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Die Maestro-Marketingruppe traf sich wieder im Corvette, und alle hatten dieselben Plätze eingenommen, als gäbe es eine Sitzordnung.
Aber dieses Mal war auch Tom Lundgren dabei, saß auf einem Stuhl an der Rückwand, nicht am Konferenztisch. Dann, kurz bevor Nora das Meeting eröffnete, trat Paul Camilletti in den Raum, Trions CFO, und sah mit seinem noppigen, dunkelgrauen Hahnentrittjackett und seinem schwarzen Pseudoturtleneckpullover darunter so aufgemotzt auf wie ein Idol der Vormittagsserie Love Italian Style. Als er neben Tom Lundgren Platz nahm, wurde es im ganzen Raum still und wie elektrisch aufgeladen, so als hätte jemand einen Stromschalter umgelegt.
Selbst Nora wirkte ein wenig aufgeregt. »Nun«, sagte sie, »dann wollen wir mal anfangen. Ich freue mich, Paul Camilletti begrüßen zu dürfen, unseren Chief Financial Officer. Paul, willkommen.«
Paul neigte leicht den Kopf, so als wollte er sagen: Achten Sie gar nicht auf mich – ich sitze hier nur ganz unauffällig, incognito, anonym, wie ein Elefant.
»Wer nimmt heute noch teil? Wer ist in der Leitung?«
Über die Sprechanlage ertönte eine Stimme: »Ken Hsiao aus Singapur.«
Und dann: »Mike Matera aus Brüssel.«
»Gut«, sagte sie, »dann ist die ganze Truppe ja komplett.« Sie wirkte aufgeregt, angetörnt, aber es war schwierig zu sagen, wie viel davon Show war, wie viel der Begeisterung sie für Tom Lundgren und Paul Camilletti spielte. »Dies scheint mir ein guter Zeitpunkt zu sein, einen Blick auf die Voraussagen zu werfen, die Hintergründe zu betrachten und ein Gespür dafür zu bekommen, wo wir stehen. Keiner von uns will das alte Klischee von der ›Dying Brand‹ hören, habe ich Recht? Maestro ist keine ›Dying Brand‹. Wir werden den Markenwert, den Trion bei dieser Produktlinie aufgebaut hat, nicht wegen irgendeiner Neuheit torpedieren. Ich denke, darüber sind wir alle einer Meinung.«
»Nora, hier spricht Ken aus Singapur.«
»Ja, Ken?«
»Äh, ich muss sagen, dass wir hier ein wenig unter Druck geraten, von Palm, Sony und Blackberry, vor allem im Großkundenbereich. Die Vorausbestellungen für MaestroGold in Asien und im pazifischen Raum sind etwas enttäuschend.«
»Danke, Ken«, unterbrach Nora ihn hastig. »Kimberly, was ist Ihr Eindruck von Australien?«
Kimberly Ziegler, eine bleiche, nervös wirkende Frau mit wilden Locken und Hornbrille, blickte auf. »Ich muss sagen, mein Eindruck unterscheidet sich ziemlich von Kens.«
»Wirklich? Inwiefern?«
»Eigentlich meine ich, dass die Diversifikation des Produkts uns nützt. Wir bieten einen besseren Preis als Blackberry oder Sony bei ihren anspruchsvolleren Kommunikatoren. Es stimmt, es gibt einen geringfügigen Verschleiß bei der Marke, aber die Verbesserung des Prozessors und die Flash-Card tragen eindeutig zur Wertsteigerung bei. Also meine ich, wir halten uns, vor allem in den vertikalen Märkten.«
Arschkriecherin, dachte ich.
»Ausgezeichnet«, strahlte Nora. »Schön zu hören. Ich würde auch sehr gerne erfahren, was es an Feedback über GoldDust gibt.« Sie sah, dass Chad einen Zeigefinger hob. »Ja, Chad?«
»Ich habe den Eindruck, Adam hätte ein, zwei Dinge über GoldDust zu sagen.«
Sie wandte sich zu mir. »Toll, dann lassen Sie mal hören«, sagte sie, als hätte ich gerade angeboten, etwas auf dem Klavier vorzuspielen.
»GoldDust?«, sagte ich mit wissendem Lächeln. »Gold-Dust, Marke ›längst überholt‹? Der Betamax der Schnurlosen. In einer Reihe mit New Coke, kalter Kernfusion, XFL Football und dem Yugo.«
Hier und da kicherte jemand beifällig. Nora sah mich durchdringend an.
Ich fuhr fort: »Die Probleme mit der Kompatibiliät sind derart massiv, dass wir erst gar nicht davon anfangen wollen – ich meine, mit GoldDust ausgestattete Geräte funktionieren nur mit Geräten vom selben Hersteller, es gibt keinen Standardcode. Philipps behauptet zwar ständig, sie würden mit einer neuen, standardisierten Version von GoldDust rauskommen – aber wann soll das sein: Wenn wir alle Esperanto sprechen?«
Ich hörte mehr und lauteres Gelächter, bemerkte aber flüchtig, dass etwa die Hälfte der Anwesenden steinerne Mienen aufgesetzt hatte. Mordden glotzte fasziniert zu mir herüber, so, wie ein Schaulustiger auf der Autobahn zu einem Unfall mit mehreren, an der Mittellinie verstreuten Todesopfern. Tom Lundgren betrachtete mich mit einem seltsam schiefen Lächeln und ließ sein rechtes Bein wie einen Presslufthammer zucken.
Aber jetzt kam ich wirklich in Fahrt. »Ich meine, die Transferrate ist, wie war das, weniger als ein Megabit pro Sekunde? Erbärmlich. Weniger als ein Zehntel von WiFi. Das stammt doch noch aus der Postkutschenzeit. Und wir wollen erst gar nicht darüber reden, wie leicht es ist, sich in die Verbindung einzuloggen – es gibt keinerlei Sicherungen.«
»So ist es«, stimmte mir jemand mit leiser Stimme zu, aber ich wusste nicht wer. Mordden strahlte jetzt geradezu. Phil Bohjalian sah mich mit zusammengekniffenen Augen und kryptischer, undeutbarer Miene an. Dann warf ich einen Blick zu Nora. Ihr Gesicht wurde rot und röter. Ich meine, man konnte sehen, wie eine Hitzewelle vom Hals zu ihren weit auseinander stehenden Augen stieg.
»Sind Sie fertig?«, fauchte sie.
Plötzlich wurde mir flau im Magen. Das war nicht die Reaktion, die ich erwartet hatte. Was war? Hatte ich zu lange geredet? »Sicher«, antwortete ich schwach.
Ein indisch aussehender Typ, der mir gegenübersaß, meldete sich. »Warum müssen wir das noch mal durchsprechen? Ich dachte, Sie hätten vorige Woche Ihre letztendliche Entscheidung getroffen, Nora. Sie schienen überzeugt davon, dass die Zusatzfunktion die Kosten wert sei. Warum müsst ihr vom Marketing also noch mal die alte Diskussion anfangen? Ist die Sache nicht geklärt?«
Chad, der angelegentlich die Tischplatte betrachtete, sagte: »Hey, kommt schon, seid nicht so hart zu dem Neuen, ja? Ihr könnt nicht erwarten, dass er alles weiß – der Typ weiß doch noch nicht mal, wo der Cappuccino-Automat ist, also kommt schon.«
»Ich denke, wir müssen mit diesem Punkt nicht noch mehr Zeit verschwenden«, sagte Nora. »Die Sache ist entschieden. Wir fügen GoldDust hinzu.« Sie warf mir einen fuchsteufelswilden Blick zu.
Als das Meeting zwanzig magenstrapazierende Minuten später endete und die Leute langsam den Raum verließen, versetzte mir Mordden einen raschen, flüchtigen Schlag auf die Schulter, der mir alles hätte sagen sollen. Ich hatte es vermasselt, im ganz großen Stil. Die Leute bedachten mich mit neugierigen Blicken.
»Äh, Nora«, sagte Paul Camilletti und hielt einen Finger in die Höhe, »könnten Sie bitte noch eine Sekunde bleiben? Ich möchte mit Ihnen noch ein paar Dinge durchsprechen.«
Als ich den Raum verließ, kam Chad zu mir und sagte mit leiser Stimme: »Klingt so, als hätte sie es nicht gut aufgenommen, aber es war ein wirklich bedenkenswerter Beitrag, Mann.«
Ja klar, du Motherfucker.