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Ich war den größten Teil der Nacht auf; unglücklicherweise gewöhnte ich mich langsam daran.
Der hassenswerte Nick Wyatt hatte mir über eine Stunde gewidmet und seine generelle Meinung über die Produktlinie von Trion inklusive aller möglichen Insiderinformationen kundgetan, Dinge, von denen nur sehr wenige andere wussten. Es war, als hörte man, was Rommel über Montgomery dachte. Offensichtlich kannte er sich höllisch gut auf dem Markt aus, schließlich war er einer der Hauptkonkurrenten von Trion, und er befand sich im Besitz aller möglichen Informationen, die er mir aus einem einzigen Grund zu geben bereit war: damit ich Goddard beeindrucken konnte. Der kurzfristige strategische Verlust brachte für ihn langfristigen Gewinn.
Ich raste gegen Mitternacht zurück zu den Harbor Suites und erstellte mit PowerPoint die Grafiken meiner Präsentation für Goddard. Um ehrlich zu sein, stand ich deswegen ziemlich unter Strom. Ich wusste, hier konnte ich nicht herumlavieren; ich musste Höchstleistungen erbringen. Solange ich die Insiderinformationen von Wyatt nutzen konnte, würde ich Goddard beeindrucken, aber was wäre, wenn das nicht mehr ginge? Wenn er mich nach meiner Meinung über irgendwas fragte und ich mein wahres Ich zeigen musste, das von all dem keine Ahnung hatte? Was war dann?
Als ich nicht mehr in der Lage war, an meiner Präsentation zu arbeiten, machte ich eine Pause und prüfte meine persönliche E-Mail bei Yahoo, Hotmail und Hushmail. Der übliche Spam – »Viagra Online KAUFEN SIE VIAGRA OHNE REZEPT« und »DIE BESTEN XXX-SITES!« und »Kredit sofort!« Nichts Neues von »Arthur«. Dann ging ich auf die Website von Trion. Eine E-Mail sprang mir ins Auge. Sie kam von Kevin Griffin@trionsystems.com. Ich klickte sie an.
Betreff: Du
Von: KevinGriffin
An: ACassidy
Kumpel! Schön, dich wiedergesehen zu haben. Siehst smart aus, echt erfolgreich! War sehr beeindruckt von deiner Karriere hier. Tust du dir was ins Trinkwasser? GIB MIR WAS AB! Ich habe hier ein paar Leute kennen gelernt, wir könnten ja mal zusammen Mittag machen oder so. Melde dich!
Kev
Ich schrieb nicht zurück – ich musste erst nachdenken, wie ich mit ihm umgehen sollte. Der Typ hatte offensichtlich auf der Website nachgesehen, wo ich steckte, meinen neuen Titel entdeckt und sich das nicht erklären können. Ganz gleich, ob er sich aus purer Neugier oder Schleimscheißerei mit mir treffen wollte, er bedeutete Ärger. Meacham und Wyatt hatten gesagt, sie würden ihn ›ausschalten‹, was auch immer das heißen mochte, aber bis sie sich in Bewegung setzten, musste ich besonders vorsichtig sein. Kevin Griffin war eine geladene Waffe, die irgendwo herumlag und darauf wartete, loszugehen. Da wollte ich nicht in der Nähe sein.
Ich loggte mich aus und unter Noras Benutzernamen und Passwort wieder ein. Es war zwei Uhr morgens und ich dachte, dass sie jetzt wohl offline sein würde. Also wäre es ein guter Zeitpunkt, mal ihr E-Mail-Archiv zu durchforsten und alles runterzuladen, was mit AURORA zu tun hatte, wenn ich denn etwas fände.
Aber das Einzige, was ich zu sehen bekam, war INVALID PASSWORD, PLEASE RE-ENTER.
Ich gab noch mal ihr Passwort ein, dieses Mal sorgfältiger, und sah erneut INVALID PASSWORD. Diesmal war ich mir sicher, dass ich mich nicht vertippt hatte.
Ihr Passwort war ausgetauscht worden.
Warum?
Als ich für diese Nacht schließlich Schluss machte, schwirrte mir der Kopf und ich ging alle Möglichkeiten durch, warum Nora ihr Passwort ausgetauscht haben konnte. Vielleicht war der Wachmann, Luther, eines Abends vorbeigekommen, als Nora zufällig länger arbeitete als sonst, und er hatte erwartet, mich anzutreffen und vielleicht ein Schwätzchen über Mustangs oder was auch immer mit mir zu halten, aber stattdessen hatte er Nora gesehen. Möglicherweise hatte er sich gefragt, was sie in diesem Büro machte, hatte sie vielleicht sogar – so unwahrscheinlich war das nicht – zur Rede gestellt. Und dann hatte er ihr möglicherweise eine Beschreibung von mir geliefert und sie war dahinter gekommen; lang hätte sie dazu sicher nicht gebraucht.
Aber wenn das passiert wäre, hätte sie doch nicht nur einfach ihr Passwort ausgetauscht, oder? Sie hätte doch noch mehr getan. Sie hätte wissen wollen, was ich ohne Erlaubnis in ihrem Büro zu suchen hatte. Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, welche Konsequenzen das haben könnte …
Vielleicht war ja auch alles ganz harmlos. Vielleicht hatte sie nur routinemäßig ihr Passwort ausgetauscht, weil jeder Angestellte bei Trion alle zwei Monate sein Passwort ändern sollte.
Wahrscheinlich steckte nicht mehr dahinter.
Ich schlief gar nicht gut, und nachdem ich mich ein paar Stunden hin- und hergeworfen hatte, beschloss ich, einfach aufzustehen, mich zu duschen und anzuziehen und zur Arbeit zu fahren. Meine Arbeit für Goddard war fertig; aber meine Arbeit für Wyatt, die Spionage, war im Rückstand. Wenn ich früh genug zur Firma kam, konnte ich vielleicht versuchen, etwas über AURORA herauszufinden.
Beim Hinausgehen warf ich einen Blick in den Spiegel. Ich sah – scheiße aus.
»Sie sind schon auf?«, fragte Carlos, der Portier, als mein Porsche vor dem Eingang erschien. »Mann, das können Sie nicht durchhalten, Mr. Cassidy. Sonst werden Sie krank.«
»Ach was«, sagte ich. »So bleib ich sauber.«