?“

„Durchaus nicht. Ich habe seine Panik deutlich gespürt. Recht heftige Panik. Alle Primaner fürchten sich ein wenig vor mir.“ Es gelang ihm nicht besonders gut, sich ein selbstzufriedenes Lächeln zu versagen. „Doch er war schon mehr als nur nervös. Müde, hat er gesagt, sei er. Einfach nur müde.“

„Das mag sein. Aber müde oder nicht müde, er war heute nicht ganz er selbst.“

Urqhart legte entschlossen den Bleistift nieder, nach dem seine Hände gegriffen hatten, um damit zu spielen. Meister des Arkanen hatten ohne nervöse Angewohnheiten auszukommen, und sie waren auch jenseits der Bewusstseinsstufe, in der man welche Aktion auch immer unbewusst ausführte. Bewusstwerdung, Erkenntnis, Wahrnehmung, Wachsamkeit, Aufmerksamkeit – all das waren die Grundziele, die man als Meister des Arkanen erreicht haben musste. Sie waren die Voraussetzung dafür, absolut zielgerichtet zu handeln. Dieser Fokus war es, den die Logen letztlich zusammen mit Geschichte, Sprachen, Philosophie, Archäologie, vergleichenden Religionswissenschaften und überliefertem Wissen unterrichteten. Ein Philologe, der sich an irgendeiner Universität mit alten Sprachen befasste, mochte die gleichen Manuskripte studieren und würde deren Inhalte doch nicht für mehr verwenden können, als für einen gelehrten Aufsatz. Macht lebte in Worten und ihren Bedeutungen, selbst in Artefakten und Gegenständen – obgleich letztere gemeinhin ungeheuer überschätzt wurden – doch die Hauptaspekte beim Umgang mit dem Übernatürlichen waren Fokus und Wille.

Urqhart sah in die harten, dunklen Augen seines Logenbruders. Valerios blickte ernst zurück, verschränkte die Hände hinter dem Rücken.

„Natürlich ist dieses ‚Nicht-ganz-er-selbst-sein ein Teil seiner Art“, sagte er. „Jene Kreatur hat in seinem Gemüt immerhin Änderungen gewirkt, von denen wir gar nichts wissen können. Er wird wohl noch einige Male für die eine oder andere Überraschung gut sein. Positiv oder negativ. Wir wussten das, als wir ihn aufgenommen haben.“ Der spanische Meister klang ein wenig missfällig, jedoch keinesfalls schnippisch.

„Mir ist klar, dass es dir lieber gewesen wäre, ihn aus dem Weg zu schaffen.“ Das klang sachlich, nicht wie ein Vorwurf. Bruder Valerios lächelte kurz.

„Lieber wäre es mir nicht gewesen. ‚Lieber kann einem die Entscheidung, einen talentierten jungen Mann zu eliminieren, nicht sein. Doch ihn wieder in ein normales Leben zurückzuschicken war unter den gegebenen Umständen keine Option. Ohne unsere Ausbildung hätte er den Verstand verloren, da bin ich mir sicher. Also lautete die Wahl immer nur, es zu wagen und ihn auszubilden oder ihn von der Qual seines veränderten Lebens zu erlösen, bevor er für sich oder andere zur Gefahr geworden wäre. Es ist auch noch nicht gesagt, dass unsere Ausbildung ihn retten wird. Gefährlich mag er immer noch sein. Es ist sogar möglich, dass wir ihn dadurch, dass wir ihm Fokus geben, noch gefährlicher machen. Wir wissen schlichtweg nicht genug über die Ziele der Sí, als dass wir eine sichere Einschätzung darüber abgeben können, was einer, der für eine Weile feyonbeseelt war, langfristig wollen oder tun wird. Dieser Meinung war ich schon bei der Aufnahmeprüfung, und dieser Meinung bin ich noch heute. Deine Freundschaft zu McMullen senior hat dich in deinem Urteil beeinträchtigt. Also fiel mir automatisch die Rolle des Advocatus Diaboli zu.“

„Doch tatsächlich denkst du, ich sei der Advocatus Diaboli und du der Vertreter der Vernunft. Es hängt nur von der jeweiligen Definition des Diabolus ab und davon, an welcher Stelle wir teuflische Hinterlist vermuten.“

Auf den Zügen des Großmeisters lag ein Lächeln. Einen Moment lang wirkte er wie ein wohlwollender, liebender Vater. Dann wurde sein Blick hart und ein wenig sarkastisch. Bruder Valerios’ linker Mundwinkel hob sich zu einem Grinsen.

„Er mag in der Tat ein großer Glücksgriff für Aroria sein. Genauso gut mag er ein Risiko darstellen. Auf jeden Fall müssen wir ihn genau im Auge behalten. Du warst dafür, ihn aufzunehmen und auszuprobieren. Das Gremium ist dir darin gefolgt. Ich hingegen würde meiner Pflicht nicht nachkommen, wenn ich seine Gefährlichkeit nicht zumindest erwähnen würde. Doch jetzt ist er unser Bruder. Damit steht ihm unsere Hilfe und Unterstützung zu, selbst wenn es Dinge in seinem Leben gibt, die er lieber vor uns geheim halten möchte. Privatsphäre ist ein sehr rarer Luxus für einen Akolythen, und für Mr. Ian McMullen ist sie undenkbar.“

„Da hast du recht. Ich hatte kurz überlegt, ihn dazu zu zwingen, dass er vollkommen ehrlich mit mir ist, doch etwas in seinem Gebaren hat mich überzeugt, dass ich ihm eventuell mehr geschadet als genützt hätte. Es mag für uns nicht gefährlich sein, doch der Grad seiner Verstörtheit lässt mich zumindest annehmen, dass es für ihn selbst auch gefährlich ist. Auf der anderen Seite mag er sich auch nur verliebt haben und kämpft gegen die natürlichen Reaktionen seines jungen Körpers. Denkbar ist das. Wie viele Akolythen verlieben sich irgendwann? Oder Adepten? Selbst Meister ...“

„Es war ihm peinlich, dabei erwischt zu werden, wie er Information zu weiblichen Geschlechtssteilen nachlas. Sein Bewusstsein war voller Schuld.“

Der Großmeister nickte mitfühlend.

„Schuldbewusstsein in einer solchen Situation kann vieles bedeuten. Vielleicht sollten wir unsere Akolythen einen unverkrampfteren Umgang mit der Fleischlichkeit lehren. Sachen unter den Teppich zu kehren empfiehlt sich nie. Aroria war nie prüde. Prüderie ist für Leute, die es sich leisten können, sich mit weniger als der Wahrheit zufrieden zu geben. Meister des Arkanen zu sein bedeutet, sich mit Fakten zu befassen. Nackten Fakten, wenn’s sein muss.“

Meister Valerios’ Blick war ausgesprochen trocken.

„Ich weiß, es gibt Theorien, wonach das Ausleben ungehinderter Wollust genauso zur Konzentrationsfähigkeit beiträgt wie das Zölibat. Doch ich habe nie an diese Theorien geglaubt.“

„Wo das Zölibat zur Belastung wird, wird es kontraproduktiv“, konterte Urqhart. „Das weißt du so gut wie ich. Die Entscheidung, was wir mit unseren physischen Bedürfnissen anstellen, während wir unsere gesamte mentale Kraft brauchen, ist schwierig, und nur ein Mann mit entsprechender Erfahrung kann sie im Einzelfall richtig und sicher treffen. Sie fehlt unseren Akolythen. Nur deshalb raten wir zum sittlichen Lebenswandel. Aus keinem anderen Grund.“

„Das ist nichts Neues.“

„Ich versuche nur, dir klarzumachen, dass Erfahrungen auf fleischlichem Gebiet nicht notwendigerweise schlecht für unsere Akolythen sein müssen. Tatsächlich brechen jene, die sich diesen Vergnügungen hingeben, keine Regeln. Das Zölibat wird dringend empfohlen, doch es ist kein Logengesetz. Wenn Bruder McMullen meint, dass er ohne das Studium weiblicher Körperteile nicht auskommt, sei es in Büchern oder in realiter, so muss er tun, was er eben tun muss.“

Valerios zog sich einen Stuhl heran und nahm seinem Vorgesetzten gegenüber Platz.

„Teurer Freund und Großmeister, du hast mich hergebeten, damit wir über einen jungen Mann reden, um den du dir Sorgen machst. Doch nun hast du nichts Besseres zu tun, als alle seine Handlungen mir gegenüber zu verteidigen und mich erneut zum Advocatus Diaboli zu machen. Du verlässt dich auf mich, dir die Gefahren und Fallgruben um einen Mann aufzulisten, den du schätzt, dem du aber selbst nicht vollkommen traust. Um was genau geht es dir letztlich, Bruder Charles Urqhart?“

Der Großmeister lehnte sich zurück und seufzte.

„Du hast wie immer recht. Ich benutze dein scharf geschliffenes Misstrauen, um mein eigenes zu delegieren. Ich mag den Jungen – und nicht nur weil Bruder Aengus McMullen mein Freund ist. Deiner übrigens auch.“

„Ian ist ein recht netter Junge. Er hat sich schnell mit den meisten Primanern angefreundet. Die, die ihn nicht leiden mögen, werden vermutlich von Neid getrieben, und das ist ein genauso bedenklicher Zug in einem zukünftigen Meister wie eine unergründliche Fey-Verbindung. Männer, die zu Neid und Gier neigen, tendieren dazu, unsere Wissenschaft zu den falschen Zwecken zu missbrauchen. Du hast mit dem anderen jungen Mann gesprochen?“

„Habe ich. Ich habe ihm klargemacht, dass die Loge weit mehr an seinem Können interessiert ist als an seinen unangebrachten Kommentaren über das eventuelle Können anderer. Ich hoffe, er hat verstanden. Sicher bin ich mir nicht.“

„Wenn er sich hier nicht einfügen kann, muss er gehen.“

„Ich werde ihm noch etwas Freiraum lassen.“

„Du bist ein großzügiger Mann.“

„Ja. Darauf lege ich Wert, und deshalb brauche ich dich misstrauisch und argwöhnisch.“

„Damit du deinen eigenen Argwohn und dein Misstrauen delegieren kannst?“

„Misstrauen und Argwohn sind übliche menschliche Eigenschaften. Jede Münze hat zwei Seiten.“

„Allerdings. Doch nun, da du die Münze geworfen hast, hoffst du, dass ich auf die Unterseite setze.“

„Du bist weise.“

„Gracias. Nanntest du mich nicht gerade argwöhnisch und misstrauisch?“

„Genau deshalb kommt dir dieses Amt zu. Es ist unerheblich, ob die Akolythen und mit ihnen McMullen dich wegen deiner Strenge fürchten, solange sie mir wegen meiner Milde vertrauen.“

„Du hast es nicht zum Großmeister gebracht, weil du besonders milde bist, lieber Bruder Urqhart.“

„Ich weiß. Aber sie wissen es nicht. Deshalb werden sie zu mir kommen und mir vertrauen. So will ich das, und so brauchen wir es. Also musst du weiter argwöhnisch und hart sein. Das kannst du gut. Wir müssen alle tun, was wir am besten können.“

Einige Zeit herrschte Stille.

„Doch was soll ich mit McMullen und seinem Zauberbann oder seiner Verliebtheit anfangen? Soll ich ihn verhören? Ihn zum Sprechen zu bringen ist leicht. Wir haben sein Gemüt erst vor kurzem geprüft. Da erschien er uns vertrauenswürdig und ehrlich.“

„Ich will ihm die gleiche Tortur nicht schon wieder aufzwingen. Er war sehr geschwächt danach, auch wenn er versucht hat, seinen Schmerz nicht zu zeigen. Wir sind nicht die Inquisition, und ich will deshalb nicht mit deren Rücksichtslosigkeit vorgehen.“

„Verständlich. Aber was sonst?“

Urqhart lehnte sich vor und lächelte.

„Er braucht einen Freund. Jemanden, dem er vertraut. Keinen Akolythen. Ich denke, ein Adept wäre besser. Jemand, der ausgefallen ist, der wie er außerhalb des geregelten Lebens steht. Älter, erfahrener sollte er sein, aber trotzdem nicht langweilig wirken auf einen jungen Mann von kaum zwanzig.“

„Du denkst an Sutton.“

„Glaubst du nicht, dass er für so etwas die richtige Wahl wäre?“

„Er ist intelligent und sehr begabt. Er ist aber auch erschreckend geradeaus. Sein Ehrgefühl führt ihn oft jenseits der Grenzen der zivilisierten Höflichkeit. Was veranlasst dich zu glauben, er würde für uns spionieren? Ich halte es für wahrscheinlicher, dass er uns sagt, wir sollen zur Hölle fahren. In genau diesen Worten.“

„Wir werden ihn um gar nichts bitten. Wir werden die Notwendigkeit diskutieren, McMullen zu eliminieren, ohne dass wir ein Fünkchen eines Beweises für seine Schuld haben. Du wirst mit deiner wohlgelittenen Rücksichtslosigkeit dafür sprechen, Opfer für das Gemeinwohl zu bringen – in dem Fall ein Menschenopfer –, und ich werde sein Talent ins Feld führen, seine Ehrlichkeit und seine – immerhin ziemlich sichere – Unschuld. Entscheiden werden wir nichts, nur die Möglichkeit ins Auge fassen. Wir werden aber sicherstellen, dass Sutton in der Nähe ist, wenn wir uns unterhalten. Es wird sehr sorgfältige Manipulation vonnöten sein, ihn – und nur ihn – genau dahin zu bekommen, wo wir ihn haben wollen, aber darin bist du ja Experte, nicht wahr?“

„Du auch, mein Großmeister.“

Die beiden lachten. Der Spanier lehnte sich vor und begann leicht amüsiert: „Du zählst auf seinen rebellischen Geist, seinen Sinn für Fairness und seine Anständigkeit, die ihn dazu bringen, sich für den Jungen einzusetzen. Du glaubst, er wird sich um ihn kümmern, um mehr herauszufinden und ihn zu beschützen. Er ist der richtige Mann für so etwas.“

„Wir können uns glücklich schätzen, dass wir einen solchen Mann haben.“

„Gewiss.“ Es klang ein wenig trocken.

„Ganz gewiss. Ehrliche, aufrechte Männer sind selten.“

„Übertreibe nicht. Wir haben die besten Männer hier in der Loge.“

„Ich weiß. Deshalb müssen wir alle tun, was wir am besten können, und ein aufrechter Kämpfer gegen die Ungerechtigkeit, der im Wilden Westen aufgewachsen ist und keine Bedenken hat, sich gegen etwelche Obrigkeiten zu behaupten, ist genau das, was wir jetzt brauchen. Wir können sicher sein, dass er es uns meldet, falls er von einer Gefahr für die Loge erfährt. Er mag ungewöhnlich sein, doch er ist loyal.“

„Wenn es gefährlich wird, könnte er Probleme bekommen.“

„Er ist ein Adept des Arkanen. Er ist gut – für sein Alter und seinen Rang. Bald wird er Meister sein. Er weiß sich zu wehren.“

„Doch uns wird er für skrupellose Schurken halten. Mich für noch skrupelloser als dich.“

„Er weiß, dass wir nur das Beste für die Loge im Auge haben. Das ist unsere Aufgabe.“

„Großmeister, meine Familie stammt angeblich von den Medici ab. Bist du sicher, dass du nicht mit uns verwandt bist?“

„Bruder Valerios, ich bin mir bewusst, dass der Plan hinterhältig ist. Doch hast du einen besseren?“

„Nein. McMullen muss überwacht werden, und wir können es nicht selbst tun. Zudem sollte Sutton lernen, dass man schnell zum Bauern im Schachspiel der Skrupellosen wird, wenn man sich aufgrund eines überzogenen Gerechtigkeitssinnes Hals über Kopf in Dinge stürzt.“

Der Großmeister lächelte wehmütig.

„Lieber Himmel, Bruder! Du nennst uns doch nicht etwa skrupellos? Ich will für alle nur das Beste.“

„Ich auch, Großmeister.“

Er stand auf.

„Ich gebe dir Bescheid, wenn ich unser kleines Animationsstück für Mr. Sutton fertig geplant habe.“

„Ich erwarte deine Nachricht. Ich denke, wir werden herausfinden, was hinter der Nervosität Mr. McMullens steckt.“

„Vielleicht hat es gar nichts mit unserem Problem zu tun?“

„Ich glaube auch nicht, dass er hinter der Situation mit den Energielinien steckt. Doch was ich glaube, definiert nicht die Wirklichkeit.“

„Außer, du gibst dir wirklich Mühe.“