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Nicht rennen.
Das musste ich immer im Hinterkopf behalten. Ruhe bewahren. Ich ging den Gang hinunter und versuchte, ganz gelassen zu wirken, während mir der Kopf zu platzen drohte. Nicht zu den Kameras sehen.
Ich hatte die Hälfte der Strecke zum Großraumbüro zurückgelegt, als mein Walkie-Talkie sich mit zwei kurzen Pieptönen meldete.
»Ja?«
»Hör zu, Mann. Der Computer will, dass ich mich anmelde.«
»Ach ja, Scheiße, natürlich.«
»Soll ich mich unter deinem Namen anmelden?«
»Herrgott, nein! Nimm …« Ich riss den kleinen Notizblock aus der Tasche. »Nimm ›ChadP‹.« Ich buchstabierte es für ihn, während ich weiterging.
»Passwort? Hast du das Passwort?«
»MJ dreiundzwanzig«, las ich vor.
»MJ …?«
»Ich nehme an, das steht für Michael Jordan.«
»Ah, ja. Die Dreiundzwanzig ist Jordans Rückennummer. Ist dieser ChadP ein toller Basketballspieler?«
Was quatschte Seth da? Er musste vor Panik irregeworden sein.
»Nein«, sagte ich abgelenkt, als ich das Großraumbüro betrat. Ich nahm den gelben Schutzhelm und die Schutzbrille ab, weil ich sie nicht länger brauchte, und verstaute sie im Vorbeigehen unter einem Schreibtisch. »Er ist nur so arrogant wie Jordan. Beide denken, sie seien die Besten. Aber nur einer hat Recht.«
»Alles klar, ich bin drin«, sagte er. »Die Seite mit den Sicherheitsmaßnahmen, sagtest du?«
»Sicherheitsmaßnahmen des Unternehmens. Sieh mal, was du über das Verladetor findest, ob wir mit dem Lastenaufzug dorthin kommen können. Das wäre wahrscheinlich der beste Fluchtweg. Ich muss jetzt weiter.«
»Beeil dich«, sagte er.
Direkt vor mir befand sich eine grau gestrichene Stahltür mit einem kleinen, rautenförmigen Fenster, dessen Glas zusätzlich mit Maschendraht gesichert war. Auf einem Schild auf der Tür stand Zutritt nur für autorisiertes Personal.
Von der Seite näherte ich mich langsam der Tür und blickte durch das Fenster. Auf der anderen Seite befand sich ein kleiner, spartanisch aussehender Warteraum mit Betonboden. Ich zählte zwei Überwachungskameras, die dicht unter der Decke an der Wand montiert waren und ihre roten Lämpchen blinken ließen. Sie waren eingeschaltet. Außerdem sah ich in jeder Ecke des Raums kleine weiße Kästen: die Infrarot-Bewegungsmelder.
Aber dort blinkte kein LED-Lämpchen. Ich konnte mich nicht darauf verlassen, aber sie schienen ausgeschaltet zu sein. Vielleicht hatte der Sicherheitsdienst sie wirklich für ein paar Stunden lahm gelegt.
In der einen Hand hielt ich ein Klemmbrett, um so offiziell wie möglich auszusehen, so als folgte ich aufgelisteten Instruktionen. Mit der anderen Hand drehte ich vorsichtig den Türknauf. Die Tür war verschlossen. Links vom Türrahmen befand sich ein kleiner grauer Kartenleser, wie man sie überall im Gebäude sehen konnte. Würde Alanas Ausweis die Tür öffnen? Ich nahm eine Kopie ihres Ausweises und schwenkte ihn vor dem Kartenleser, damit er von Rot auf Grün sprang.
Da hörte ich eine Stimme.
»Hey! Sie da!«
Ich drehte mich langsam um. Ein Wachmann von Trion rannte auf mich zu, hinter ihm folgte langsamer ein zweiter.
»Keine Bewegung!«, schrie der erste.
Scheiße. Mir sank das Herz in die Hose.
Erwischt.
Was nun, Adam?
Ich starrte die Wachmänner an und wechselte von Verwirrung zu Arroganz. Ich holte tief Luft und sagte mit leiser Stimme: »Haben Sie ihn erwischt?«
»Was?«, fragte der erste Wachmann und wurde langsamer, bis er stehen blieb.
»Den gottverdammten Eindringling!« Meine Stimme wurde lauter. »Der Alarm ging schon vor fünf Minuten los, verdammt noch mal, und ihr rennt hier immer noch rum wie die Idioten und kratzt euch den Arsch!« Das klappt nie, sagte eine innere Stimme. Klappt wohl.
»Sir?«, sagte der zweite. Beide waren wie angewurzelt stehen geblieben und starrten mich verstört an.
»Ihr Vollidioten habt keine Ahnung, wo der Mann eingedrungen ist, wie?« Jetzt schrie ich sie wie ein Ausbilder bei der Armee an, der den Neulingen den Arsch aufreißt. »Meint ihr vielleicht, wir hätten es euch nicht so schwer machen sollen? Scheiße auch, ihr müsst die äußere Umgebung checken, das ist mal das Allererste. Seite dreiundzwanzig des gottverdammten Handbuchs. Wenn ihr das getan hättet, wäre euch auch das gekippte Belüftungsgitter aufgefallen.«
»Belüftungsgitter?«, wiederholte der erste.
»Müssen wir euch die Spur mit Leuchtfarben auf die Wand sprühen? Sollten wir euch gedruckte Einladungen zu einer Überraschungsübung schicken? Wir haben in der letzten Woche in drei verschiedenen Gebäuden diese Sicherheitskontrolle durchgeführt, und ihr seid mit Abstand der erbärmlichste Haufen, den ich je gesehen habe.« Ich nahm das Klemmbrett und den daran befestigten Stift und fing an, mir Notizen zu machen. »Okay, ich will Ihre Namen und Ausweisnummern. Sie!« Die beiden Männer hatten den Rückzug angetreten, wollten sich langsam entfernen. »Kommen Sie sofort zurück, verdammt noch mal! Meinen Sie, die Arbeit beim Sicherheitsdienst sei ein Zuckerschlecken? Ich verspreche Ihnen, wenn ich diesen Bericht einreiche, werden Köpfe rollen!«
»McNamara«, sagte der zweite widerstrebend.
»Valenti«, sagte der erste.
Ich notierte mir ihre Namen. »Ausweisnummern? Ach, verdammt, hören Sie – einer von Ihnen öffnet mir jetzt diese gottverdammte Tür, und dann machen Sie beide, dass Sie wegkommen!«
Der erste Wachmann ging zum Kartenleser und schwenkte seinen Ausweis davor. Man hörte ein Klicken, dann wechselte das Licht von rot zu grün.
Ich schüttelte angewidert den Kopf und zog die Tür auf. Die beiden Männer drehten sich um und liefen den Gang hinunter. Ich hörte, wie der erste mürrisch zum zweiten sagte: »Das überprüfe ich sofort in der Zentrale. Das gefällt mir nicht.«
Mein Herz hämmerte so laut, dass es weithin hörbar sein musste. Ich hatte mich zwar hier hereingemogelt, wusste aber auch, dass ich mir nur ein paar Minuten mehr verschafft hatte. Die Wächter würden die Zentrale anfunken und sofort die Wahrheit erfahren – dass es nämlich keine Sicherheitsübung außer der Reihe gab. Und dann wären sie wie der Blitz zurück.
Ich beobachtete den Bewegungsmelder, der hoch an der Wand des kleinen Empfangsbereichs angebracht war, um zu sehen, ob ein Lämpchen angehen würde, aber das war nicht der Fall.
Wenn die Bewegungsmelder angeschaltet waren, standen sie in Verbindung mit den Kameras und richteten sie auf jedes Objekt aus, das sich bewegte.
Aber die Bewegungsmelder waren ausgeschaltet. Das hieß, die Kameras konnten sich nicht bewegen und blieben starr.
Es war schon komisch: Meacham und seine Männer hatten mir beigebracht, weitaus raffiniertere Sicherheitssysteme als dieses zu überlisten. Aber vielleicht hatte Meacham Recht – vergessen Sie den Scheiß im Kino, in der Realität schützen sich die Firmen eher mit primitiven Maßnahmen.
Nun konnte ich die kleine Wartezone betreten, ohne von den Kameras beobachtet zu werden, die auf die Tür zur Sicherheitszone C gerichtet waren. Ich wagte ein, zwei Schritte in den Raum und presste mich flach gegen die Wand. Langsam schlich ich mich von hinten an eine der Kameras. Ich wusste, ich befand mich in ihrem toten Winkel. Sie konnte mich nicht erfassen.
Und dann meldete sich wieder das Walkie-Talkie.
»Hau sofort ab!«, kreischte Seths Stimme. »Alle sind in den fünften Stock abbestellt worden, ich hab’s gerade gehört!«
»Ich kann nicht – ich bin fast da!«, schrie ich zurück.
»Beweg dich! Herrgott, hau ab!«
»Nein – ich kann nicht! Noch nicht!«
»Cassidy –«
»Seth, hör mir zu. Du musst auf der Stelle hier raus – nimm die Treppe, den Lastenaufzug, egal was. Warte draußen auf mich, im Wagen.«
»Cassidy –«
»Los!«, schrie ich und schaltete das Walkie-Talkie aus.
Dann durchfuhr es mich wie ein Blitz – aus irgendeiner Sirene in nächster Nähe ertönte lautstark ein heiseres, mechanisches Hoo-ah.
Was jetzt? Ich konnte jetzt einfach nicht aufgeben, nur ein paar Meter vom AURORA-Projekt entfernt. Nicht, wenn ich so nah dran war!
Ich musste weitermachen.
Die Sirene heulte ohrenbetäubend wie bei einem Luftangriff.
Ich holte eine Spühdose aus meinem Overall – eine Dose Bratöl – sprang zu einer der Kameras und besprühte die Linse. Ich konnte den Ölfilm auf dem Glas sehen. Erledigt.
Die Sirene heulte.
Jetzt war die Kamera blind, die Optik lahm gelegt – aber ganz unauffällig. Wenn jemand die Monitoren überwachte, würde er nur sehen, dass ein Bild plötzlich verschwommen wirkte. Vielleicht würde er es auf die Arbeiten am Netzwerk schieben, über die man ihn ja in Kenntnis gesetzt hatte. Wahrscheinlich aber würde ein verschwommenes Bild bei einer ganzen Reihe von Monitoren keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Jedenfalls hatte ich es mir so gedacht.
Aber jetzt schien meine sorgfältige Planung eher sinnlos, denn sie kamen schon. Ich konnte sie hören. Waren es dieselben Wachmänner, die ich eben reingelegt hatte? Oder andere? Das konnte ich nicht wissen, aber sie kamen.
Ich hörte Schritte und Schreie, aber sie klangen weiter weg, wirkten wegen der ohrenbetäubenden Sirene eher wie ein Hintergrundgeräusch.
Vielleicht konnte ich es immer noch schaffen.
Wenn ich mich beeilte. Sobald ich erst einmal im AURORA-Labor wäre, konnten sie mir wahrscheinlich nicht folgen, zumindest nicht so leicht. Es sei denn, sie hatten eine Art Generalschlüssel, was ich bezweifelte.
Vielleicht wussten sie noch nicht mal, dass ich dort war.
Das heißt, wenn ich dort reinkäme.
Jetzt umkreiste ich den Raum und hielt mich immer außer Reichweite der Kameras, bis ich in direkter Nähe der zweiten war. Aus ihrem toten Winkel heraus sprang ich in die Höhe, versprühte mein Öl und setzte die Linse außer Gefecht.
Jetzt konnte mich der Sicherheitsdienst nicht mehr über Monitor sehen und erkennen, was ich vorhatte.
Ich war fast drin. Nur noch ein paar Sekunden – hoffte ich – und ich wäre im AURORA-Projekt.
Wie ich wieder herauskommen würde, war eine andere Frage. Ich wusste, dass es dort einen Lastenaufzug gab, den man von außen nicht erreichen konnte. Würde Alanas Ausweis ihn aktivieren? Das hoffte ich doch. Es war mein einziger Versuch.
Verdammt, ich konnte kaum klar denken bei diesem ohrenbetäubenden Geheule. Und die Stimmen und Schritte wurden auch immer lauter. Meine Gedanken rasten wie verrückt. Würden die Sicherheitskräfte überhaupt wissen, dass AURORA existierte? Wie sehr war es unter Verschluss gehalten worden? Wenn sie nichts von AURORA wussten, hatten sie vielleicht auch keine Ahnung, wohin ich wollte. Vielleicht rannten sie nur unkoordiniert durch die Gänge jedes Stockwerks und suchten wie wild nach dem zweiten Eindringling.
Direkt links von einer glänzenden Stahltür befand sich ein kleiner beigefarbener Kasten: ein Identix-Fingerabdruckscanner.
Ich zog aus der Fronttasche meines Overalls ein durchsichtiges Plastikkästchen. Dann holte ich mit zitternden Fingern den Klebstreifen mit Alanas Daumenabdruck hervor, dessen Wirbel in Graphitpulverspuren festgehalten waren.
Sanft drückte ich den Abdruck auf den Scanner, genau so, wie man normalerweise seinen Daumen dagegen presst, und wartete, dass das Lämpchen von rot auf grün wechselte.
Und nichts passierte.
Nein, bitte, lieber Gott, dachte ich verzweifelt, während mein Hirn vor Angst verrückt spielte und die Sirene unerträglich laut heulte. Mach, dass es klappt. Bitte, lieber Gott.
Das Lämpchen blieb rot, stur rot.
Nichts passierte.
Meacham hatte mir in einer langen Sitzung beigebracht, wie man biometrische Scanner überlistet, und ich hatte es unzählige Male geübt, bis ich meinte, ich hätte es raus. Einige Lesegeräte waren schwerer zu schlagen als andere, je nachdem, welche Technologie benutzt wurde. Aber hier hatte ich einen der gebräuchlichsten Typen vor mir, mit einem optischen Sensor im Inneren. Und was ich gerade getan hatte, funktionierte eigentlich in neunzig Prozent der Versuche. In neunzig Prozent der Fälle funktionierte dieser gottverdammte Trick!
Aber es gibt auch noch die anderen zehn Prozent, dachte ich, als ich hörte, wie Schritte herandonnerten. Soweit ich es beurteilen konnte, waren sie mittlerweile sehr nah. Vielleicht ein paar Meter entfernt, im Großraumbüro.
Scheiße, es funktionierte nicht!
Wie waren noch die anderen Tricks, die ich gelernt hatte?
Etwas mit einer Plastiktüte voll Wasser … aber ich hatte nichts Plastiktütenähnliches bei mir … Wie war das noch? Alte Fingerabdrücke blieben auf der Oberfläche des Sensors wie Handabdrücke auf einem Spiegel, wie Fettspuren von Leuten, die durchgelassen worden waren. Die alten Fingerabdrücke konnten mit Feuchtigkeit aktiviert werden …
Ja, es klingt verrückt, aber es war nicht verrückter, als ein Stück Klebeband mit einem geklauten Fingerabdruck zu benutzen. Ich beugte mich vor, wölbte meine Hände über dem kleinen Sensor und hauchte dagegen. Mein Atem traf aufs Glas und kondensierte dort auf der Stelle. Das Glas klärte sich sofort wieder, aber es hatte gereicht –
Ein Piepsen, fast wie von einem Vogel, ertönte. Ein fröhliches Geräusch.
Ein grünes Lämpchen im Kasten blinkte auf.
Ich konnte hindurch. Die Feuchtigkeit meines Atems hatte einen alten Fingerabdruck aktiviert.
Ich hatte den Sensor überlistet.
Die glänzende Schiebetür zur Sicherheitszone C glitt langsam auf, als hinter mir eine andere Tür aufsprang und ich hörte: »Bleiben Sie stehen!«
Und noch einmal: »Bleiben Sie stehen!«
Ich starrte auf den riesigen Raum der Sicherheitszone C und konnte nicht glauben, was ich da sah. Ich traute meinen Augen nicht.
Ich musste einen Fehler gemacht haben.
Das konnte nicht der richtige Raum sein.
Denn was ich vor mir sah, ergab keinen Sinn. Ich blickte auf den Bereich, der als Sicherheitszone C ausgewiesen war.
Ich hatte ein Labor erwartet, mit unzähligen Apparaturen und Reihen von Elektromikroskopen, keimfreien Räumen, Supercomputern und endlosen Rollen von Faseroptikkabeln …
Stattdessen sah ich vor mir nackte Stahlträger, ungestrichenen Betonboden, Gipsstaub und Baumüll.
Einen riesigen, verwüsteten Raum.
Wo war das AURORA-Projekt? Ich hatte den richtigen Raum gefunden, aber hier war nichts.
Und dann traf mich die verblüffende Erkenntnis, die mir den Boden unter den Füßen wegzog: Gab es überhaupt kein Aurora-Projekt?
»Keine Bewegung!«, schrie jemand hinter mir.
Ich gehorchte.
Ich wandte mich noch nicht einmal um. Ich erstarrte.
Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich mich nicht bewegen können.