22

Er blinzelte, wandte aber nicht den Blick ab. Hatte er gesehen, wie ich das Ding installierte? Doch plötzlich kam mir ein anderer, ebenso furchtbarer Gedanke: Hatte er Noras Namen auf der Tür gelesen? Würde er sich nicht fragen, warum ein Mann im Büro einer Frau Akten durchsah?

Ich warf einen Blick zum Namensschild auf der offenen Tür direkt hinter dem Sicherheitsmann. Darauf stand N.SOMMERS. N.SOMMERS konnte alles bedeuten, sowohl einen männlichen als auch einen weiblichen Mitarbeiter. (Andererseits patrouillierte er wohl hier bereits seit Ewigkeiten, und Nora und er hatten sich vielleicht schon mal gesehen.)

Der Wachmann stand immer noch im Türrahmen und blockierte den Ausgang. Was zum Teufel sollte ich jetzt tun? Ich konnte versuchen zu fliehen, doch dafür musste ich zuerst an dem Mann vorbei, was hieß, ich musste ihn angreifen, zu Boden werfen und ihn aus dem Weg räumen. Er war zwar groß, aber alt und wahrscheinlich nicht sehr schnell; das konnte klappen. Aber was plante ich da: einen tätlichen Angriff? Auf einen alten Mann? Allmächtiger.

Ich überlegte rasch. Sollte ich sagen, ich wäre neu hier? Ich ging in meinem Kopf ein paar Erklärungen durch: Ich war Nora Sommers neuer Assistent. Ich war ihr persönlicher Referent – ja, irgendwie war ich das – und machte für sie Überstunden. Was zum Teufel wusste dieser Typ schon? Er war schließlich nur ein gottverdammter Wachmann.

Der trat jetzt kopfschüttelnd ins Büro. »Mann, ich dachte, ich hätte schon alles gesehen.«

»Hören Sie, wir haben morgen ein wichtiges Projekt –«, setzte ich indigniert an.

»Sie haben da einen Bullitt. Das ist ein echter Bullitt.«

Da sah ich, worauf er starrte, während er sich näherte. Es war ein großes Farbfoto in einem Silberrahmen an der Wand. Ein Bild von einem herrlichen restaurierten Oldtimer. Der Mann bewegte sich in einer Art Trance, so als näherte er sich der Bundeslade. »Scheiße, Mann, das ist ein echter Mustang GT drei-neunzig von 1968«, keuchte er, als hätte er gerade das Angesicht Gottes geschaut.

Mein Adrenalinspiegel stieg, und Erleichterung drang mir aus allen Poren. Allmächtiger.

»Yep«, sagte ich stolz. »Sehr gut.«

»Mann, sehen Sie sich diesen Mustang an. Ist das eine Sonderanfertigung?«

Woher zum Teufel sollte ich das wissen? Ich konnte ja noch nicht mal einen Mustang von einem Dodge Dart unterscheiden. Für mich hätte das auch ein Bild von einem AMC Gremlin sein können. »Sicher«, sagte ich.

»Sind ’ne Menge Fälschungen im Umlauf, wissen Sie? Haben Sie je einen Blick unter den Rücksitz geworfen und nachgesehen, ob er diese zusätzlichen Metallplatten hat, die Verstärkung für die doppelt geführte Auspuffanlage?«

»Ja klar«, sagte ich leichthin. Ich stand auf und streckte die Hand aus. »Nick Sommers.«

Sein Händedruck war trocken, seine riesige Hand schloss meine vollkommen ein. »Luther Stafford«, sagte er. »Ich hab Sie hier noch nie gesehen.«

»Ja, ich bin eigentlich nie so spät hier. Aber dieses verdammte Projekt – ständig heißt es: ›Wir brauchen es morgen um neun, ganz dringend‹, ›los, los‹, ›es ist eilig‹.« Ich versuchte, beiläufig zu klingen. »Aber schön, dass ich nicht der Einzige bin, der so spät noch arbeitet.«

Doch er ließ sich nicht von dem Wagen abbringen. »Mann, ich glaube nicht, dass ich jemals ein Fließheck in Highland Green gesehen habe. Außer im Kino, meine ich. Dieser hier sieht genau aus wie der, mit dem Steve McQueen den verdammten schwarzen Dodge Charger von der Straße und in die Tankstelle jagte. Und überall flogen Radkappen herum.« Er gab ein leises, weiches Lachen von sich, das von Zigaretten und Whisky zeugte. »Bullitt. Mein Lieblingsfilm. Den hab ich schon tausendmal gesehen.«

»Yep«, sagte ich, »genau der ist es.«

Er ging noch näher heran. Plötzlich bemerkte ich, dass eine riesige Goldstatuette auf dem Regalbord direkt neben dem Foto im Silberrahmen stand. Auf dem Sockel der Statuette stand in großen schwarzen Lettern FRAU DES JAHRES 1999, FÜR NORA SOMMERS. Rasch trat ich hinter den Schreibtisch und blockierte die Sicht des Wachmanns auf die Trophäe, indem ich so tat, als wollte ich das Foto von nahem betrachten.

»Mit Spoilern hinten und allem Drum und Dran«, fuhr er fort. »Doppeltes Endrohr, oder?«

»Oh ja.«

»Geschwärzter Grill?«

»Genau.«

Er schüttelte noch einmal den Kopf. »Mann. Haben Sie ihn selbst restauriert?«

»Ach was, ich wünschte, ich hätte die Zeit dazu.«

Er gab wieder ein leises, grollendes Lachen von sich. »Ich weiß, was Sie meinen.«

»Ich hab ihn von einem Typen, der ihn in seiner Scheune stehen hatte.«

»Drei-zwanzig PS das Baby?«

»Exakt«, sagte ich, als wüsste ich es.

»Sehen Sie sich das elektrische Verdeck an. Ich hatte mal einen 68er Hardtop, musste ihn aber verkaufen. Meine Frau zwang mich dazu, als unser erstes Kind kam. Ich habe es immer bedauert. Aber den neuen Mustang GT Bullitt würde ich mir nicht mal im Traum ansehen, nein danke, Sir.«

Ich schüttelte den Kopf. »Keine Chance.« Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wovon er eigentlich sprach. War denn jeder in diesem Unternehmen verrückt nach Autos?

»Korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege, aber es sieht so aus, als hätten Sie GR-siebzig-Reifen auf Fünfzehn-mal-sieben-American-Torque-Thrust-Felgen, stimmt das?«

Herrgott, konnten wir nicht endlich das Thema wechseln? »Luther, die Wahrheit ist, dass ich einen Scheiß über Mustangs weiß. Ich verdiene es gar nicht, einen zu besitzen. Meine Frau hat ihn mir zum Geburtstag geschenkt. Natürlich muss ich jetzt die nächsten fünfundsiebzig Jahre den Kredit abzahlen.«

Er lachte wieder. »Ich weiß, was Sie meinen. Das kenne ich.« Ich bemerkte, dass er auf den Schreibtisch starrte, und erkannte, was er im Blick hatte.

Es war ein großer brauner Umschlag, auf dem in Großbuchstaben und mit rotem Textmarker Noras Name stand. NORA SOMMERS. Ich suchte auf dem Schreibtisch nach etwas, das ich darüber schieben konnte, aber Nora hielt ihren Schreibtisch peinlich aufgeräumt. Ich versuchte, beiläufig zu wirken, und riss leise eine Seite aus dem Notizblock, die ich auf den Schreibtisch fallen ließ und mit meiner linken Hand über den Umschlag schob. Echt cool, Adam. Das gelbe Blatt Papier trug ein paar Notizen in meiner Handschrift, aber nichts, das irgendwie verräterisch war.

»Wer ist Nora Sommers?«, fragte er.

»Oh, das ist meine Frau.«

»Nick und Nora, wie?«, gluckste er.

»Jaah, das hören wir ständig.« Ich grinste breit. »Deshalb habe ich sie auch geheiratet. Aber jetzt mache ich mich besser wieder über meine Akten her, sonst bin ich noch die ganze Nacht hier. Nett, Sie kennen gelernt zu haben, Luther.«

»Gleichfalls, Nick.«

Als der Wachmann endlich weg war, war ich so nervös, dass ich nur noch die E-Mails abschreiben, dann das Licht ausschalten und Noras Bürotür schließen konnte. Ich wandte mich gerade zu Lisa McAuliffes Schreibtisch, um den Schlüsselring zurückzulegen, da hörte ich Schritte in der Nähe. Wahrscheinlich Luther, dachte ich. Was wollte der Kerl denn jetzt, noch ein Schwätzchen über Mustangs? Ich jedenfalls wollte nur noch unauffällig die Schlüssel verschwinden lassen und mich dann aus dem Staub machen.

Aber es war nicht Luther; es war ein stämmiger Typ mit Hornbrille und Pferdeschwanz.

Der Letzte, den ich um zehn Uhr abends im Büro erwartet hätte, aber vielleicht hatten Engineers ja ungewöhnliche Arbeitszeiten.

Noah Mordden.

Hatte er gesehen, wie ich Noras Büro abschloss, oder gar, wie ich darin war? Vielleicht war ihm das ja entgangen. Vielleicht hatte er nicht darauf geachtet, weil er in seiner eigenen Welt war – aber was machte er hier?

Er sagte nichts, grüßte mich auch nicht. Ich war noch nicht mal sicher, dass er mich überhaupt bemerkte. Aber ich war der Einzige hier, und er war nicht blind.

Er bog in den nächsten Gang ein und legte eine Akte auf einen Schreibtisch. Gespielt ungezwungen schlenderte ich an Lisas Schreibtisch vorbei und legte den Schlüsselring mit einer raschen Bewegung und ohne anzuhalten in den Blumentopf, genau dorthin, wo ich ihn gefunden hatte.

Ich war schon auf dem Weg zu den Aufzügen, da hörte ich: »Cassidy.«

Ich drehte mich um.

»Und ich dachte, nur Engineers seien nachtaktiv.«

»Ich versuche nur, mich freizuschwimmen«, sagte ich lahm.

»Ich verstehe«, sagte er. Sein Tonfall jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Dann fragte er: »Wovon?«

»Bitte?«

»Wovon wollen Sie sich freischwimmen?«

»Ich bin nicht sicher, ob ich Sie verstehe?«, antwortete ich mit hämmerndem Herzen.

»Denken Sie drüber nach.«

»Wie bitte?«

Aber Mordden war schon weitergegangen und antwortete nicht.

Paranoia
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